Dao

Kapitel 14 – Die Gesandtschaft

Abschnitt 1

»Hu Kang hatte ein schweres Erbe angetreten. Er war ein guter und würdiger Vertreter des Mönchsordens, doch seine Ausstrahlung blieb weit hinter der seines Vorgängers zurück. Der Konflikt zwischen dem Kloster in seiner ursprünglichen Form und den von Mao Lu Peng geführten Kampfmönchen verschärfte sich zusehends. Zu anderen Zeiten wäre Hu Kang sicherlich ein guter Abt gewesen, der die Belange des Klosters mit Würde vertrat, doch in dieser Situation war er einfach überfordert. Er gab sein Bestes, doch es war absehbar, dass sich der Einfluss der Kampfmönche verstärken würde. Es war bitter, das mit ansehen zu müssen, doch keiner kannte eine wirkliche Alternative.
In mir wurde der Wunsch, nach Wudang zurückzukehren, immer größer. Das, was mich am meisten in Shaolin gehalten hatte, gab es nicht mehr. Auch Wang Lee und die Freundlichkeit der anderen, mit denen ich nun trainierte, konnte daran nichts mehr ändern. Ich sprach nun oft mit Wang Lee darüber und der Entschluss, Shaolin noch im Laufe des Sommers für immer zu verlassen, stand eigentlich schon fest. Es gab nur noch wenige Dinge, die mich zurückhielten.
Doch dann kam alles anders. An einem Frühsommermorgen teile mir Hu Kang mit, dass eine japanische Gesandtschaft das Kloster besuchen wolle. Diese Gesandtschaft hatte am Kaiserhof geweilt und dort von Shaolin und seinen Kampfmönchen gehört. Sie hatten den Wunsch geäußert, das Kloster zu besuchen, bevor sie wieder nach Japan zurückehren würden. Widerwillig hatte der Kaiser zugestimmt, da er den momentan recht friedlichen Dialog mit Japan nicht stören wollte.
Es hatte immer wieder Zusammenstöße zwischen diesen beiden Reichen gegeben, und diese kriegerischen Auseinandersetzungen waren nicht immer zugunsten Chinas verlaufen. China hatte wiederholt versucht, seinen Machteinfluss auf Japan auszudehnen, doch bis auf kleinere Teilerfolge waren diese Versuche immer zugunsten Japans ausgegangen. Irgendwann hatte dann Japan die Initiative ergriffen und versucht, auf dem Kontinent Fuß zu fassen. Ein japanisches Heer war in Korea eingefallen und hatte dieses Land auch fast unter seine Kontrolle gebracht. Doch da das nur der Ausgangspunkt für eine Invasion in China sein sollte, hatte das Kaiserreich China seinen Nachbarn Truppen zu Hilfe geschickt. Mit deren Hilfe war es dann gelungen, die Invasion abzuwehren. Auch ein zweiter Versuch Japans, Korea unter seine Kontrolle zu bringen, war fehlgeschlagen. Dieser lag noch keine dreißig Jahre zurück und der junge Kaiser, der mit vielen Problemen im eigenen Land zu kämpfen hatte, wollte nicht schon wieder einen Konflikt mit Japan heraufbeschwören, weshalb er auch dem Wunsch des Gesandten entsprach. Er hatte aber schnell einen Boten zu Mao Lu Peng geschickt und diesen angewiesen, Vorkehrungen zu treffen, dass der Gesandte so wenig wie möglich erfahren würde.
Als der Bote des Kaisers am Vorabend eingetroffen war, hatte Mao Lu Peng sofort seine Hauptmänner um sich geschart. Diesen gab er verschiedene Anweisungen, die auch zügig in die Tat umgesetzt wurden. Dann hatte er Hu Kang benachrichtigt und ihm mitgeteilt, dass sich das Kloster unbedingt seinen Befehlen zu fügen hätte. Da der Kaiser hinter ihm stand, wurde alles ohne Widerspruch ausgeführt. Er hatte unter anderem angeordnet, dass ein großer Teil seiner Truppen die Klosterumgebung bis auf Widerruf verließ. Weiterhin untersagte er allen, auch den Mönchen im alten Klosterbereich, das Kampftraining, solange sich die Gesandtschaft hier aufhielt. Nur Tai Chi durfte ausgeführt werden und nur einigen wenigen war es erlaubt, offen zu trainieren. Das waren fast alles miserable Kämpfer. Mit diesen Veränderungen wollte er den Eindruck erwecken, dass die Mönche keine große Bedeutung in einer kriegerischen Auseinandersetzung spielen würden.
