Dao

Kapitel 9 – Zurück nach Shaolin

Abschnitt 3

Während wir aßen, hatten wir noch Ruhe und er erzählte uns noch einiges. Auch von Lei Cheng erzählte er. Den Kleinen schien er besonders ins Herz geschlossen zu haben. Anscheinend hatte sich Lei Cheng so eine Art Führungsposition unter den Jungen erarbeitet und wurde mittlerweile von allen geachtet. Da er aber nicht übermütig oder gar hochmütig geworden war, hatten ihn alle, auch die Großen, sehr ins Herz geschlossen.
›Du wirst Lei Chen nicht wieder erkennen. Er ist ein ganz anderer geworden, nachdem du ihm sein Selbstbewusstsein wiedergegeben hast. Er ist der Beste in allem und dennoch der Zurückhaltendste von allen. Alle lieben ihn und er hat das Zeug dazu, mal ein ganz Großer zu werden. Wenn er dich wiedersieht, wird er sich freuen, Gü Man.‹
Der Koch schaute auf unsere leeren Essschalen. Nun war seine Stunde gekommen.
›So, nun möchte ich aber auch mal einiges von euch hören. Was habt ihr in den drei Jahren alles erlebt? Wo seid ihr überall gewesen und wie ist es dort? Warum seid ihr so lange weggeblieben, Han Liang Tian hat euch schon im vergangenen Jahr zurückerwartet.‹
Wir lachten kurz auf bei den vielen Fragen, doch eine ausführliche Antwort waren wir ihm schuldig.
Wir begannen mit einem Bericht über unsere Reise nach Wudang. Der Koch hörte gebannt zu und saugte jedes Wort in sich auf. Als wir schließlich vom Wudang-Kloster und dem dortigen Abt erzählten, stellte er viele Fragen und machte sich dabei seine eigenen Gedanken.
›Ihr hättet dort bleiben sollen. Es scheint ein besserer Ort zu sein, um Buddha zu dienen und um Ruhe zur Meditation zu finden.‹
›Doch dort wird Buddha nicht verehrt‹, warf Wang Lee ein.
›Aber euer Glaube wurde respektiert und keiner hat euch an der Ausübung diese Glaubens gehindert.‹
Er hatte wirklich aufmerksam zugehört und auch zwischen den Zeilen gelesen.
›Ja, du hast schon recht, doch mir haben die Tempel und die anderen Mönche gefehlt. Ich hatte keinen, mit dem ich über Buddha reden konnte. Selbst Gü Man war dafür nicht geeignet, da er ja wieder einen anderen Glauben hat. In der Gemeinschaft, so wie vorhin bei der Andacht, ist es anders und man fühlt sich Buddha näher.‹
Der Koch nickte. Er verstand das und drang auch nicht weiter in Wang Lee. Er fragte dann noch viele Dinge über die Menschen, denen wir begegnet waren und die Tempel und fremden Orte, die wir auf unserer Reise gesehen hatten. Besonders der Bericht von dem Einsiedler faszinierte ihn.
›Es war gut, dass ihr diesen Mann zur letzten Ruhe gebettet habt. Buddha wird es euch danken.‹
›Wir wissen doch gar nicht, ob er an Buddha geglaubt hat. Es kann genauso gut oder sogar viel wahrscheinlicher ein Anhänger des dortigen Glauben gewesen sein‹, warf ich ein.
›Das spielt doch keine Rolle. Ihr habt ihm einen letzten Dienst erwiesen. Dabei ist es doch nicht von Bedeutung, an wen oder an was er geglaubt hat. Das einzig Wichtige an dieser ganzen Sache ist doch, an was ihr glaubt und was euch bewogen hat, diesem Mann die letzte Ehre zu erweisen.‹
Er war schon ein erstaunlicher Mensch, dieser Koch. Jeder hatte mit ihm mehr oder weniger Kontakt und seine Ratschläge wurden von allen hoch geachtet. Er war der im Stillen wirkende Seelsorger des Klosters. Wir unterhielten uns noch eine Weile mit ihm und machten uns dann auf den Weg in unsere Quartiere.
