Dao

Kapitel 11 – Veränderungen

Abschnitt 1

»Das Leben verlief nun wieder in gewohnten Bahnen und der Frühling kam. Aber mit ihm glücklicherweise nicht Mao Lu Peng. Der Kaiser war noch nicht zufrieden mit dem Ausbildungsstand seiner Leibwache und hatte ihn aufgefordert, noch länger zu bleiben. Doch wie wir später erfuhren, hatte Mao Lu Peng geschäumt vor Wut, als er von dem Wechsel der Jungen erfahren hatte. Er hatte sofort klare Anweisungen geschickt, damit so etwas nicht noch einmal vorkam, doch nur seine Anwesenheit hätte das verhindern können, denn Han Liang Tian wurde von allen anderen immer noch als Abt und weisungsberechtigt respektiert. So kam es, dass im Laufe des Sommers noch einige zu den Mönchen wechselten und bei den Soldaten nicht nur das Kämpfen gelehrt wurde.
Doch es war immer noch nicht dasselbe. Ein Mönch lernte das Shaolin-Boxen aus einem anderen Grund, als diese Männer. Und da waren ja auch noch einige richtige Soldaten und Offiziere, die vom Kloster ausgebildet werden sollten und deren Charakter färbte auch auf viele ab.
Ich hatte meinen gewohnten Tagesablauf wieder aufgenommen. Bis die wärmeren Tage anbrachen, hatte ich Tumo ausgeführt und es hatte mich keine große Anstrengung gekostet. Erst mit Beginn des Frühlings stellte ich meinen Körper wieder auf normale innere Temperaturen um.
Unsere kleine Gruppe trainierte auch weiterhin einen Teil des Tages die neue Variante des Boxens. Doch auch die traditionelle Art wurde von uns mit anderen weiterhin geübt.
Außerdem verbrachte ich jeden Tag einige Zeit mit Wang Lee oder dem Abt, um meine inneren Kräfte besser kontrollieren zu können. Mit der Zeit machte ich gute Fortschritte und je mehr ich mich damit beschäftigte, desto leichter fielen mir viele andere Dinge. So gelang es mir im Laufe des Sommers, meine Boxtechnik so weit zu verbessern, dass kaum noch einer in der Lage war mich zu schlagen. Doch anders als in Wudang strebte ich nun nicht mehr danach der Sieger zu sein, sondern versuchte Perfektion und Harmonie zu erreichen. Auch den Kampf mit den Waffen trainierten wir nun wieder häufiger, doch mittlerweile hatten wir uns so weit unter Kontrolle, dass bis auf ein paar Kratzer keine Verletzungen auftraten.
Als sich der Sommer dem Ende entgegenneigte, traten jedoch Veränderungen ein. Das Lauftraining morgens war zu einem festen Bestandteil des Tagesablaufs geworden. Es fiel mir auch nicht schwer, die relativ große Strecke, die ich nun täglich lief, in immer kürzeren Zeiten zurückzulegen. Ich schätzte den mit einigen starken Steigungen durchsetzten Weg auf etwa vierzehn bis fünfzehn Kilometer. Wie beim Kampftraining und bei Tai Chi ließ ich mich beim Laufen völlig fallen. Ich hatte dann immer nach kurzer Zeit das Gefühl, ich würde leichter und schwebe über den Boden. Es waren kaum Erschütterungen zu spüren, wenn ich den Boden berührte und mein Schritt wurde federnd und leicht. Hier half mir auch das Atemtraining der Tai Chi-Übungen. Hatte ich bei meinen ersten Läufen noch geräuschvoll geschnauft, so war jetzt beim Laufen fast keine Veränderung zum normalen Atmen zu erkennen.
An einem Spätsommermorgen, ich hatte schon den größten Teil der Strecke zurückgelegt, bekam ich plötzlich starke Zahnschmerzen. Der Herbst schickte seine ersten Vorboten mit leichtem Nieselregen und einem kalten Nordwind. Immer, wenn mein Fuß den Boden berührte, stoben die Tropfen davon und ein stechender Schmerz durchfuhr meinen Oberkiefer. Ich wurde langsamer. Das Laufen fiel mir nicht mehr so leicht und ich spürte bei jedem Schritt mein Körpergewicht. Bald kam ich aus dem Tritt, und den letzten Kilometer legte ich im Schritt zurück. Mittlerweile war der Schmerz so groß, dass ich das Gefühl hatte, eine glühende Nadel werde vom Kiefer her bis ins Gehirn gestoßen. Jedes Auftreten war eine Tortur und ich war heilfroh, als ich das Kloster erreichte.
