Dao

Kapitel 10 – Die Erkenntnis

Abschnitt 3

Das alles erfuhr ich aber erst später von meinen Freunden. Ich hatte in der Zwischenzeit, ohne große Probleme, meine innere Ruhe wieder gefunden. Erstaunt darüber, wie schnell das gelungen war, wurde mir klar, dass ich zwar Han Liang Tians Aufgabe noch nicht gelöst, doch schon andere wichtige Erkenntnisse gewonnen hatte. Ich konnte mittlerweile meinen Körper so gut beherrschen, dass ich auch der winterlichen Kälte ohne große Mühe trotzen konnte. Am Anfang hatte es mich nicht gerade wenig Kraft gekostet, doch nun ging es fast wie von selbst. Meine Gedanken zu sammeln und auf einen Punkt zu konzentrieren, gelang jetzt auch relativ schnell. Dazu hatte ich früher schon wesentlich größere Anstrengungen unternehmen müssen. Ich konnte nun nicht nur kleine Gegenstände mit der Kraft meiner Gedanken bewegen nein, ich war jetzt sogar in der Lage, andere mit der Kraft meines Geistes, meines Chi, von mir fernzuhalten. Die Gedanken anderer auf größere Entfernung wahrzunehmen und ihnen zu antworten, war mir auch gelungen. Eigentlich konnte ich mit dem, was ich bisher erreicht hatte, schon recht zufrieden sein, doch ich hoffte, dass ich auch die Aufgabe des Abtes noch lösen würde.
Ich versenkte mich wieder in eine tiefe, komaähnliche Meditation und so vergingen die Nacht, der nächste Tag und noch weitere vier Tage und Nächte. Da ich aber inzwischen jeden Bezug zur Zeit verloren hatte, war mir das gar nicht bewusst.
Wang Lee kam wieder einmal den Hang herauf, um nach mir zu sehen. Als er bei mir ankam, ging er mir gegenüber in die Hocke und schaute mich aufmerksam an.
Ich konnte seine Gedanken wahrnehmen. Sie waren nicht mehr so aufgeregt und beunruhigt wie bei seinen ersten Besuchen, doch andere Sorgen schienen ihn zu plagen.
›Ach, Gü Man, wenn ich doch bald wieder mit dir sprechen könnte. Du bist nun schon sieben Tage hier oben und ich vermisse dich sehr. Es gibt so vieles, was ich gerne mit dir besprechen würde!‹
Sieben Tage dachte ich. Bin ich wirklich schon so lange hier? Ich versuchte, mich an den Tag- und Nachtwechsel zu erinnern, um das zu überprüfen. Es stimmte wirklich, ich war nun tatsächlich schon so lange hier. Aber wie war das möglich, ich hatte während der ganzen Zeit nichts gegessen oder getrunken, hatte aber meine Körpertemperatur erhöht und der Witterung getrotzt. Das konnte nicht nur durch die Meditation möglich sein. Irgendwoher musste ich die Kraft dazu bekommen haben. Bei diesem Gedanken fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Ich hatte ja schon die Energie anderer Dinge genutzt! Der kleine Baum hatte mir nachts Kraft geschenkt. Ich hatte genau gespürt, dass er freiwillig einen Teil seiner Energie an mich weitergab, um mir zu helfen. Warum war mir das bloß nicht schon eher aufgefallen? Und am Tag hatte mir die Sonne Kraft gegeben. Ich hatte die Energie mit jedem Fetzen Haut, der von der Sonne beschienen wurde, aufgenommen. Selbst wenn Wolken sich vor die Sonne geschoben hatten, war es mir gelungen, noch etwas Energie aus dem Tageslicht zu ziehen. Ich konnte zwar nicht verstehen, wie das möglich war, doch seitdem ich hier war, hatte ich mir langsam abgewöhnt, alles wissenschaftlich erklären zu wollen.
Mir war nun bewusst geworden, dass ich bei der richtigen Konzentration und der Ausrichtung meiner Gedanken auf dieses Ziel in der Lage war, den Baum um Kraft zu bitten und sie von ihm zu nehmen. Ebenso konnte ich Energie von anderen Dingen nutzen. Die Sonne war ein besonders großer Kraftspender und ich bedankte mich bei ihr dafür.