Es wurde recht ruhig im und um das Kloster. Jeder nur halbwegs intelligente Mensch würde sofort merken, dass das nicht das wahre Umfeld sein konnte. Es waren viel zu viele Gebäude für die wenigen Mönche, die sich nun im Kloster aufhielten, doch Mao Lu Peng wollte das nicht wahrhaben.
Nur drei Tage später trafen die Japaner ein und wurden von Hu Kang freundlich empfangen. Abseits und verborgen durch einige Bäume, hatte ich mit Wang Lee diesen Empfang beobachtet. Die Japaner machten einen sehr stolzen, kriegerischen Eindruck und obwohl sie keinerlei Rüstzeug trugen, hatten sie ein Schwertpaar zur Hand. Es war ein langes und ein kurzes Schwert. Später erfuhr ich, dass es sich um das Schwertpaar des Friedens, oder besser gesagt um Zeremonienschwerter handelte. Das sollte nicht heißen, dass diese nicht zum Kämpfen verwendet werden konnten, im Gegenteil, sie waren genauso scharf geschliffen wie die Schwerter für den Kampf, aber mit kunstvollen Verzierungen versehen und nicht an einem Wehrgehänge befestigt.
Einer der Japaner fiel mir besonders auf. Er wurde mit großer Ehrerbietung von seinen Begleitern behandelt und sein Schwertpaar war besonders kunstvoll ausgestattet. Beim Betreten des Klosters hatte er die Schwerter im Obi, dem Japanischen Gürtel, getragen. Sie steckten mit der Schneide nach oben in einer kunstvoll gearbeiteten Holzscheide.
Nachdem die Japaner den Klosterbereich betreten hatten, lösten sie ihre Schwerter aus dem Gürtel. Sie trugen sie nun zum Zeichen des Friedens und Vertrauens in der rechten Hand mit dem Griff nach hinten. Doch auch diese Handlung verstand ich erst später. In diesem Moment kam es mir sehr bedrohlich vor. Auch Mao Lu Peng, den ich von meinem Standort aus beobachten konnte, schien diesen Eindruck zu haben, denn seine Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen und sprungbereit belauerte er die Gesandtschaft. Da er den Eindruck erwecken wollte, dies sei nur ein buddhistisches Kloster und das Gerede über die Kampfmönche sei maßlos übertrieben, hielt er sich aber nur im Hintergrund auf.
Es war nicht einfach für Hu Kang, der vierundzwanzig Mann starken Gesandtschaft ein den Rängen entsprechendes Quartier zuzuweisen. Der Gesandte war ein Provinzfürst – ein Daimyo – Japans. Er und ein weiterer hochangesehener Samurai waren beritten gewesen, der Rest des Gefolges war zu Fuß unterwegs. Vier der Männer, die nicht bewaffnet waren, schienen die Diener des Fürsten zu sein und diese führten Packpferde, die das Gepäck des Fürsten trugen. Die anderen Männer waren Samurai, die zum Schutz des Gesandten mitgekommen waren. Alle wirkten sehr kriegerisch und ihre Ausstrahlung war enorm. Jeder, der leichter zu beeinflussen war, hielt unwillkürlich Abstand, denn man hatte das Gefühl, dass man ihnen nicht zu nahe kommen durfte.
Dieser erste Tag verlief recht ereignislos. Hu Kang kümmerte sich um seine Gäste und zeigte ihnen, noch vor dem Festmahl, das er ihnen zu Ehren auftischen ließ, den alten Klosterbereich. Ich verließ Wang Lee, der zu seinen Schülern musste, und begab mich zu Han Liang Tians Grab. Die kleine Pagode, die ihm zu Ehren über seinem Grab errichtet worden war, war nun vollendet und ich betrachtete das schöne Bauwerk ausgiebig.
Die Grundfläche betrug etwa zwei mal zwei Meter, doch in der Höhe maß sie bestimmt sechs Meter. In der Frontseite war eine Nische eingelassen, die wie ein Fenster wirkte und darin stand eine kleine Buddhastatue. Die kleine Stufe am Boden vor dieser Seite lud zum Beten und Meditieren ein. In einer Höhe von etwa zwei Metern befand sich das erste Vordach. Es zog sich um das gesamte Bauwerk und sprang nicht weit vor. Nach einem kurzen geraden Mauerstück folgte dann wieder ein Vordach, sowie danach noch drei weitere im gleichen Abstand. Erst die nächsten drei Vordächer sprangen immer weiter zurück, bis das Ganze in einer verzierten Spitze endete. Die ganze Pagode hatte also insgesamt acht Vordächer und wirkte dadurch für mich etwas grotesk. Doch für den hier vorherrschenden Geschmack war sie sehr schön und würdevoll. Sie war also genau das richtige, um einen großen Mönch zu ehren.
