Dao

Kapitel 2 – Erwachen

Abschnitt 3

Die erste Nacht in meiner neuen Unterkunft schlief ich sehr unruhig. Das laute Zirpen der Grillen, die vor der Lichtöffnung meiner Mönchszelle ihr Nachtkonzert gaben, trug sicherlich genauso dazu bei wie die fehlende Möglichkeit, sich richtig zu reinigen und der pelzige Belag, den ich auf meinen Zähnen spürte, war mir mehr als nur unangenehm. Als das schwache Licht des beginnenden Tages in den Raum fiel, mischte sich das undeutliche Geräusch der aufstehenden Mönche mit meinen wilden Träumen. Müde und unausgeschlafen versuchte ich noch beides zu trennen, als auch schon mein junger Freund Wang Lee in der Tür stand. Er bedeutete mir, dass ich ihm folgen sollte. So schnell ich in meinem schlaftrunkenen Zustand konnte, zog ich mich an und folgte ihm dann in Richtung Haupttempel.
Auf dem Platz vor dem Tempel wurde ich nun wieder mit etwas konfrontiert, das ich schon aus dem Fernsehen oder anderen modernen Medien kannte und dennoch nicht eindeutig zuordnen konnte. Der Abt und einige andere ältere Mönche führten dort Übungen aus, die mich sehr an Tai Chi erinnerten und dennoch anders wirkten, als ich sie in Erinnerung hatte. Die gleichmäßigen und synchron ausgeführten Bewegungen sahen wundervoll kraftvoll, elegant und beruhigend aus. Mir fiel auf, dass einige dieser Mönche schon recht alt zu sein schienen und dennoch wirkten ihre Bewegungen jung und elegant.
Ich hatte einige dieser Männer am Vortag in ihrer zeremoniellen Mönchstracht gesehen, doch nun hatten sie auch diese locker sitzende, leichte, graublaue Kleidung angelegt, die auch alle anderen Bewohner dieses Klosters zu tragen schienen. Aber obwohl sie sich äußerlich nun nicht mehr von den anderen unterschieden, strahlte diese Gruppe etwas aus, das man mehr fühlte, als man es sah. Eine Aura der Ruhe und Kraft umgab sie und jedes Gesicht spiegelte inneren Frieden wieder. Besonders der Abt zog meinen Blick magisch an. Die Leichtigkeit, mit der er diese schwungvollen Bewegungen ausführte, schien im krassen Gegensatz zu seinem Alter zu stehen. Eine unbändige Kraft ging von ihm aus und man kam nicht umhin, diesem Mann Respekt zu zollen.
Als wir die Gruppe dieser Männer erreicht hatten, unterbrach der Abt seine Übungen und ging mit uns einige Schritte zur Seite. Er bedeutete den anderen fortzufahren, und nachdem er einige Worte mit meinem jungen Begleiter gesprochen hatte, gab er mir mit Worten und Zeichen zu verstehen, dass ich das, was er mir vorführte nachahmen sollte. Ich versuchte es, doch bei mir sah das bei Weitem nicht so leicht und elegant aus. Meine Bewegungen waren ungleichmäßig und eckig, sie kosteten mich zu viel Kraft und Schweiß, denn ich verstand meinen Körper noch nicht und konnte meinen Geist nicht freimachen.
Auch meine Atmung war den Bewegungen nicht angepasst und so kam es, dass ich mich mehr anstrengte als nötig war, und durch diese ungewohnte Betätigung meine Kraft schnell nachließ. Nachdem Wang Lee bemerkte, dass ich nicht von allein meine Fehler erkannte und korrigierte, unterbrach er, ermuntert durch ein Kopfnicken des Abtes, seine Übungen und versuchte mir begreiflich zu machen, was ich falsch machte. Er führte, auf dem linken Bein stehend, mit den Armen und dem rechten Bein, eine Bewegung zum Körper hin aus und atmete dabei ein. Anschließend verharrte er einen Augenblick in der erreichten Position und atmete dann bei der Bewegung vom Körper weg wieder aus. Er führte mir noch einige dieser Bewegungsabläufe vor und nahm dabei seinen Sprachunterricht wieder auf. Es gelang ihm, beides gut zu kombinieren und er brachte mir in diesem Zusammenspiel mit sichtlicher Freude Worte wie einatmen, ausatmen, Arm, Faust, Bein und Fuß bei.