Ich bedanke mich hier bei der Sonne und das ist doch nur ein Stern! Ich hab mich wirklich sehr verändert, seit ich hier bin! Bei diesem Gedanken öffnete ich die Augen und schaute blinzelnd in Wang Lees Gesicht. Da ich die Lider so lange geschlossen hatte, brauchte ich erst einmal eine Weile, bevor ich alles wieder richtig klar sehen konnte.
Doch Wang Lee hatte, obwohl er mich die ganze Zeit anstarrte noch gar nicht gemerkt, dass ich die Augen geöffnet hatte. Er war so sehr in seine Gedanken vertieft, dass ich ihn erst anreden musste, bevor er die Veränderung bemerkte.
›He, Wang Lee, ist doch gut, nun kannst du doch wieder mit mir sprechen.‹
Das kam so unerwartet, dass er zusammenfuhr.
›Huuh, du sprichst ja wieder!‹
Immer noch ganz verdattert starrte er mich an.
›Ganz ruhig Wang Lee, ich hab dir doch immer gesagt, dass es mir gut geht und ich nur noch Erkenntnisse suche. Nun gerade jetzt im Moment, eigentlich durch deine unbewusste Hilfe, habe ich sie gefunden.‹
›Was, wie, das versteh ich jetzt nicht!‹
›Macht nichts, ich werd’s dir noch in aller Ruhe erklären, doch jetzt möchte ich erst mal aufstehen. Ich hab beim Meditieren gar nicht gemerkt, wie mir eigentlich die Beine schmerzen von der so lange unveränderten Sitzposition. Hmmm.‹ Ich schüttelte den Kopf. ›Früher hätte ich das nicht mal zwei Stunden so ausgehalten ohne die Lage zu ändern.‹
Ich versuchte mich aufzurichten, aber alles war steif und ungelenkig. Ohne dass ich die Hände mit zu Hilfe nahm, würde es sicherlich nicht gehen.
›Hilf mir doch mal. Reich mir deine Hand und zieh mich mit hoch.‹
Das ließ sich Wang Lee nicht zweimal sagen. Sofort sprang er hoch und streckte mir die Hand entgegen. Mit einem üblen, knackenden Geräusch kam ich hoch, streckte und reckte mich und machte ein paar vorsichtige Schritte. Es ging, nach einer Weile fühlte ich mich wieder recht sicher auf den Beinen. Ich wandte mich noch einmal dem kleinen Bäumchen zu und beugte mich herab, sodass ich die Stelle berühren konnte, die ich die ganze Zeit umfasst hatte.
›Ich danke dir mein Freund! Dank für all die Kraft und Freundlichkeit, die du mir geschenkt hast.‹
Ich spürte eine Welle der Freude durch den Baum laufen und wusste, dass er mich verstanden hatte.
›Puuh, bin ich das, was hier so mieft? Huuh, ich glaub, ich brauche erst mal ’ne große Wäsche!‹
Ich wandte mich an Wang Lee.
›Würdest du mir bitte saubere Kleidung besorgen? Ich möchte mich erst einmal waschen, denn so kann ich jedenfalls nicht ins Kloster gehen. Da reißt ja jeder aus, dem ich näher als zehn Meter komme.‹
Wang Lee verschob seine Frage und machte sich ohne Kommentar auf den Weg. Er war froh, dass ich wieder mit ihm sprach und freute sich schon auf die kommenden Stunden und Tage.
Da ich immer noch recht steif in den Gelenken war, ging ich langsam und vorsichtig den Hang hinunter und dann zur Wasserstelle. Diese war bis auf den Zu- und Abfluss zugefroren. Mir blieb nichts weiter übrig, als eine dieser beiden Stellen zu nutzen. Der Abfluss schien mir am geeignetsten zu sein. Ich fühlte mich immer unwohler in den stinkenden Sachen und begann dort, meine Kleidung herunterzureißen. Die Körpertemperatur hatte ich noch nicht wieder abgesenkt, was mir jetzt sehr zugute kam. Nachdem ich eine passende Stelle gefunden hatte, stieg ich schnell ins Wasser und tauchte auch mit dem Kopf unter.
Durch den anhaltenden Frost floss das Wasser jetzt nicht ganz so stark wie sonst durchs Becken, und die eisfreie Stelle war recht klein, doch es reichte mir, um einige Male unterzutauchen. Dann stieg ich so weit heraus, dass ich nur noch bis zu den Knöcheln im Wasser auf einem großen Stein stand und begann mich zu waschen.