Was sollte ich nun tun? So, wie es mir im Augenblick ging, brauchte ich gar nicht erst mit dem Training anzufangen. Die anderen schienen auch schon damit begonnen zu haben. Ich hatte aber nicht die geringste Lust, jetzt zu ihnen zu gehen und große Erklärungen abzugeben, also entschied ich mich, im kleinen Tempel den Versuch zu unternehmen, mir durch Meditation Linderung zu verschaffen. Doch das gestaltete sich gar nicht so einfach. Der anhaltende Schmerz behinderte. Wütend und frustriert wollte ich schon aufgeben, als Wang Lee mich fand. Er hatte mich beim Training vermisst und war auf die Suche gegangen. Auf seine Fragen hin hatten ihm einige Mönche berichtet, wo sie mich gesehen hatten.
›Du siehst ja fürchterlich aus! Was ist denn mit dir los?‹, fragte er erschrocken.
›Ach, nichts weiter. Ich habe nur übelste Zahnschmerzen.‹
›Ähm, ja, das ist natürlich unangenehm. Soll ich mal nachschauen was los ist?‹
›Wenn du willst, aber es wird nicht viel bringen, denn machen kannst du ja doch nichts.‹
Was sollte er auch tun. Er konnte höchstens feststellen, dass der Zahn ein Loch hatte, aber stopfen konnte er es nicht. Mit Schrecken fiel mir ein, dass ich ja einige Plomben hatte. Wie sollte ich die denn erklären?
›Ach! Lass mal lieber. Du kannst es ja doch nicht ändern.‹
Erstaunt sah er mich an. ›Vielleicht, aber vielleicht auch doch. Für einige Fälle gibt es Mittel, die wenigstens den Schmerz lindern.‹
›Ach so?‹ Erstaunt sah ich zu ihm auf. ›Was macht ihr denn normalerweise, wenn euch Zahnschmerzen plagen?‹
Wang Lee hockte sich mir gegenüber hin. ›Na ja, entweder wir kauen ein paar Kräuter, die den Schmerz so lange lindern, bis er vorbeigeht. Doch meist werden die Zähne dann schwarz und brechen aus. Oder, wenn der Schmerz zu groß ist, dann brechen wir den Zahn selbst oder mithilfe eines anderen raus.‹
Das waren ja rosige Aussichten. Entweder irgendein Rauschmittel zu nehmen, um den Schmerz zu betäuben oder den Zahn ziehen. In dieser Beziehung waren die Fortschritte in meinem alten Leben doch recht wertvoll gewesen.
›Ach, lass mal. Ich werd erst mal noch ein Stück versuchen zu meditieren, vielleicht hilft mir das ja irgendwie.‹
›Wie du meinst. Ich geh wieder trainieren. Wenn du was brauchst, weißt du, wo du mich findest.‹
›In Ordnung.‹
Wang Lee verließ mich kopfschüttelnd und ich versuchte noch einmal, mich in Meditation zu versenken. Doch es wollte mir einfach nicht gelingen. Immer wieder holte mich der stechende Schmerz in die Wirklichkeit zurück. Nach einigen Stunden war ich so wütend und genervt, dass ich in den Mund griff und den Zahn fasste. Erstaunt zog ich die Finger wieder heraus. Zwischen Daumen und Zeigefinger hielt ich den blutigen Zahn. Es hatte sich angefühlt, als würde ich einen großen Holzsplitter aus der Haut ziehen. Und genauso leicht war es auch gegangen.