Ich kniete auf der Stufe vor der Pagode nieder und versank in Meditation. Wie so oft in den letzten Wochen, begann ich einen Gedankenaustausch mit Han Liang Tian. Obwohl dieser nicht mehr unter uns weilte, entwickelte sich in diesen Momenten immer ein intensives Gespräch. Eine zweite Stimme in mir antwortete für ihn und ich hatte immer das Gefühl, er wäre es selbst. Doch da ich mit ihm immer einen regen Gedankenaustausch gepflegt hatte, war es sicher nur mein Geist, der versuchte, in seinem Sinne zu sprechen. Diese Art der Meditation half mir häufig bei Entscheidungen und auch in den späteren Jahren pflegte ich oft diese Art des Gedenkens an den alten Abt. Auch wenn ich dann nicht in der Nähe seiner Grabstätte war, waren diese Momente immer eine Bereicherung für mich.
Diesmal drehten sich meine Gedanken wieder um das Verlassen des Klosters und ich hatte das Gefühl, dass Han Liang Tian es zwar sehr bedauerte, doch Verständnis dafür hatte. Eine seiner Lehren kam mir in den Sinn:
Vertraue deinem Chi! Es wird dich führen und dich niemals im Stich lassen. Solange du dich dieser Kraft anvertraust, kannst du nicht fehlgehen!
Immer wieder hatte er das betont und bis jetzt hatte ich auch nicht den geringsten Grund, diese Worte anzuzweifeln. Immer wieder hatte ich in schwierigen Situationen dieser Kraft vertraut und hatte Dinge erreicht, die mir vorher unmöglich erschienen. So vertraute ich auch diesmal mein Geschick meinem Chi an und verließ die Grabstätte mit der Gewissheit, dass ich im richtigen Moment die Entscheidung treffen würde, die für mein weiteres Schicksal die beste wäre.

Die nun folgenden Tage wurden beherrscht von der Anwesenheit der japanischen Gesandtschaft. Alle beugten sich den Anweisungen von Mao Lu Peng, und ich musste mit meinen Freunden einen abgelegenen Ort aufsuchen, um unser tägliches Training zu absolvieren.
Von Wang Lee erfuhr ich, dass sich Hu Kang alle Mühe gab, den japanischen Fürsten davon zu überzeugen, dass Shaolin wirklich nur ein buddhistisches Kloster sei. Dass die Kampfübungen nur als Meditationsvorbereitung zu sehen waren und dazu dienten, den Körper zu stählen. Alles, was den Japanern über Shaolin zu Ohren gekommen war, tat er als maßlos übertriebene Legenden ab, doch wie ich später erfuhr, wirkte es nicht sehr überzeugend auf den Daimyo. Der Gesandte ahnte, was hier gespielt wurde, sah aber keinen Weg, das zu ändern. So kündigte er schon nach einigen Tagen an, dass er bald wieder abreisen würde. Doch insgeheim hatte er seine Schutztruppe angewiesen, Mönche zu provozieren, um sie zu einer spontanen Reaktion zu bewegen, die doch noch das erkennen ließ, was er gerne sehen wollte.
So kam es, dass Wang Lee und ich einen kleinen Zwischenfall verursachten, der am Ende wieder Mao Lu Peng auf den Plan rief. Wir waren auf dem Rückweg von unserem Training. Wie immer in den letzten Tagen, gingen wir in Zweiergruppen ins Kloster zurück, um weniger Aufmerksamkeit zu erregen. Chen Shi Mal und Liu Shi Meng folgten uns in größerem Abstand und schienen in ein intensives Gespräch vertieft zu sein, als ich mit Wang Lee den alten Klosterbereich betrat.
Bisher hatte ich es immer vermeiden können, einem der Japaner über den Weg zu laufen. Nach Möglichkeit wollte ich das auch weiterhin so handhaben, da doch offensichtlich war, dass ich nicht dem hier lebenden Volk angehörte. Diesmal schien das aber nicht möglich zu sein, denn zwei der japanischen Samurai steuerten direkt auf uns zu. Ich suchte nach einem Ausweg und bemerkte zweierlei. Zum einen schien diese Begegnung geplant zu sein, denn es gab keine Möglichkeit, ihnen weiträumig auszuweichen. Zum anderen bemerkte ich den japanischen Daimyo, der, scheinbar ruhend, mit einigen anderen versteckt im Schatten eines Gebäudes saß. Doch mein Chi sagte mir, dass diese Begegnung nicht zufällig war und dass wir genau beobachtet wurden.