Als Wang Lee kam, brachte er auch das große Stück Tuch mit, das ich immer zum Abtrocknen nutzte. Das zeigte wieder einmal, wie gut er mich kannte und auf was er alles achtete. Ich bedankte mich sehr bei ihm, trocknete mich ab und fuhr in die frische Kleidung. Nun fühlte ich mich schon wesentlich wohler. Langsam kehrte auch meine Beweglichkeit zurück und ich stakste nun nicht mehr wie ein Storch durch den Salat.
Wang Lee hatte die ganze Zeit schweigend zugesehen und gewartet, bis ich fertig war, doch nun konnte er sich nicht mehr zurückhalten.
›Wie hast du das gemeint, als du gesagt hast, ich hätte dir bei der Lösung deines Problems geholfen?‹
›Ganz einfach, du hast in Gedanken zu mir gesagt, dass ich nun schon sieben Tage nicht mehr mit dir gesprochen habe. In dem Augenblick ist mir bewusst geworden, dass ich ja diese ganze Zeit da oben saß. Weder Wasser noch Nahrung habe ich in dieser Zeit zu mir genommen, dennoch mehr Energie benötigt, um die zusätzliche Wärme zu erzeugen, und ich fühlte mich auch noch genauso kräftig wie am ersten Tag. Diese Kraft musste ich ja irgendwoher bekommen haben. Als ich darüber nachdachte wurde mir klar, dass ich die ganze Zeit schon fremde Energie genutzt hatte. Tagsüber hat mir die Sonne Kraft gegeben und nachts der kleine Baum. Ich hätte das niemals für möglich gehalten, doch nun habe ich erkannt, dass wirklich alles um uns herum voller Kraft steckt und dass man das meiste auch verwenden kann. Es ist nur schwierig, den richtigen Weg zu finden. Mit Sicherheit wird es noch viel Übung erfordern, bis ich in der Lage sein werde, auch ohne Meditation an diese Energie heranzukommen. Aber ich habe jetzt erkannt, dass und wie es möglich ist.‹
›Du erstaunst mich immer wieder! Als du hier angekommen bist, hattest du von all diesen Dingen nicht die geringste Ahnung und nun überflügelst du uns alle. Ich kann mir nicht vorstellen, es dir gleichzutun.‹ Wang Lees Blick richtete sich nach innen und er überlegte noch einmal, ob er es sich zutrauen würde. ›Nein wirklich nicht! Es würde mir an vielem fehlen.‹
›Glaub ich nicht, mein Freund. Auch du könntest das, nur wollen musst du es, und von dir und der Richtigkeit deiner Gedanken überzeugt sein!‹
Er schüttelte den Kopf. ›Egal, wie dem auch sei, ich werde es vermutlich niemals ausprobieren.‹
Während dieses Gesprächs hatte ich meine übelriechende Kleidung ausgewaschen, doch da ich mit dem Ergebnis nicht zufrieden war, wiederholte ich es noch einmal. Wang Lee schaute mir zu, ging neben mir in die Hocke und sagte:
›Übrigens hat sich Han Liang Tian sehr gewundert, dass du ihm nicht verraten hast, dass du Tumo beherrschst.‹
›Dass ich was beherrsche?‹
›Tumo, dass du Tumo beherrschst, wundert ihn. Er musste uns erst einmal erklären, was das ist, denn wir hatten noch nie davon gehört.‹ Stockend setzte er hinzu. ›Du willst doch nicht sagen, dass du nicht weißt, was ich meine?‹
›Ja, genau das will ich sagen. Tumo, ich habe noch nie davon gehört. Was soll denn das sein?‹
›Vielleicht nennst du es bloß anders, auf jeden Fall hast du doch deine Körpertemperatur erhöht, um der Kälte zu trotzen. Und auch jetzt spüre ich noch die größere Wärme, die von dir ausgeht.‹