Wir hatten uns entschieden, unsere alten Quartiere wieder in Beschlag zu nehmen. Zum einen war es eine gewohnte Umgebung und zum anderen hatte sich Wang Lee mit Hu Kang ein Quartier geteilt und er freute sich darauf, wieder mit diesem über Buddha reden zu können. Mir war es recht, denn dann konnte ich wieder beginnen, mir einen unabhängigen Tagesablauf zuzulegen. Da ich nicht an die rituellen Gebete und den Dienst zu Ehren Buddhas gebunden war, konnte ich dann wieder Dinge tun, die nicht im normalen Klosteralltag beinhaltet waren.
Das Erste, was ich tat, nachdem ich mein Bündel in meiner Zelle abgelegt hatte, war, meine schmutzige Wechselkleidung zu nehmen und zum Wasserbecken zu gehen. Beim Abfluss wusch ich die Kleidungsstücke und hängte sie dann über Zweige zum Trocknen. Anschließend nahm ich ein ausgiebiges Bad und wusch mich so gut das ohne Seife ging. Dann schaute ich mich um. Hier hatte sich nicht viel verändert. Der Weg war stärker ausgetreten und an der Stelle, wo das Wasser geholt wurde, war eine Mulde entstanden. Daran konnte man sehen, dass mittlerweile mehr Menschen hier waren und mehr Wasser benötigt wurde. Es zeigte aber auch, das auf Körperhygiene nicht so viel Wert gelegt wurde, denn zum Baden kamen wahrscheinlich kaum welche her. Doch darüber machte ich mir keine Gedanken mehr. Am Anfang hatte ich einmal versucht, die Mönche von der Notwendigkeit der regelmäßigen Körperreinigung zu überzeugen, doch ich wurde nur belächelt und gab schließlich recht schnell auf.
So neigte sich der Tag dem Ende entgegen. Ich machte noch einen Besuch bei dem kleinen Bäumchen und war sehr erfreut über dessen Aussehen. Der alte Baum neben ihm bekam immer mehr dürre Äste und es war nur eine Frage der Zeit, bis er absterben würde. Doch der Kleine war in den drei Jahren zu einem kräftigen, kleinen Baum geworden. Ich musste mich schon strecken, um mit den Fingerspitzen die obersten Blätter zu erreichen.
Froh darüber, setzte ich mich nieder und legte meine Hand an sein Stämmchen. Es dauerte auch nicht lange und ich konnte die Kraft in ihm spüren. Und noch etwas spürte ich. Doch das konnte eigentlich nicht sein. Ich hatte das Gefühl, der Baum freue sich, dass ich wieder da war.
Ich schüttelte den Kopf, schloss die Augen und genoss die Wärme der untergehenden Sonne auf meiner Haut. Erst, als ich spürte, dass diese nachließ und dass die Helligkeit, die durch meine geschlossenen Lieder kam, weg war, erhob ich mich und ging zurück ins Kloster.
Am nächsten Morgen begann ich wieder mit meinem alten Tagesablauf, nur dass ich einige Kleinigkeiten änderte. Zum einen verließ ich nach Möglichkeit das Kloster durch die kleine Pforte, die seitlich in der Mauer war. Ich wollte nicht ständig mit dem neuen Klosterbereich in Kontakt kommen. Es war ja möglich, dass doch der eine oder andere mit Mao Lu Peng in Kontakt stand und ihm dann Meldung machte. Ich wusste zwar nicht so richtig warum, aber dieser Gedanke war mir unangenehm.
Am Vormittag des ersten Tages traf ich noch einmal mit Han Liang Tian zusammen und dieser wollte noch viel von mir wissen. Was ihn am meisten beschäftigte, war der Bericht, den ihm Wang Lee von der Heilung gegeben hatte. Er freute sich, dass ich nun in der Lage war, meine inneren Kräfte zu nutzen. Als ich ihm dann noch vorgeführt hatte, dass ich mittlerweile in der Lage war, mit der Kraft meiner Gedanken Gegenstände zu bewegen, war er recht beeindruckt. Er wertete das als großen Fortschritt. Auch die Art, wie Wang Lee und ich Tai Chi ausführten, beeindruckte ihn sehr. Er bat uns, in Zukunft die Frontmänner zu sein, damit auch alle anderen, die morgens daran teilnahmen, in den Genuss dieser besseren Variante kämen. Wir taten das gerne und waren recht stolz darauf, dass wir nun an der Spitze standen und Lehrer spielen konnten.