Die beiden Japaner kamen uns immer näher. Ich bemerkte, dass Wang Lee nervös wurde und krampfhaft nach einem Ausweg suchte.
›Nein, nicht ausweichen! Richte dich nach mir! Was die können, können wir auch!‹
Wang Lee hatte meine Gedanken vernommen und antwortete:
›Aber wir sollen uns doch auf nichts einlassen und auf keinen Fall dürfen wir zeigen, was wir können! Wir dürfen uns auf keinen Kampf einlassen!‹
›Es geht auch ohne Kampf! Richte dich nach mir.‹
Um diese Begegnung ganz zu vermeiden, hätten wir etwa sechs Meter zurückgehen müssen, um auf der rechten Seite die mit Sträuchern bewachsene Fläche zu umgehen. Wir konnten auch unseren Weg fortsetzen, waren dann aber gezwungen, uns an die Wand eines Gebäudes, oder auf der anderen Seite in die Büsche zu drücken. Doch mein Chi sagte mir, dass wir unser Gesicht nicht so weit zu verlieren brauchten, da es auch noch eine andere Möglichkeit gab. Da der Weg an dieser Stelle nur breit genug für zwei nebeneinander gehende Menschen war, brauchte nur je einer von beiden Parteien hinter den anderen zu treten. So konnte man passieren, ohne die Entgegenkommenden zu behindern. Doch es war offensichtlich, dass die Samurai dies nicht tun würden. Ich wollte sie aber dazu zwingen, ohne es zu einem Kampf kommen zu lassen.
Das Ganze war eine Sache von wenigen Augenblicken und doch schien ich alle Zeit der Welt zu haben, um die Situation genau zu analysieren. Mein Chi hatte die Führung übernommen. Alles geschah automatisch, ohne dass ich lange darüber nachdachte.
Wie bei ihrer Ankunft, bemerkte ich die starke Ausstrahlung der Samurai und passte mich dieser an. Da ich mittlerweile Körper und Geist sehr gut beherrschen konnte, legte ich alle Energie in diese Aufgabe. Wang Lee tat das Gleiche und jeder andere wäre uns sofort aus dem Weg gesprungen. Unsere Züge wurden hart und wir strahlten eine mächtige Überlegenheit aus. Die Luft zwischen uns schien sich zusammenzupressen. Sie spürten, dass wir ihnen nicht ausweichen würden und die unerwartete, starke Kraft, die wir ihnen entgegensetzten, verunsicherte sie zusehends. Unwillkürlich legten sie ihre rechte Hand an die Schwerter, die in ihrem Obi steckten, doch mit der Kraft unserer Gedanken zwangen wir sie, den Griff wieder zu lockern. Als wir sie erreichen, drückten sie sich seitlich gegen das Gebäude, um uns Platz zu machen. Freundlich grüßend hoben wir die rechte Hand senkrecht vor die Brust und gingen an ihnen vorbei. Sie waren zu keiner rechten Handlung fähig und schauten uns verblüfft hinterher.
Aus den Augenwinkeln konnte ich sehen, dass der Gesandte aufsprang und hörte, wie er ihnen wütend etwas zurief. Ich hatte zwar nicht verstanden, was er gerufen hatte, doch ich spürte, wie die beiden nach ihren Schwertern griffen und uns nachsetzen wollten. Wang Lee bemerkte es auch und war im Begriff sich umzuwenden, um den Angriff abzuwehren, doch ich hinderte ihn daran.
›Nein! Nicht! Es geht auch ohne Kampf!‹
Wieder unterwarf sich Wang Lee meinen gedanklichen Anweisungen und er versuchte zu erkennen, was ich vorhatte. Gemeinsam schleuderten wir ihnen unsere Gedanken entgegen.
›Ihr werdet uns nicht angreifen! Nehmt die Hände vom Schwert und bleibt stehen!‹
Diese Gedanken wiederholten wir immer wieder, und wir setzten all unsere Kraft darein. Ruhig, als würde nichts geschehen, gingen wir dabei weiter. Erst als wir außer Sichtweite waren, ließen wir von den Gedanken ab und die Spannung fiel von uns ab, wie ein schwerer Mantel. Ich blieb stehen und schaute Wang Lee an.