›Ach, das meinst du. Tja, dann kann ich dich und Han Liang Tian beruhigen, denn ich habe euch nichts verheimlicht. Bis zu dem Augenblick, in dem ich damit begonnen habe, hatte ich noch nie etwas in dieser Richtung getan. Ich hatte noch nicht einmal davon gehört. Da ich aber mittlerweile recht gut mit meinem eigenen Körper sprechen kann und das Gefühl hatte, dass es mit der Zeit vielleicht recht kalt werden würde, hab ich meinen Körper gebeten, einen Weg zu finden, um das zu verhindern. Ich hab mich darauf konzentriert mich selbst zu wärmen und vor der Kälte zu schützen.‹
Die Verwunderung stand Wang Lee ins Gesicht geschrieben. ›Das gibt’s doch nicht! Entschuldige, ich glaub dir schon, es ist bloß fast wie ein Wunder. Der Abt hat uns erzählt, was es damit auf sich hat und wie schwierig es ist, das zu erlernen. Und nun sagst du, du hättest das eben mal so nebenbei gemacht, ohne je davon gehört zu haben. Es gibt mit Sicherheit nicht viele die so sind wie du und es hat bestimmt einen besonderen Grund, dass Han Liang Tian den Auftrag bekommen hat dich auszubilden!‹
Ich winkte ab. ›Quatsch, ich bin doch nichts Besonderes. Das einzig Besondere ist meine Anwesenheit hier, da ich nicht die geringste Ahnung habe, wie das geschehen ist. Doch alles, was ich kann und hier erlernt habe, könnt ihr genauso gut und mit Sicherheit teilweise noch viel besser.‹ Ich schüttelte noch mal den Kopf. ›Nein, ich bin bestimmt nichts Besonderes. Und das mit dem Tumo, wie du es nennst, können doch auch noch andere, sonst würdet ihr doch nicht wissen, was es damit auf sich hat.‹
›Na klar können das noch andere, doch Han Liang Tian hat auch betont, wie schwierig es ist, das zu erlernen und wie gefährlich es ist, wenn ein Ungeübter Tumo ausführt.‹
Ich zuckte mit den Schultern. ›Dann hatte ich eben Glück oder besser gesagt, die richtige Eingebung, denn mir erschien es nicht sonderlich schwierig zu sein. Auch jetzt geschieht das eigentlich automatisch. Ich brauche mich nicht mehr darauf zu konzentrieren, mein Körper macht das einfach weiter und ich denke, da es recht angenehm ist und mich anscheinend nicht viel Kraft kostet, werde ich es den Winter über auch weiter so handhaben.‹
›Na, seh’n wir mal, was Han Liang Tian dazu sagt. Ich halte es jedenfalls für was Besonderes. Aber jetzt erzähl doch mal wie das war, diese ganze Zeit dort oben. Ich kann mir gar nicht vorstellen, so lange in Meditation versunken dazusitzen.‹
›Hmm, was soll ich dir da erzählen? Dass ich euch und eure Gedanken an mich mitbekommen habe, hast du ja bemerkt. Ansonsten war es … ich weiß auch nicht wie ich dir das erklären soll … Zeit und Raum hat einfach keine Rolle gespielt. Auch wenn ich nochmal so lange da gesessen hätte, wäre es nicht anders für mich gewesen. Nur steifer wäre ich vielleicht geworden.‹
Ich richtete mich auf, wobei meine Gelenke wieder leicht knackten, und roch an der ausgewaschenen Kleidung.
›Hmm, immer noch nicht ganz weg, aber den Rest müssen der Frost, die Sonne und die frische Luft machen.‹
Ich wrang mit Wang zusammen die Kleidung so gut es ging aus, und dann machten wir uns auf den Weg ins Kloster.