Es hatte kaum Mühe gekostet, diesen Zahn zu ziehen. Wenn ich da an das Ziehen meiner Weisheitszähne dachte! Was war das für eine Tortur gewesen! Ich schluckte das Blut hinunter, das sich in meinem Mund gesammelt hatte, und fühlte mit der Zunge nach dem entstandenen Loch. Das verursachte erstaunlicherweise keine größeren Schmerzen mehr. Ich schüttelte den Kopf und schaute wieder auf den Zahn. Eine große Plombe war auf der Kaufläche und ich war froh, dass ich Wang Lee nicht hatte nachschauen lassen. Doch ansonsten konnte man an dem Zahn nichts Außergewöhnliches entdecken. Ich drehte ihn mehrfach zwischen den Fingern und schaute ihn von allen Seiten an, doch mit dem gleichen Resultat.
Na gut, dachte ich. Einer weniger. Solange das nicht zur Regel wird, kann ich damit leben.
Die Schmerzen waren verschwunden, und erleichtert stand ich auf.
Da ich mich nun wieder recht wohl fühlte, wollte ich schon zu den anderen gehen, um weiter mit ihnen zu trainieren. Doch dann überlegte ich mir, dass Wang Lee bloß wieder Fragen stellen würde und entschloss mich, lieber den Abt aufzusuchen und wenn möglich, mit ihm meine inneren Kräfte zu trainieren.
Ohne zu fragen, warum ich ihn zu dieser ungewohnten Tageszeit aufsuchte nahm sich Han Liang Tian die Zeit und wir verbrachten den größten Teil des restlichen Tages damit, mein Chi zu stärken und besser zu kontrollieren.
So verging dieser Tag und ich hoffte, dass nun alles wie gewohnt weiterliefe. Doch es war nur der Anfang gewesen. Innerhalb der nächsten zwanzig, dreißig Tage verlor ich alle weiteren Zähne, sodass ich nur noch eine Kauleiste hatte und diese war wund und durchlöchert. Ich war kaum noch in der Lage, etwas zu mir zu nehmen und wenn doch, dann war es flüssiger Natur. Suppen und Brühen wurden zu meinem Hauptnahrungsmittel. Außerdem wagte ich auch kaum noch, den Mund zu öffnen und zu sprechen, denn ich hatte das Gefühl, wie ein hundertjähriger Greis auszusehen. Niedergeschlagen zog ich mich von den meisten Aktivitäten zurück.
Als ich nach längeren Gesprächen mit dem Abt schließlich wieder weitermachen wollte, traf mich der nächste Schlag. Beim Waschen am Morgen hatte ich ein ungutes Gefühl. Doch erst als ich mich abtrocknete, bemerkte ich, dass sich meine Haut großflächig schälte. Riesige Fetzen lösten sich und es sah schlimmer aus, als nach einem Sonnenbrand.
Ich war ratlos. Es musste doch irgendeine Ursache haben. Doch was sollte das sein? Ich lebte im gleichen Umfeld wie alle anderen. Nahm die gleiche Nahrung zu mir wie sie. Auch meine Tätigkeiten unterschieden sich nicht wesentlich von den ihren. Ich hatte früher schon von Skorbut gehört und gelesen, doch das konnte hier eigentlich nicht der Fall sein. Das Essen war frisch, Obst und Gemüse stellten einen Hauptteil der Nahrung dar und an Vitaminen mangelte es mir sicherlich nicht.
Das erste Mal, seit ich mich in dieser neuen Welt befand, keimten in mir Selbstmordgedanken auf. Doch nur sehr kurz, denn ich hatte hier schon zu viel gelernt und erlebt, um darin die Lösung meiner Probleme zu suchen. Doch was sollte nun werden? Ich horchte in mich hinein fragte: Was ist bloß mit dir los, Körper? Was fehlt dir? Was soll ich nur tun?
Das war es! Warum war ich denn noch nicht früher darauf gekommen? Ich war so sehr mit meinem Frust beschäftigt, dass ich das Naheliegendste gar nicht in Erwägung gezogen hatte! Ich hatte noch gar nicht daran gedacht, mit meinem Körper zu sprechen. Sicherlich konnte ich dadurch Näheres erfahren.
Doch jetzt und hier? Nein, es würde bestimmt länger dauern. Das Beste wäre vielleicht, wenn ich mir einen ruhigen Ort suchen und wieder so eine tiefe Meditation wählen würde wie im Winter.