Auf dem Gesicht des Abtes erschien ein herzliches Lächeln und nachdem er Wang Lee kurz in die Augen geschaut hatte, wurden dessen Wangen rot vor Verlegenheit. Anscheinend war dies ein großes Lob für den jungen Mönch und ich wollte dem Abt zeigen, dass er ein guter Lehrer war und gab mir besonders viel Mühe, ruhig und gleichmäßig im Einklang mit meinen Bewegungen zu atmen.
Nach einiger Zeit, meine Arme und Beine wurden langsam schwer von der ungewohnten Betätigung, ertönte ein Gong. Der Abt brach seine Übungen ab, nickte mir und Wang Lee zu, und ging, gefolgt von den anderen Mönchen, in den Tempel. Wang Lee forderte mich auf ihnen zu folgen, doch ich gab ihm zu verstehen, dass ich mich nicht wohl fühlte, so verschwitzt und ungewaschen wie ich war, und dass ich mich erst einmal reinigen wollte. Für einen kurzen Augenblick glaubte ich Enttäuschung und Unverständnis in seinen Augen zu sehen, doch freundlich und geduldig beschrieb er mir mit Gesten, dass außerhalb des Klosters ein Wasserlauf vom Gebirge herabkam, den ich zum Waschen nutzen konnte und so war ich mir am Ende nicht mehr sicher, ob ich mich nicht getäuscht hatte.
Nachdem Wang Lee den anderen schnell in den Tempel gefolgt war, ging ich in Richtung Klostereingang. Gleich außerhalb der Mauern fiel mir ein Trampelpfad auf, der in der Richtung verlief, die mir mein neuer Freund angedeutet hatte. Nachdem ich diesem eine Weile gefolgt war, hörte ich das Plätschern des Wassers, das sich seinen Weg durch den Fels bahnte. Der Pfad endete am oberen Teil eines Wasserbeckens, das ungefähr zehn Meter breit und fünfzehn Meter lang war. Ein kleiner Steg führte dort ins Wasser und endete direkt am Zufluss des Beckens. Der zirka einen Meter breite Bach stürzte an dieser Stelle etwa eineinhalb Meter hinab ins Wasserbecken. Das Wasser war sauber und kälter, als ich es bei diesen Umgebungstemperaturen erwartet hatte. Bald sollte ich auch erfahren, dass an dem kleinen Wasserfall das Trinkwasser geholt und am Rande des Steges die Wäsche gewaschen wurde.
Ich schaute mich kurz um, ob jemand in der Nähe sei und zog mich dann kurz entschlossen aus, um mich zu waschen. Dies gestaltete sich aber schwieriger, als ich gedacht hatte, da der Rand des Wasserbeckens fast an allen Stellen steil, zwei bis drei Meter bis zum Grund der Beckens abfiel. Doch in der Nähe des Abflusses fand ich eine Stelle, die wie eine Plattform in einem Meter Tiefe genügend Platz zum Stehen bot.