›Du wolltest mir doch was erzählen. Irgendwas hat dich doch sehr beschäftigt, als du zu mir gekommen bist.‹
›Ach so, das hatte ich jetzt fast schon vergessen. Während du da oben warst, hat sich im Kloster einiges getan. Du hast doch die Jungen mitbekommen, die mal oben bei dir waren?‹
›Ja, ist was mit ihnen? Sie haben doch hoffentlich keinen Ärger bekommen deswegen?‹
›Nein, nein, so ist das nicht. Aber drei von ihnen werden nun wahrscheinlich ins Klosterleben wechseln und du kannst dir ja vorstellen, dass das mit Sicherheit zu einem Konflikt mit Mao Lu Peng führen wird.‹
›Fang mal von vorne an. Ich kann dir jetzt nicht ganz folgen.‹
›Na ja, an dem Abend, als sie bei dir waren, hat sie Han Liang Tian mit ins Kloster genommen und ihnen einiges von uns und der Klostergeschichte erzählt. Da sie noch nichts darüber erfahren hatten und ihr Interesse geweckt war, hat ihnen Han Liang Tian angeboten, mal für einige Tage zu uns zu kommen. Er will damit erreichen, dass der Bereich draußen nicht mehr so abgekapselt von uns ist und dass am Ende vielleicht sogar wieder einige zu den Mönchen wechseln. Na gut, jedenfalls ist er am nächsten Morgen rausgegangen und hat bei den Meistern nachgefragt, ob er ein paar der Jungen bekommen könnte, die bei einigen wichtigen Arbeiten im Kloster mithelfen sollen. Den Fünfen hatte er gesagt, wenn sie das wollten, dann sollten sie sich etwas abseits zusammenhalten, damit er sie benennen könne. Sie haben das auch getan und nachdem die Meister zugestimmt hatten, hat er auf sie gezeigt und sie auch bekommen. Nun hat aber mindestens einer oder vielleicht auch zwei nur zugestimmt, weil sie sich ums Latrineausheben drücken wollten. Diese beiden sind gestern wieder zurück zu den anderen gegangen und werden vielleicht auch mehr erzählen als gut ist. Den anderen Dreien gefällt das Klosterleben aber viel besser und diese möchten nicht mehr zurück. Han Liang Tian hat es ihnen auch freigestellt zu bleiben. Die Meister haben es gar nicht gerne gesehen und befürchten, dass noch mehr davonlaufen. Zu allem Überfluss kam heute auch noch die Nachricht, dass Mao Lu Peng im Frühjahr wieder zurückkommt. Das wird mit Sicherheit viel Ärger geben.‹
›Hmm, sehr wahrscheinlich! Doch du wirst jetzt auch nichts mehr daran ändern und ich kann auch den Abt verstehen. Wir können einfach nur abwarten und sehen, was daraus wird.‹
›Leider. Doch schau, hier vorn läuft Han Liang Tian. Er wird sich freuen, dich zu sehen.‹
Während unseres Gesprächs hatten wir das Kloster erreicht und als wir eben durch das Tor schritten, sahen wir Han Liang Tian, der dem großen Tempel zustrebte. Als ob er unsere Blicke gespürt oder unsere Worte gehört hätte, blieb er stehen und sah sich zu uns um. Sein Gesicht hellte sich auf und er wartete, bis wir zu ihm herangekommen waren.
›Ich wollte gerade mal nach den Jungen sehen, doch nun möchte ich erst einmal mit dir sprechen, Gü Man. Schön, dass du wieder unter uns bist!‹
›Ich freue mich auch, dass ich eure Stimmen wieder höre.‹
›Wollen wir uns in den Tempel setzen und uns dort unterhalten oder hast du einen anderen Vorschlag?‹
›Hab ich in der Tat. Ich saß jetzt lange genug und möchte mich lieber bewegen. Da mir Wang Lee schon von den Jungen berichtet hat, würde ich dich gerne dorthin begleiten und dabei können wir uns ja auch unterhalten.‹
Zur Bestätigung, dass es ihm recht war, nickte Han Liang Tian und wir gingen im Schlenderschritt in Richtung des Klosterbereiches, in dem die Kinder untergebracht waren.
›Du hast sie also bei den Kindern untergebracht? Ich dachte, sie wären schon älter?‹
›Sie sind jetzt auch die ältesten dort. Doch was soll ich machen? So lange sind sie draußen noch nicht dabei gewesen und vom Leben hier drinnen haben sie noch ganz wenig Ahnung. Ich hoffe, dass Lei Cheng und seine Freunde ihnen das Einleben leichter machen und wenn sie vertrauter mit unserem Leben sind, können sie immer noch wechseln.‹ Er schaute mir in die Augen. ›Doch das ist jetzt erst mal Nebensache. Mich interessiert jetzt viel mehr, wie es dir geht.‹ Nachdem er mich dann kurz von oben bis unten gemustert hatte, fügte er noch hinzu: ›Anscheinend ganz gut. Ich muss ehrlich gestehen, dass ich das nicht ganz so erwartet hatte. Ich werde immer neugieriger auf deinen Bericht. Hast du denn gefunden oder erkannt, was du herausfinden wolltest?‹
›Ich denke schon, dass ich einen großen Schritt in die richtige Richtung gemacht habe. Das Grundprinzip habe ich nun verstanden, doch es in jedem Fall anzuwenden, wird mich sicherlich noch viel Übung kosten.‹
›Gut, sehr gut! Das musst du mir später mal noch näher erklären. Jetzt interessiert mich erst einmal, woher du Tumo kennst und so perfekt beherrschst.‹
Ich lachte kurz auf. ›Das hat mich Wang Lee auch schon gefragt. Doch bis er mir erzählt hat, dass das Tumo heißt, hatte ich noch nie davon gehört. Ich habe ihm auch schon gesagt, dass ich es einfach nur gemacht habe, ohne weiter darüber nachzudenken.‹
Han Liang Tian strich sich wieder einmal über seinen kahlgeschorenen Schädel.