Der Entschluss stand fest und ich suchte Wang Lee auf, um ihm diesen mitzuteilen. Er sollte sich nicht noch einmal Sorgen machen müssen. Gemeinsam suchten wir eine geeignete Stelle in den umliegenden Hügeln. In einer Entfernung von etwa einer halben Stunde, bei normalem Schritt, entdeckten wir an einem Südhang ein leicht überhängendes Felsstück. Es konnten bequem zwei sitzende Menschen in einer Vertiefung im Hang Platz finden. Der Fels hing so weit über, dass nur bei starkem Wind der Regen hereingetrieben werden konnte. Wenn die Sonne nicht von Wolken verdeckt wurde, würde sie mich fast den ganzen Tag bescheinen können. Es war ein idealer Platz, der auch viel Ruhe versprach, da sich hierher wahrscheinlich kaum einer verirren würde.
Da Wang Lee diesmal wusste, wo ich war und was ich vorhatte, machte er sich keine Sorgen. Er wünschte mir viel Erfolg bei meinem Vorhaben und versprach, jeden Tag nach mir zu schauen. Ich bedankte mich bei ihm, breitete die Decke aus, die ich mitgenommen hatte, und ließ mich nieder.
Durch die viele Übung gelang es mir relativ schnell, mich fallen zu lassen. Bald hatte ich wieder einen Zustand erreicht, in dem Zeit und Raum keine Rolle zu spielen schienen. Ich begann eine Reise durch meinen Körper und versuchte herauszufinden, was los war.
Nachdem ich schon eine Weile in diesem Zustand mit meinem Körper gesprochen hatte, verlor ich fast mein inneres Gleichgewicht bei dem, was ich erkannte. Nicht nur die Haut schälte sich und die Zähne hatte ich verloren, nein mein ganzer Körper veränderte sich. Alles war im Umbruch und bildete sich neu. Alle Zähne, auch die beiden, die mir schon vorher gefehlt hatten, bildeten sich neu. Jede einzelne Zelle meines Körpers wurde durch eine neue ersetzt. Es war wie in einer riesigen Baustelle. Nun wunderte ich mich auch nicht mehr, dass ich mich kaum noch zu etwas aufraffen konnte in letzter Zeit. Mein Körper brauchte einfach alle Kraft, um diese Aufgabe zu verwirklichen.
Erst wollte ich ergründen warum das so war, doch dann dachte ich mir, dass ich in diesem neuen Leben schon so viele Dinge erlebt hatte, die ich mir nicht erklären konnte, dass es nun darauf auch nicht mehr ankam.
Ich entschloss mich, durch tiefe Meditation meinen Körper so gut es ging zu unterstützen.
Dieser Herbstanfang erinnerte eher an den Hochsommer, und die wärmende Sonne gab mir am Tag genügend Energie für diese Aufgabe. Nachts strahlten die aufgeheizten Felswände noch lange Zeit angenehme Wärme ab und ich hatte das Gefühl, dass ich durch meinen meditativen Zustand große Fortschritte machte. Ich konnte vor meinem inneren Auge sehen, wie die neuen Zähne durchbrachen und zu normaler Größe heranwuchsen. Ich konnte sehen, wie jede Hautzelle sich neu bildete und auch die Augen erneuert wurden. Die Versuchung, diese zu öffnen, um zu schauen wie gut sie funktionierten, war groß, doch ich widerstand ihr und konzentrierte mich weiter auf meinen Körper.
Ich hatte in diesem Zustand wieder jeden Bezug zur Zeit verloren. Da aber schon fast zwanzig Tage vergangen waren, begann Wang Lee sich Sorgen zu machen. Bei einem seiner Besuche fragte er mich in Gedanken, ob es mir gut ginge und ob ich Hilfe brauchte. Ich war so tief in meiner Meditation versunken, dass ich es erst beim dritten Mal bewusst wahrnahm.
›Noch ein bisschen Wang Lee, nur noch ein wenig Zeit. Ich hab’s fast geschafft.‹
Da ihm klar war, dass er mich nur in meiner Konzentration störte, stellte er keine weiteren Fragen.

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