Der Abt war sehr zufrieden mit dem, was ich in den letzten drei Jahren gelernt hatte.
›Gü Man, du hast sehr viel gelernt in dieser Zeit. Ich freue mich und meine Bedenken und Vorwürfe, die ich mir gemacht habe, weil ich dich nicht weiter ausgebildet habe, haben nachgelassen.‹
›Wieso hast du dir Vorwürfe gemacht? Dazu besteht doch überhaupt kein Grund!‹
›Doch! Du weißt doch, dass ich von Buddha den Auftrag bekommen habe, dich in allem zu unterrichten, was ich kann und weiß. Nun habe ich das aber in den letzten Jahren nicht getan und bin somit Buddhas Wunsch nicht nachgekommen.‹
›So ein Unsinn! Wie solltest du das denn machen? Ich war doch nicht da!‹
›Eben deshalb. War es richtig, dich gehen zu lassen? Dich ohne Schutz wegzuschicken! Durfte ich das, oder hätte ich einen anderen Weg finden müssen? Doch nun, nachdem ich erfahren habe, was du alles gelernt hast auf dieser Reise, denke ich, dass es gar nicht besser hätte laufen können. Du hast viel und vor allem Dinge gelernt, die du hier nie hättest lernen können.‹
›Wieso hast du das gedacht? Deine Entscheidung, uns auf die Reise zu schicken, hatte doch den Grund, uns oder besser gesagt mich zu schützen. Und ich denke nicht, dass es falsch war. Die Notwendigkeit dieser Reise steht für mich außer Zweifel.‹
›Das ist schon wahr, Gü Man, doch die Gedanken kommen dennoch. Ich denke, du kannst das verstehen.‹
›Das kann ich sehr gut, aber es gibt keinen Grund, warum wir weiter über dieses Thema diskutieren sollten.‹ Ich wollte ihm damit helfen, und um schnell auf ein anderes Thema zu kommen, stellte ich gleich noch eine Frage, die mich stark beschäftigte.
›Doch eins habe ich noch nicht geschafft. Du hast mir den Auftrag geben, meine inneren Kräfte zu erkennen und zu lernen, sie zu nutzen. Das ist mir nun in Ansätzen gelungen. Ich denke auch, dass ich das nach und nach noch verbessern kann, doch deine Aufgabe, die Kräfte von anderen Dingen mit zu nutzen, habe ich noch nicht erfüllen können. Ich habe mich immer wieder bemüht, doch leider noch keinen Weg gefunden, an diese Energie heranzukommen.‹
›Das ist auch nicht so einfach und ich hätte mich gewundert, wenn du so schnell dahintergekommen wärst. Doch das Grundprinzip hast du erkannt. Du bist auch in der Lage, die Energie in den Dingen zu spüren. Alles andere musst du nun selbst erkennen. Ich kann dir dabei nur wenig helfen, denn es gibt keinen festen Spruch oder eine bestimmte Handlung, die du ausführen musst, um das zu erreichen. Es muss von innen aus dir selbst kommen.‹ Wieder einmal strich er sich nachdenklich mit der Hand über den Schädel. ›Eine kleine Hilfe kann ich dir aber vielleicht geben. Ich habe es beim Fasten erkannt. Als ich mehrere Wochen lang gefastet und meditiert habe, kam die Erkenntnis.‹
Verständnislos sah ich ihn an. Damit konnte ich gar nichts anfangen. Ich hatte noch nie in meinem Leben gefastet. Und dann gleich mehrere Wochen, wie sollte das denn gehen. Han Liang Tian merkte, dass mir das im Augenblick nicht weiterhalf, ging aber nicht weiter darauf ein. Wir sprachen noch eine Weile über die Wudang- und die Shaolin-Technik und er gab mir den Rat, keine der beiden zu vernachlässigen.