›Du erstaunst mich immer wieder! Was andere mühsam erlernen müssen, legt Buddha dir einfach so in den Schoß. Ich sehe den Wandermönch noch vor mir, wie er, sein Jade-Amulett in der Hand, uns eindringlich davor warnte, uns ohne ausführliche Ausbildung an die Ausübung von Tumo zu wagen! Ich denke nun immer öfter, dass Buddha noch Großes mit dir vorhat, wenn er dich solche Dinge so schnell erlernen lässt.‹
Bei seinen letzten Worten hatte ich aufgehorcht. Angestrengt überlegte ich, was mich stutzig gemacht hatte und plötzlich durchzuckte mich ein Gedanke.
›Bin gleich wieder da!‹
Ich rannte los und holte das Amulett, das wir bei dem Einsiedler gefunden hatten, aus meinem Quartier. Ich hatte es seit unserer Rückkehr von Wudang bei den wenigen persönlichen Gegenständen, die ich hatte, aufbewahrt.
Als ich die anderen wieder erreicht hatte, zeigte ich es Han Liang Tian und fragte:
›War es dieses Amulett, das der Mönch in seiner Hand hatte?‹
Erstaunt nahm er es entgegen.
›Ja, das ist es. Wo hast du es her? Wo hast du es gefunden?‹
Wang Lee und ich tauschten einen Blick aus, und dann erzählten wir dem Abt von unserem Erlebnis in der Höhle des Wudang-Gebirges.
Traurig sah der Abt auf das Amulett und rieb es leicht zwischen den Fingern.
›Er hat es immer an einem Lederband ums Handgelenk getragen und oftmals, so wie ich jetzt, gerieben. Ich hatte gehofft, dass er in sein Kloster zurückgekehrt und es ihm gut ergangen sei, denn er war ein Buddha wohlgefälliger Mann. Oft schien er traurig zu sein und, in sich gekehrt, über etwas nachzugrübeln, doch wenn ich ihn darauf ansprach, ging er nicht darauf ein.‹
Er wollte mir das Amulett zurückgeben, doch ich bat ihn, da wir nun wussten, wem es gehört hatte, es lieber im Tempel aufzubewahren.
Nachdenklich setzten wir unseren Weg fort, doch nach einigen Schritten bat mich der Abt, über die letzten Tage Bericht zu erstatten.
Ich erläuterte ihm, was ich gefühlt und erkannt hatte und bat ihn, mir dann bei den weiteren Übungen zu helfen. Während des Gesprächs waren wir langsam bis zu den Kindern vorgedrungen. Da wir immer wieder einmal stehengeblieben waren, hatte es eine ganze Weile gedauert bis wir ankamen.
›Ich glaube nicht, dass du dazu meine Hilfe noch brauchst. Du hast das bis jetzt selbst erkannt und herausgefunden und dabei einen ganz anderen Weg genommen als ich. Nun solltest du auf diesem auch weitergehen, und ich wäre dir dabei sicherlich nur hinderlich.‹ Er schaute hoch. ›Aber nun sind wir da. Schau, dort ist Lei Cheng und auch die drei Neuen sind mit in der Gruppe, die dort trainiert.‹
Ich schaute in die angedeutete Richtung und konnte sie sofort erkennen. Sie waren die größten und ältesten unter den Jungs, doch anscheinend fügten sie sich gut in die Gruppe ein. Lei Cheng war ein stolzer und selbstbewusster Junge geworden, und ohne überheblich zu wirken, führte er die Schar der Kinder an. Langsam kamen wir näher und bald hatten sie uns bemerkt, doch keiner wagte es, deswegen aus der Reihe zu tanzen. Erst als der Mönch, der sie anleitete, uns bemerkte und die Übungen unterbrach, konnte Lei Cheng sich nicht mehr bremsen und kam zu mir gerannt.