Ich stieg in das ungewohnt kalte Wasser und sofort zog sich meine Haut zusammen. Mir stockte kurz der Atem, doch der Drang mich zu reinigen war stärker als der Wunsch, das Wasser sofort wieder zu verlassen. In Ermangelung von Seife oder anderen Hilfsmitteln wusch ich mich lange und gründlich. Als ich aus dem Wasser stieg, bemerkte ich das nächste Problem. Ich hatte ja kein Handtuch, wie sollte ich mich jetzt abtrocknen? Ich streifte das Wasser so gut es ging mit meinen Händen von der Haut und ließ den Rest durch die Sonne trocknen. Aber das pelzige Gefühl und der seltsame Geschmack im Mund störten mich immer noch und ich überlegte, wie ich das beseitigen könnte. Beim Anblick eines Busches kam mir dann ein Gedanke. Ich brach einen kleinen saftigen Zweig ab, franste ein Ende aus und nutzte es wie eine Zahnbürste. Es war zwar langwierig, aber am Ende der Prozedur fühlten sich meine Zähne wieder glatt und sauber an. Nachdem ich mich dann angezogen hatte, fühlte ich mich sehr erfrischt und trat den Rückweg ins Kloster an.
Als ich den Tempelvorhof erreichte bemerkte ich, dass sich die Mönche anscheinend immer noch im Haupttempel aufhielten und vorsichtig, um nicht zu stören, ging ich hinein. Langsam und leise ließ ich mich in der Nähe des Eingangs nieder und schaute mich aufmerksam um. Im selben Moment wusste ich, dass ich nicht so unbemerkt geblieben war, wie ich gedacht hatte. Als ich nach vorn sah, blickte ich direkt in die freundlichen Augen des Abtes, und bei einem Blick zur Seite konnte ich, nicht weit entfernt von mir, Wang Lee sehen. Das Lächeln auf seinem Gesicht zeigte mir, dass er mich ebenfalls bemerkt hatte.
Ich schloss die Augen und versuchte, mich so zu entspannen, wie es mir am Vorabend gelungen war, doch es brauchte einige Zeit, bis meine aufgewühlten Gedanken wieder zur Ruhe kamen. Es dauerte nicht lange und ich war wieder bei dem Gedanken angekommen, der mich im Moment am meisten beschäftigte.
Warum, weshalb und wie war ich hierhergekommen?
Bald merkte ich, dass meine Gedanken wieder so durcheinander wirbelten wie am Vorabend. Ich zwang mich zur inneren Ruhe, öffnete die Augen und schaute auf die betenden Mönche. Es war schon bewundernswert wie diese Menschen in sich und ihrem Glauben ruhten. Warum konnte das bei mir nicht so sein, warum war mein Glaube so schwach und oberflächlich?
Langsam versuchte ich, die Verbindung zu Gott wieder aufzubauen, denn eins war für mich sicher, es gab oder gibt den einen Gott! Wie er aussieht, wo er ist oder in welcher Form er existiert, das war unwichtig, nur seine Gegenwart und die Verbindung zu ihm zählten. Diese Erkenntnis brachte mich so sehr zur Ruhe, dass ich beinahe nicht bemerkt hätte, dass die Gebete der Mönche verstummt waren und sich einer nach dem anderen erhob.
Als ich die Augen öffnete und aufstand, sah ich in das lächelnde Gesicht des Abtes. Unbemerkt von mir, war er mit Wang Lee herangetreten. Er musterte mich, befühlte meine Arme und stieß leicht mit seinen Fingern in meinen Bauch. Ich war nicht darauf vorbereitet gewesen und krümmte mich nach dieser leichten Berührung. Nachdenklich betrachtete mich der Abt einen Augenblick und wechselte dann einige Worte mit Wang Lee. Dieser nickte zustimmend und forderte mich dann auf ihm zu folgen. Er führte mich zu dem Platz, der neben den Unterkünften lag und auf dem die Mönche schon wieder trainierten. Etwas abseits von den anderen begannen wir mit einem Krafttraining, das meine Arme, Bauch- und Brustmuskulatur stärken sollte. Er machte mir verschiedenes vor, ließ es mich dann nachmachen und immer dann, wenn ich aufhören wollte, weil ich dachte es ginge nicht mehr, musste ich noch so lange weitermachen, bis es wirklich nicht mehr ging. Auch wies er mich immer wieder darauf hin, dass meine Atemtechnik nicht gut war und dass das richtige Atmen sehr wichtig sei. Bei all diesen Übungen nahm er auch noch seinen Chinesisch-Unterricht wieder auf, doch nur in den kurzen Pausen, in denen er mir die nächste Übung vorführte.