›Puuh, das war knapp!‹, stieß dieser hervor.
›Ja, doch zu einem Kampf hätte ich es nicht kommen lassen. Ich hätte mit allen Mitteln versucht, das zu vermeiden.‹
›Ich weiß, aber war es klug, die Japaner so zu provozieren?‹
›Ich weiß nicht, ob es klug war, Wang Lee, doch nicht wir wollten sie provozieren, sonders sie uns. Egal wie wir uns verhalten hätten, sie hätten auf jeden Fall versucht, uns zu einer unüberlegten Handlung zu zwingen.‹
›Das Gefühl hatte ich auch, deswegen wollte ich ja klein beigeben und so tun, als wären wir nur feige Mönche.‹
›Ich glaube nicht, dass das funktioniert hätte. Sie hätten in jedem Fall versucht, uns aus der Reserve zu locken. Außerdem sehe ich nicht ein, warum die Shaolin in einem so schlechten Licht erscheinen sollten!‹
Nachdenklich schüttelte Wang Lee den Kopf. ›Wir werden ja sehen, was nun geschieht.‹
In diesem Augenblick kamen Chen Shi Mal und Liu Shi Meng bei uns an.
›Was war denn das? Ich hatte das Gefühl, nur eure Gedanken vernichten sie schon.‹
›Hast du das denn auch gespürt?‹, fragte ich erstaunt.
›Und ob! Eure Gedanken waren wie ein Hammer, mit dem ihr um euch geschlagen habt.‹
›Uuups, so stark?‹
›Ja, als wir gesehen haben, was da auf euch zukommt, sind wir am Tor stehen geblieben und haben genau beobachtet, wie sich das Ganze weiterentwickelt. Wir wären euch jederzeit zu Hilfe geeilt, doch die Gedanken, die du an Wang Lee gesendet hast, kamen auch bei mir an. Liu Shi Meng hat diese Art der Unterhaltung noch nicht trainiert, weswegen er es auch nicht so wahrnehmen konnte, doch auch er hat die Kraft gespürt, die von euch ausging.‹
›Ja!‹, fiel Liu Shi Meng ein, ›es war, als ob die Kraft eurer Gedanken die beiden an die Wand gedrückt hätte. So was hab ich noch nicht erlebt! Xu Shen Po, du bist wahrlich ein Großmeister!‹
›Lass den Quatsch! Du weißt, dass ich das nicht leiden kann!‹
›Schon gut, schon gut!‹, sagte er mit gespielter Furcht und wich, die Hände abwehrend vor sich haltend, einige Schritte zurück. Doch sein lachendes Gesicht strafte ihn Lügen und ich konnte nicht umhin, ebenfalls lachend, ihm Schläge anzudrohen.
›Kommt wieder auf den Boden ihr beiden.‹, sagte Chen Shi Mal ernst. ›Das Ganze könnte doch noch ein Nachspiel haben, denn Mao Lu Peng hat euch beobachtet.‹
›Was?‹, entfuhr es mir und Wang Lee wie aus einem Munde.
›Ja, anscheinend überwacht er oder einige seiner Leute die Gesandtschaft ständig. Ich hätte ihn gar nicht bemerkt, doch als ihr weg wart, hat der japanische Fürst seine Leute mit barschen Worten zu sich gerufen. Dort hat er sie erst einmal richtig zusammengestaucht, doch auch er schien eure Kraft gespürt zu haben, denn es sah für mich recht halbherzig aus. Um diese Szene besser beobachten zu können, hat sich Mao Lu Peng weiter vorgewagt und ich konnte ihn kurz sehen. Er stand in dem kleinen Tempel rechts von euch, weit genug drinnen und im Schatten, sodass er nicht gesehen werden konnte. Ich hoffe, das gibt nicht doch noch Ärger!‹
›Es ist belastend, muss das denn immer wieder sein? Muss ich denn immer wieder mit diesem Kerl in Konflikt geraten? Hrrre, es wird Zeit, dass ich von hier wegkomme!‹
Erstaunt hatten meine Freunde diesen kurzen Ausbruch beobachtet und nun sagte Wang Lee:
›Wenn dich das so sehr belastet, verstehe ich deinen Wunsch, Shaolin zu verlassen. Ich hatte immer noch gehofft, dass ich dich vom Gegenteil überzeugen könnte, doch nun werde ich diese Versuche unterlassen.‹
Beschämt senkte ich die Augen.