›Hallo, Gü Man, was hast du so lange da draußen gemacht?‹
›Hallo, Lei Cheng. Ich habe nach Erkenntnissen gesucht dort draußen.‹
›Und hast du sie gefunden?‹
›Ich denke schon, mein neugieriger Freund.‹
Beschämt schaute er nach unten. ›Entschuldige, aber du warst so lange weg, und eigentlich wolltest du mir noch so viel berichten von der Reise, die du mit Wang Lee gemacht hast.‹
›Du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Für einen Jungen in deinem Alter ist Neugierde keine Schande. Sie wird dir sogar helfen, wichtige Dinge zu erfahren und zu lernen.‹
Auch der Abt lächelte ihn an und fragte: ›Und was machen unsere neuen Freunde?‹
›Ich denke, denen geht’s gut. Aber dort stehen sie. Sie sollten vielleicht selbst antworten.‹
Han Liang Tian winkte sie zu uns heran. Mich nicht aus den Augen lassend, kamen sie langsam zu uns.
›Nun, habt ihr euch schon ein wenig eingelebt und bereut eure Entscheidung auch nicht?‹
›Nein, wir bereuen sie nicht. Es gibt so vieles, was wir hier schon erfahren haben und was uns bei den anderen für immer verborgen geblieben wäre!‹
Sie hatten mich immer noch nicht aus den Augen gelassen.
›Nun, ich scheine ja mächtig interessant für euch zu sein! Ihr könnt ja gar nicht mehr wegschauen!‹
Verlegen blickten sie auf ihre Füße und nur der, der mich als zweiter hatte berühren wollen wagte es, mich anzusprechen.
›Tut uns leid, doch wir waren einmal dort, als Sie meditiert haben und nun sind wir einfach nur neugierig.‹
›Hab ich mir schon gedacht. Was wollt ihr denn wissen? Was beschäftigt euch denn so sehr?‹
›Na ja …‹, fing er an zu stottern. Aber als ihm Lei Cheng einen aufmunternden Blick zuwarf, nahm er allen Mut zusammen und fragte:
›Ich wollte Sie berühren, weil wir am Anfang dachten, Sie seien tot. Aber als ich näher rankam war es, als ob ich gegen eine weiche Wand stieße, und dann wurde ich irgendwie weggeschubst. Waren Sie das?‹
Um ihm die Scheu zu nehmen, lächelte ich ihn an. ›Ja, irgendwie schon, doch anders, als du das vielleicht denkst.‹
›Und wie?‹ Ich merkte, dass es ihm keine Ruhe ließ. Ich überlegte, wie ich ihm entgegenkommen könnte und fragte den Abt in Gedanken:
›Ob ich ihnen etwas zeigen darf?‹
›Mach nur, es ist nichts Geheimes. Jeder kann es wissen, doch die Wenigsten werden es beherrschen.‹
Ich nickte und schaute mich nach einem passenden Objekt um. Da kam mir ein Gedanke.
›Schaut dorthin!‹ Ich deutete auf den Schnee zu meinen Füßen. Dann streckte ich die Hände leicht nach vorn und tat so, als ob ich eine Handvoll davon zu einem Ball formen würde. Sie rissen die Augen auf, denn knapp über dem Boden formte sich wie von Geisterhand wirklich ein Schneeball. Als er fertig war, ahmte ich mit einer Hand die Bewegung nach, die ich gemacht hätte, um ihn hochzuheben. Dann führte ich mit der flach nach oben gerichteten Handfläche kreisende Bewegungen vor meinem Körper aus und der Schneeball begann, in der Luft zu kreisen. Nun schloss ich die Augen, und während ich die linke Handfläche nach vorn gestreckt hielt, als ob der Ball auf ihr liegen würde, zog ich die rechte Hand zurück, atmete tief ein und presste sie dann kraftvoll nach vorn. Dabei hatte ich die Handfläche senkrecht gestellt, die Finger leicht angewinkelt und presste die Luft mit einem leisen Geräusch aus den Lungen. Ohne dass ich den Schneeball berührt hatte, schnellte er in gerader Linie davon und zerbarst an der Wand eines etwa zehn Meter entfernten Gebäudes.