Unbefriedigt mit dem Ergebnis des Gespräches, verließ ich den Abt und suchte nach Wang Lee. Ich konnte ihn bis zur Mittagsandacht nirgends finden und als ich ihn dann im Tempel sah, hatte ich den Eindruck, dass er auch nicht zufrieden war mit dem Verlauf dieses Tages.
Nach der Andacht teilte er mir aber mit, dass er den ganzen Vormittag vergeblich versucht hatte, irgendwo am Kampftraining teilzunehmen. Doch richtig war ihm das nirgends gelungen. Es war nicht mehr so, wie vor unserer Abreise. Im inneren Klosterbereich wurde gar nicht mehr trainiert und das Training außerhalb war fest gestaffelt. Es gab Gruppen mit unterschiedlichem Fertigkeitsstand, und diese wurden jeweils speziell trainiert.
Nach einigem Suchen hatte er sich einer Gruppe der Besten angeschlossen, doch der starre Shaolin-Stil ging ihm nicht mehr so leicht von der Hand. Er hatte Mühe, sich in der Gruppe einzugliedern und nach einiger Zeit wurde er von denen belächelt. Daraufhin ging er freiwillig und hatte nun auch keine Lust mehr, sich einer dieser Gruppen anzuschließen.
Ich konnte es verstehen. Wir hatten so lange in Wudang gelebt und diesen Kampfstil geübt, dass sich einiges an unserem geändert hatte. Selbst in den Momenten, wo wir Shaolin-Boxen übten, ließen wir Wudang-Elemente einfließen. Ich empfand das ja nicht als Fehler, doch hier war es unangebracht und keiner würde Verständnis dafür haben.
Wir entschlossen uns, im inneren Klosterbereich allein für uns weiter zu trainieren, doch auf die Dauer war das unbefriedigend. Jeder kannte die Schwächen und Stärken des anderen und stellte sich darauf ein. Wir machten keine großen Fortschritte und das frustrierte.
Erst kurz vor Winteranbruch sollte sich das ändern. Wir hatten wieder einmal unser gemeinsames Training begonnen, als Chen Shi Mal und Liu Shi Meng zu uns kamen. Wir brachen das Training ab und schauten sie an. Wir waren nun schon einige Monate wieder da, und keiner hatte sich um uns geschert. Daher war es schon erstaunlich, wenn gerade diese Hauptmänner plötzlich bei uns auftauchten.
›Wir wollen euch nicht stören‹, begann Chen Shi Mal.
Er schien verlegen zu sein und ich fragte mich schon, warum dieser nunmehr recht einflussreiche Mann so bescheiden hier auftrat.
›Wir sind nicht länger in der Gruppe der Kampfmönche. Mao Lu Peng hat uns zu verstehen gegeben, dass wir uns entscheiden müssten, ob wir weiterhin am Tempelalltag teilnehmen oder uns ohne Ausnahme der neuen Aufgabe widmen wollen. Wir wollen das Kampftraining nicht aufgeben, doch wir wollen auch Buddha weiterhin dienen, deswegen haben wir mit Han Liang Tian gesprochen und er hat uns vorgeschlagen, mit euch zu trainieren.‹
›Ist Mao Lu Peng denn wieder da?‹, fragte ich aufgeregt.
›Nein, doch er hat viele Zuträger unter den Neuen. Wir nehmen an, dass diese ihm regelmäßig Bericht erstatten und wir in diesen sicherlich nicht allzu gut weggekommen sind. Nun hat er ein Schreiben geschickt, in dem wir aufgefordert wurden, uns zu entscheiden. Cheng Wei Hu mag seine jetzige Stellung noch nicht aufgeben. Er hat sich entschieden, weiterhin in Mao Lu Pengs Truppe zu bleiben, doch wir können mit der Art des Generals nicht mehr so gut umgehen. Deshalb wollten wir euch bitten, uns an eurem Training teilhaben zu lassen. Wir werden von Han Liang Tian als Betmönche gewertet, doch das Training führen wir weiterhin aus, um Körper und Geist zu stärken.‹
Er machte eine kurze Pause und sah uns fragend an.