›Entschuldigt, manchmal kommt eben doch noch der alte in mir durch. Es gibt Dinge, die man nicht so leicht ablegen kann.‹
Ich überlegte kurz und fügte dann noch hinzu: ›Doch vielleicht wäre es besser, wenn ihr jetzt verschwindet. Wenn Mao Lu Peng sich Luft machen will, dann wird das bald geschehen und dann ist es besser, wenn ihr nicht in meiner Nähe seid. Es reicht vollkommen aus, wenn ich Ärger mit ihm habe, ihr werdet weiterhin hier leben und da solltet ihr nicht allzu sehr in Ungnade fallen bei ihm.‹
Bis auf Wang Lee folgten alle dieser Aufforderung.
›Ich stehe zu dir und dem, was gewesen ist! Ich war mit dabei, warum sollte ich nun kneifen?‹
›Wang Lee, hier geht’s doch nicht ums Kneifen. Es genügt vollkommen, wenn ich den Ärger abfange. Gegen mich hegt er den Groll und nicht gegen dich oder einen anderen. Lass gut sein mein Freund, ich weiß, dass du zu mir stehst und weiß sehr zu schätzen, was du bisher für mich getan hast. Doch nun muss ich meinen eigenen Weg gehen. Du wirst weiterhin hier leben und musst dich irgendwie mit Mao Lu Peng arrangieren, wenn du nicht im ständigen Kleinkrieg mit ihm leben willst. Doch ich werde nun so bald als möglich nach Wudang gehen, und deshalb ist es mir egal, was er von mir hält. Also komm und verschwinde! Ich werde jetzt zu Hu Kang gehen und ihm berichten, was vorgefallen ist. Es ist sicherlich besser, wenn er es von mir erfährt und nicht von Mao Lu Peng.‹
Widerwillig ging Wang Lee zu seinen Schülern. Da die Japaner bei den Jungen noch nicht so viel sehen konnten, durfte er ja einen Teil des Tages mit ihnen trainieren. Ich schaute ihm noch einen Augenblick hinterher und ging dann zum Quartier von Hu Kang. Er hatte mit der Abtwürde auch die Unterkunft seines Vorgängers übernommen und es war schon seltsam für mich, nun einen anderen als Han Liang Tian dort aufzusuchen. Doch mit Hu Kang hatte mich von Anfang an auch etwas verbunden, und so fiel es mir nicht ganz so schwer, meine Schritte nun dorthin zu lenken. Auf dem ganzen Weg schaute ich mich aufmerksam um, doch ich konnte weder Mao Lu Peng noch irgendeinen der Gesandtschaft entdecken.
Ich hoffte schon, dass das Ganze doch noch einmal glimpflich ablaufen würde, als ich vor der Tür des Abtquartiers mit Mao Lu Peng zusammenstieß.
›Ahh, hier haben wir ihn doch schon, diesen Stinker, der immer nur für Ärger sorgt.‹ Mit wütenden Augen funkelte er mich an. ›Er hat sich mutwillig den Anweisungen widersetzt, die ich erlassen hatte und ich hoffe, dass das nun das letzte Mal war und er endlich das Kloster verlassen muss.‹
Er schaute durch die noch offene Tür zu Hu Kang zurück und wartete auf dessen Reaktion. Anscheinend hatte er mit diesem gerade über den Zwischenfall gesprochen und erwartete nun, dass ich des Klosters verwiesen wurde.
Ich sah Hu Kang an, dass er nun einen inneren Konflikt lösen musste. Er wollte nicht offen gegen Mao Lu Peng auftreten, aber auch nicht gegen mich entscheiden. Schnell entschloss ich mich, Hu Kang zu helfen und da ich nicht wusste, was Mao Lu Peng ihm erzählt hatte, ging ich erst einmal vorsichtig an die Sache heran.