Die Jungs wichen einige Schritte zurück und starrten mich furchtsam an.
›Keine Angst, das hätte ich nicht mit euch gemacht. Ihr seid viel zu schwer dafür und ich hätte euch gar nicht bewegen können.‹
›Das glaube ich nicht, Gü Man. Du bist viel stärker geworden‹, hörte ich die Gedanken des Abtes.
›Ja, ich habe es gemerkt. Ich muss unbedingt daran arbeiten, diese Kräfte besser zu kontrollieren.‹, antwortete ich auf die gleiche Art.
Die Jungen hatten sich langsam beruhigt und kamen wieder näher.
›Wie haben Sie das gemacht?‹, fragte der Neue, mit dem ich vorher schon gesprochen hatte.
›Mit der Kraft meiner Gedanken, mit meinem Chi.‹
Ungläubig schauten sie mich an. Keiner von ihnen hatte jemals gehört, dass so etwas möglich sei. Vielleicht war ich ja auch ein Zauberer. Ein Fremder war ich ja ohnehin. Auch Lei Cheng sah mich scheu von der Seite her an. Er hatte geglaubt, mich zu kennen und nun hatte ich etwas getan, das sich keiner so recht erklären konnte.
›Du hast mir nie erzählt, dass du solche Fähigkeiten hast‹, sagte er vorsichtig.
Ich deutete auf den Abt und sagte: ›Ohne seine Erlaubnis hätte ich auch jetzt nichts davon preisgegeben. Doch nun ist es geschehen und ich bereue es fast, denn anscheinend habe ich euch Angst damit gemacht.‹
Diese Worte beruhigten sie wieder und Lei Cheng fragte:
›Gibt es noch mehr Menschen, die solche Kräfte haben?‹
›Ja‹, antwortete Han Liang Tian für mich. ›Hier im Kloster gibt es meines Wissens noch drei weitere Mönche, die diese Kräfte beherrschen. Vielleicht erlernt es der eine oder andere von euch auch einmal. Doch eins sollte euch klar sein. Es gehört sehr viel Übung, Konzentration und ein außergewöhnlich starkes Chi dazu. Bis ihr auch nur ansatzweise dazu in der Lage sein könnt, werden noch viele Jahre vergehen.‹
Noch drei weitere Mönche hatte er gesagt. Zwei kannte ich. Der erste war er selbst und der zweite war seit unserer Reise Wang Lee. Doch wer war wohl der dritte? Der alte Mönch, der bei Hu Kangs Heilung mit dabei gewesen war, hatte es sicherlich auch beherrscht, doch dieser war gestorben. Auf alle Fälle stellte derjenige seine Kraft nicht so zur Schau wie ich.
›Er hat offenbar ein besseres Urteilsvermögen als ich‹, dachte ich.
›Glaube nicht, dass du einen Fehler gemacht hast!‹, antwortete mir Han Liang Tian wiederum in Gedanken. ›Du hattest mich gefragt und ich wusste ungefähr, was du vorhattest. Du hast es mit meiner Zustimmung getan. Nur hat sich einiges bei dir verändert, du bist nicht nur viel stärker geworden, die Erkenntnisse scheinen dir auch nur so zuzufliegen. Und manchmal ist es vielleicht besser, wenn es nicht so schnell geht, da man es dann besser verarbeiten und einschätzen kann.‹
Seine Gedanken beruhigten mich wieder. Er lächelte und fügte noch hinzu:
›Schau sie dir an. Nun überlegt jeder, ob er das auch mal können wird. Sie werden danach streben und noch wissbegieriger und zielstrebiger lernen. Wichtig ist nur, dass auch ihr Geist mit ihrer Kraft wächst. Mönche wie er geben ihnen da das Richtige mit auf den Weg.‹ Bei diesen Gedanken hatte er mit den Augen auf den Mann gedeutet, der die Jungen anleitete. Als ich Han Liang Tians Blick folgte und in die Augen jenes Mönches blickte, wurde mit klar, dass er der dritte war. Die Kraft, die er ausstrahlte und der feste Blick sagten alles. Doch eines hatte er mir auf jeden Fall voraus und darin waren mir auch die anderen überlegen. Keiner von ihnen käme auf den Gedanken, mit dieser Kraft zu protzen. Ich hatte noch viel zu lernen, stellte ich fest.«

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