Nach einiger Zeit, ich war völlig durchgeschwitzt und bei einigen Bewegungen hinderte mich meine zu enge Hose, ging er mit mir zu meiner Schlafstelle und hielt mir die Kleidung hin, die noch vom Vortag im Zimmer lag. Als ich nicht gleich zugriff, zeigte er mir, dass ich so ausgestattet viel mehr Bewegungsfreiheit hätte und auch nicht so schnell schwitzen würde. Das waren Vorteile, die mich überzeugten und ich begann mich umzuziehen. Beim Binden der Bänder, die Schuhe und Strümpfe hielten, hatte ich Probleme und erst durch die Hilfe Wang Lees bekam ich das in den Griff.
Nach dieser kurzen Unterbrechung setzten wir das Training fort und ich war fast am Ende meiner Kraft, als um die Mittagszeit wieder ein Gong ertönte. Auf dem Weg in einen Teil des Klosters, den ich bisher noch nicht kannte, begann mein Magen gewaltig zu knurren, denn ich hatte seit dem Vortag nur Wasser zu mir genommen und nach den Anstrengungen des Vormittages hatte ich wirklich Hunger.
Wir erreichten die ‚Küche‘, die mich sehr an die des Lokals erinnerte, in dem wir am Vortag gegessen hatten. Sie war nur um einiges größer, da ja auch mehr Menschen zu versorgen waren, aber ansonsten fast gleich ausgestattet. Auch die Katzen, die sich in der Nähe aufhielten, um etwas abzustauben, fehlten nicht.
Es gab wieder Reis mit einer Gemüsesoße, aber keinerlei Fleisch und wie ich später erfuhr, ernährten sich die Mönche aufgrund ihres Glaubens rein vegetarisch. Der Kampf mit den Stäbchen, den ich am Vortag aufgenommen hatte, setzte sich an diesem Tag fort. Doch Wang Lee half mir sehr, den Umgang mit den Essstäbchen zu erlernen. Ich hatte schon einiges gegessen, als es in meinem Bauch zu rumoren begann. Anscheinend vertrug ich diese ungewohnte Nahrung doch noch nicht so recht. Aber der Hunger war groß und ich aß alles, was ich bekommen konnte.
Nach dem Essen begaben sich die Mönche wieder in den Tempel, um zu beten. Ich folgte ihnen, dankbar für die Ruhepause und versuchte mich zu entspannen. Nach einer Weile schlug das ungewohnte Essen wieder durch. Doch wohin sollte ich gehen, ich hatte bis jetzt noch keine Toiletten bemerkt. Schnell begab ich mich vor die Klostermauern und einige Meter seitlich in einen kleinen Wald. Dort scharrte ich mit einem Ast ein kleines Loch, das ich nach meiner Notdurft wieder mit Erde überdeckte. Erleichtert aber immer noch mit Bauchweh ging ich zu der Kochstelle und versuchte dem Koch, der eben seine Mahlzeit zu sich nahm, begreiflich zu machen, dass ich gerne so einen Tee hätte, wie ihn mir Wang Lee am Vortag gebracht hatte. Es dauerte recht lange, bis er mich verstand, doch dann bereitete er mir den gleichen Tee zu. Die Wirkung war wieder überwältigend und ich bedankte mich sehr beim Koch. Dieser schien sich über den Dank und das Lob sehr zu freuen, lächelte mich freundlich an und bedeutete mir, dass ich jederzeit zu ihm kommen könne, wenn ich etwas benötigte.