›Um was geht’s denn eigentlich? Was hab ich denn nun schon wieder verbrochen und weshalb hegt der Großmeister solchen Zorn gegen mich?‹
Eigentlich hatte ich ihn mit der Bezeichnung Großmeister besänftigen wollen, doch er verstand das gleich wieder als Beleidigung, da ich ihn ja geschlagen hatte und nun nach der Auffassung der meisten Mönche diesen Titel verdient hatte. Wieder einmal war ich mit beiden Füßen in das berühmte Fettnäpfchen getreten, und ich sah in seinen Augen, dass es nichts gab, womit ich das so schnell wieder gut machen konnte. So legte er auch gleich los:
›Siehst du, nun zeigt er wieder sein wahres Gesicht! Er tut alles, um meine Autorität zu untergraben und widersetzt sich ständig meinen Anweisungen. Ich hoffe, dass du nun verstehst, warum ich seine Anwesenheit hier im Kloster nicht mehr dulden kann. Er ist kein Mönch und ich denke nun immer öfter, dass es ein Fehler von Han Liang Tian war, ihn hier aufzunehmen. Doch das lässt sich jetzt nicht mehr ändern, aber er sollte uns so schnell wie möglich verlassen!‹
Da er in meinen Augen beleidigend über einen der größten Mönche des Klosters gesprochen hatte, wollte im ersten Augenblick Zorn in mir aufsteigen. Doch schnell besann ich mich wieder, da ich dann ebenfalls das Andenken von Han Liang Tian beleidigen würde. Eine erstaunte Miene aufsetzend, fragte ich:
›Womit hab ich denn nun wieder den Zorn von dir erweckt? Was wirfst du mir vor, Mao Lu Peng?‹
Oh, das war zu viel. Nun schäumte er:
›Auch noch den Unschuldigen spielen!‹, brüllte er, ›willst du etwa leugnen, dass du dich meinen Anweisungen widersetzt und die japanische Gesandtschaft provoziert hast? Ich hatte eindeutig angeordnet, ihnen nichts vom Können der Shaolin zu zeigen und sie über unsere Stärke im Unklaren zu lassen, oder ist das etwa nicht bis zu dir vorgedrungen?‹
›Langsam, langsam!‹ Ich machte eine beruhigende Handbewegung. ›Natürlich habe ich das mitbekommen und natürlich halte ich mich auch daran.‹
Mao Lu Pengs Gesicht färbte sich puterrot und er schien gleich zu platzen, doch ich fuhr schnell fort:
›Womit soll ich denn den Japanern etwas verraten haben? Was soll ich ihnen denn gezeigt haben?‹
Mao Lu Peng holte Luft und wollte losbrüllen, doch diesmal unterbrach ihn Hu Kang:
›Mao Lu Peng hat gerade behauptet, dass du mit Wang Lee die Japaner fast zu einem Kampf herausgefordert hast. Er sagte, du hättest sie sehr provoziert und ihnen die Macht der Shaolin gezeigt.‹
›Ich? Und Wang Lee?‹ Um Wang Lee zu schützen, hatte ich mich entschlossen den Unschuldigen zu spielen. ›Was haben wir denn getan? Womit sollen wir denn die Gesandtschaft so provoziert haben?‹
Nun tobte Mao Lu Peng doch los: ›Willst du etwa leugnen, dass du zwei Japaner an die Wand gedrängt hast und sie fast angegriffen hättest?‹
›Natürlich leugne ich das! Ich hätte es niemals gewagt, diese anzugreifen und wenn sie uns nicht ausgewichen wären, dann wären wir zur Seite getreten. Es war ein Akt der Höflichkeit von ihnen, uns vorübergehen zu lassen, und als wir vorbeigingen, haben wir sie auch freundlich gegrüßt. Wenn du uns beobachtet hast, müsstest du das auch gesehen haben.‹
›Natürlich hab ich das gesehen, doch es war nicht freundlich, sondern provokant, so wie euer gesamtes Auftreten. Ich hab doch die Spannung gespürt, die zwischen euch und ihnen bestand.‹
›Ich verstehe nicht, was du willst, Mao Lu Peng. Es gab kein unfreundliches Wort, keine unfreundliche Geste, wir sind uns nur begegnet und sie sind uns ausgewichen. Wo liegt jetzt das Problem? Haben sie sich etwa beschwert?‹
›Nein, haben sie nicht. Doch ich …‹ Ich unterbrach ihn schnell, damit er nicht erst wieder in Fahrt kam.
›Na dann ist es doch gut. Wo liegt denn nun das Problem? Das versteh ich jetzt nicht‹, sagte ich mit einer möglichst unschuldigen Miene.
›Ihr habt … ihr habt …‹, fing er an zu stottern.
›Weißt du was, Mao Lu Peng? Das beste wird sein, wir gehen zu ihnen hin und fragen sie, wie sie es empfunden haben. Dann werden wir ja sehen, wer recht hat.‹
Jetzt hatte ich ihm jeden Wind aus den Segeln genommen. Anscheinend begann er sogar langsam daran zu zweifeln, ob er richtig gesehen oder sich nur etwas eingebildet hatte. Seine Miene wurde nachdenklich und entspannte sich. Ich hatte diesen Vorschlag bewusst gemacht, denn ich war mir relativ sicher, dass die Japaner niemals Derartiges zugeben würden. Zum einen würden sie in diesem Moment ihr Gesicht verlieren und zum anderen würden sie auf diese Art zugeben, dass sie uns provozieren wollten, und das lag beides nicht in ihrem Interesse. Des Weiteren vermutete ich auch, dass Mao Lu Peng aus verschiedenen Gründen nicht zu so einem Schritt neigen würde.