›Geht das oder ist es euch lieber, wenn ihr allein für euch seid?‹
›So ein Unsinn, was sollten wir dagegen haben? Natürlich ist es uns viel lieber, wenn wir in der Gruppe trainieren und nicht für uns allein. Doch wenn, dann müssen wir euch fragen, ob wir mit euch trainieren dürfen, denn ihr seid die Meister und nicht wir.‹
Wang Lee freute sich sehr, denn er hatte besonders unter der Ausgrenzung gelitten.
›Da bin ich mir nicht mehr ganz so sicher‹, antwortete Chen Shi Mal.
Wang Lee sah ihn verständnislos an. ›Nicht ganz sicher? Warum? Weshalb?‹
›Na, dass wir die Meister sind‹, sagte er ganz offen und im vollen Ernst.
Fragend sahen wir ihn an.
›Na ja, wir haben euch schon eine Weile zugesehen und ich muss sagen, dass der Stil, den ihr da entwickelt habt, sehr interessant aussieht. Ich glaube nicht, dass wir bei dieser Art des Kampfes sehr gut wegkommen würden.‹
›Was ist das für ein Kampfstil? Habt ihr das gelernt, als ihr so lange weg wart?,‹ fragte nun Liu Shi Meng.
›Nicht direkt‹, antwortete ich diesmal. ›Dort, wo wir waren, wird eine ganz andere Form des Kampfes gelehrt, doch ich, oder besser gesagt wir beide fanden, dass sich diese beiden Kampfarten eigentlich wunderbar ergänzen. Ich wollte von Anfang an eigentlich gerne beides mischen und die Nachteile des einen durch die Vorteile des anderen ergänzen. Doch Wang Lee wollte das erst nicht. Deswegen haben wir beide Arten für sich weiter geübt. Doch unwillkürlich haben wir sie doch vermischt. Ich hatte das schon länger gemerkt, aber Wang Lee wollte das anfangs nicht wahrhaben.‹
›Ja, ich wollte unsere Art des Kampfes nicht verraten. Und jetzt, wo ihr da seid, kann ich vielleicht wieder zurückfinden zu unserem Kampfstil.‹
Die beiden sahen sich einen Moment lang an und Chen Shi Mal sagte schließlich:
›Wir hatten eigentlich gehofft, dass ihr uns in dieser neuen, sehr interessanten Technik unterrichtet.‹
Als er Wang Lees erstaunten Gesichtsausdruck sah, fügte er schnell hinzu:
›Glaube mir, ich sage das nicht nur so dahin. Eure Technik scheint mir der unseren überlegen zu sein.‹
Wang Lee konnte immer noch nichts sagen und schaute die beiden nur verblüfft an.
›Wir können es herausfinden‹, setzte Chen Shi Mal hinzu, ›lass uns einen Übungskampf durchführen, dann werden wir es genau wissen. Ich werde dich auf die althergebrachte Art und Weise angreifen und du setzt dich auf eure Art zur Wehr.‹
Fragend sah er Wang Lee an. ›Wäre das in Ordnung?‹
Er nickte, war aber immer noch ganz verwirrt, doch Chen Shi Mal wartete nicht lange, sondern griff ihn gleich mit einer harten Kombination an. Wang Lee konnte, obwohl er nicht darauf vorbereitet war, diesen Angriff spielend abwehren. Er passte sich Chen Shi Mals Art zu kämpfen an, ohne sie aber zu kopieren. Er nutzte die hart geschlagenen Angriffe, um ihn mit seiner eigenen Kraft zu schlagen. Schon nach dem dritten Angriff lag Chen Shi Mal das erste Mal am Boden. Er hatte sich zwar sofort wieder aufgerichtet und setzte zum nächsten Angriff an, doch Wang Lee konnte jeden blocken. So ging das eine ganze Weile und die Angriffe von Chen Shi Mal wurden schwächer, da er sich sehr verausgabte. Wang Lee kämpfte diesmal auf die Art, wie ich mit ihm in Wudang auf Tiang Li Yangs Geheiß hin gekämpft hatte.