Es zeigte sich auch, dass ich damit richtig gelegen hatte, denn Mao Lu Peng begann herumzudrucksen und wusste nicht so recht, wie er sich nun verhalten sollte. Das nutzte ich sofort aus, um vom Thema abzulenken.
›Vorhin hast du kundgetan, dass es dein innigster Wunsch ist, mich endlich loszuwerden.‹ Dass ich ihn so direkt darauf ansprach, hatte er nicht erwartet.
›Naja, ich … äh …‹
›Ist schon in Ordnung, ich weiß doch schon lange, dass du mich nicht gerne hier siehst und ich werde dir nun auch diesen Wunsch erfüllen.‹
Er schaute mich verblüfft an.
›Ich war hierhergekommen, um dem Abt des Klosters diese Entscheidung mitzuteilen‹, sagte ich, zu Mao Lu Peng gewandt. ›Und hiermit möchte ich nun offiziell bekannt geben, dass ich in spätestens fünf Tagen das Kloster verlassen werde. Ich denke auch nicht, dass ich zurückkommen werde, und wenn, dann höchstens zu einem kurzen Besuch.‹
Das hatte ich nun mehr zu Hu Kang hin gesagt.
›Was veranlasst dich zu dieser Entscheidung?‹, fragte Hu Kang mit Bedauern in der Stimme.
›Ich denke, dass es Zeit wird, diesen Ort zu verlassen. Meine Anwesenheit hat immer wieder für Streit und Unfrieden gesorgt. Außerdem hat das Kloster die Aufgabe, vor die sich Han Liang Tian gestellt sah, nun erfüllt und es gibt deshalb keinen Grund mehr, dass ich hierbleibe.‹
Hu Kang bedauerte meinen Entschluss sehr, das spürte ich wohl, doch auch der Gedanke, dass er dann eine Sorge weniger haben würde, kam ihm und er wusste nicht so recht, was besser war.
Mao Lu Peng dagegen konnte seine Freude über meinen Entschluss kaum verbergen. Endlich schien er mich loszuwerden und das vielleicht für immer. Wenn das keine gute Nachricht für ihn war!
Es gab nur noch eins, was er sich mehr wünschte, als mich loszuwerden und das war die Abtwürde, die er zu gerne gehabt hätte. Doch diese war ihm versagt worden, und somit gab es also kaum eine größere Freude für ihn.
Mit einigen Tricks hatte ich erreicht, was ich wollte. Mao Lu Pengs Ärger war verraucht und Wang Lee würde vermutlich keine Konsequenzen zu fürchten haben. Ich fühlte mich bloß nicht ganz so wohl dabei, da ich doch sehr mit Zweideutigkeiten gearbeitet hatte. Streng genommen hatte ich sogar gelogen, denn ich hatte ihnen glaubhaft gemacht, dass ich keinen Konflikt mit den Japanern angestrebt hatte, und das stimmte ja nicht ganz.
Es nagte sehr an meinem Gewissen und so kam es, dass ich am nächsten Tag mit Wang Lee darüber sprach. Er hörte sich an, was mich so sehr beschäftigte und sagte dann:
›Mach dir keine Gedanken, Xu Shen Po. Wenn du mir deine Worte richtig wiedergegeben hast, dann hast du ja nicht direkt gelogen, sondern nur die Gedanken der anderen in eine bestimmte Richtung gelenkt. Außerdem hast du es nicht getan, um dir einen Vorteil zu verschaffen, sondern um mich und andere zu schützen. Ich glaube nicht, dass Buddha oder dein Gott darin eine so große Verfehlung sieht. Am besten du sprichst mit ihm darüber und erklärst ihm dein Verhalten. Ich denke, er wird es verstehen.‹
So richtig beruhigten mich seine Worte nicht. Früher hatte ich kein Problem mit solchen Dingen gehabt und diese Art, Menschen zu manipulieren, oft bei Verhandlungen eingesetzt, doch seit ich hier war, hatte sich mein Denken sehr gewandelt. Aber es war nun mal geschehen und ich musste damit leben. Wang Lees Rat würde ich befolgen, doch ob sich mein Gewissen damit beruhigen ließe, wagte ich zu bezweifeln.

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