Als Chen Shi Mal ihn dann mit einer schnellen Schlag-Tritt-Kombination angriff, nutzte er dessen offene Verteidigung und raubte ihm den Halt. Mit einem schmerzhaften, knackenden Geräusch landete Chen Shi Mal in der Grätsche. Sofort war Wang Lee über ihm und deutete einen entscheidenden Schlag an. Chen Shi Mal stöhnte leise und bedeutete, dass er den Kampf für entschieden hielt.
Immer noch verblüfft wegen seiner eigenen Leistung, verneigte sich Wang Lee vor ihm und bot ihm die Hand als Hilfe beim Aufstehen. Chen Shi Mal nahm sie und lächelte ihn an.
›Hab ich dir nicht gesagt, dass eure Technik der unseren überlegen ist? Ich habe lange genug trainiert, um zu wissen, wenn ich etwas Gutes sehe und die kurze Zeit, die wir euch vorhin zugesehen haben, hat mir genug gesagt. Werdet ihr uns nun die Ehre erweisen, uns in dieser Technik zu unterrichten?‹
›Natürlich könnt ihr gerne mitmachen, doch es ist für mich sehr ungewohnt, wenn ich einen Meister etwas lehren soll.‹
›Hör auf mit Meister. Du hast doch gerade gesehen, dass du diese Bezeichnung genauso gut verdienst wie ich.‹
Chen Shi Mal lachte kurz auf. ›Also, wollen wir?‹
Ohne irgendwelche Einschränkungen oder Bedingungen wollte er sich sofort unterordnen. Wang Lee fühlte sich gar nicht wohl in seiner Haut und sah mich fragend an.
›Würdest du ihnen erst einmal mehr über den Wudang-Stil erzählen? Du kannst das, glaube ich, besser als ich, denn ich wollte das ja erst gar nicht lernen.‹
Ich sah das zwar nicht so, doch stimmte ich lachend zu und so begann unser gemeinsames Training. Aus Sympathie folgten in den nächsten Tagen noch elf weitere Mönche aus der alten Truppe und schlossen sich uns an. So waren wir schließlich fünfzehn, die wieder im alten Klosterbereich trainierten.
Es war keiner dabei, der nicht damit einverstanden war, diese neue Technik zu erlernen und von allen wurde sie gern angenommen. Doch wenn wir einmal von anderen beobachtet wurden, dann wurden wir nur belächelt. Diese hielten unsere Art des Kampfes für zu weich und die Mischtechnik aus Shaolin und Wudang, die wir benutzten, blieb auf unsere Gruppe begrenzt. Da wir sowieso außerhalb der Hauptgruppen übten, spielte das aber keine Rolle. Wir galten ja bei den anderen als Betmönche und somit waren wir Weichlinge. Das war uns eigentlich ganz recht, denn dadurch unterlagen wir keinen Zwängen.
Wenn die vielen Kampfmönche außerhalb des alten Klosterbereiches nicht gewesen wären, dann hätte es fast noch besser sein können, als vor unserer Abreise. Doch durch diese wurden wir immer wieder an Mao Lu Peng und die neuen Zustände erinnert. Wir versuchten auf unsere Art und Weise, einiges vom alten Flair des Klosters zu erhalten, doch ob es uns richtig gelang, bezweifelte ich sehr, denn die allgegenwärtige Unruhe machte vieles wieder zunichte.
Wang Lee und ich vernachlässigten auch das Training mit Waffen nicht. Wir hatten in Shaolin nur nicht die gleichen Voraussetzungen wie in Wudang. Die Waffen waren anders und die Anleitung von Tiang Li Yang fehlte uns doch mehr, als wir erwartet hatten. So entwickelten wir durch diese veränderten Bedingungen automatisch unseren eigenen Stil.«

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