Da ich mich nun wieder besser fühlte, ging ich zurück zum Tempel und kam gerade zu der Zeit dort an, als die Mönche ihre Andacht beendeten. Wang Lee schien mich schon gesucht zu haben, denn sein Gesicht hellte sich auf, als er mich kommen sah. Freundlich winkte er mich zu sich heran und erkundigte sich, mit vielen Gesten und Umschreibungen, wo ich gewesen sei. Ich schilderte ihm mein Problem und versuchte ihm begreiflich zu machen, dass ich beim nächsten Mal gerne die Toilette aufsuchen würde. Nach einer Weile hatte er mich verstanden und führte mich wieder in den Wald außerhalb des Klosters. Nach einer kurzen Strecke sagte mir schon der Geruch, dass wir uns der gesuchten Stelle näherten. Als wir dann zu der Stelle kamen, überlegte ich mir doch, ob ich es nicht auf meine Weise weiter praktizieren sollte. Wir hatten eine längliche Grube erreicht, in die anscheinend alle Klosterbewohner ihre Notdurft verrichteten. Am Rand der Grube war ein Querholz zum Festhalten angebracht und Schwärme von Fliegen und anderen Insekten sorgten mit Sicherheit dafür, dass man sich beeilte. Wie ich später erfuhr, wurde von Zeit zu Zeit die bestehende Grube zugeschüttet und eine neue angelegt. Der Gedanke diesen Ort zu nutzen widerstrebte mir, doch wie hatte ein Offizier während meiner Wehrdienstzeit einmal zu mir gesagt: ›Der Mensch ist ein Gewohnheitstier und du wirst staunen, an was man sich alles gewöhnen kann!‹
Nach dieser Exkursion fuhren wir mit unserem Krafttraining fort, aber wir merkten immer mehr, dass es mit meiner Ausdauer und meinem Lungenvolumen nicht sehr gut aussah.
Außerdem begann ich auch noch darüber nachzugrübeln, warum ich mir das überhaupt antat und schlagartig ließ meine Leistung noch mehr nach. Wang Lee versuchte, mich wieder zu motivieren, doch so recht gelang ihm das nicht und schließlich wusste er sich nicht mehr anders zu helfen und ging mit mir zum Abt.
Nachdem wir ihn in einem kleinen Seitenraum des Haupttempels, wo er damit beschäftigt war eine Schriftrolle mit seltsamen chinesischen Schriftzeichen zu beschreiben, gefunden hatten, schilderte Wang Lee ihm das Problem. Der Abt nickte und schaute mich an, als ob er nichts anderes erwartet hätte. Dann winkte er mich zu sich heran, forderte mich zum Setzen auf und nahm meine Hände in die seinen. Sofort spürte ich wieder diese unheimliche Energie, die von ihm ausging. Nachdem ich dann dem Drang nachgegeben hatte, meine Augen zu schließen und mich nicht mehr dagegen sperrte, dass der Abt auf diese Weise mit mir kommunizierte, hatte ich das Gefühl, dass wir trotz unserer unterschiedlichen Sprachen miteinander reden könnten.
Zu dieser Zeit konnte ich noch nicht sagen wie das funktionierte, doch es funktionierte genauso gut, oder vielleicht sogar besser, als wenn wir miteinander gesprochen hätten. Nachdem ich die Augen wieder geöffnet und in das lächelnde Gesicht des Abtes geschaut hatte, war ich bereit, alles von ihnen zu lernen, was sie mir beibringen konnten.
So begann meine Lehrzeit im Kloster und die folgenden Tage und Wochen hatten fast immer den gleichen Ablauf. Im Morgengrauen, gleich nach dem Aufstehen, ging ich mit Wang Lee zum Abt und führte dort mit ihm die morgendlichen Übungen durch. Ich nannte das für mich Tai Chi, obwohl es doch einige Unterschiede gab. Auch hatte ich es mir zur Angewohnheit gemacht, gleich danach, während die Mönche ihre Morgenandacht hielten, etwas zu joggen, um meine Ausdauer und Beinmuskulatur zu stärken. Am ersten Tag kam ich nicht weit. Nach drei bis vierhundert Metern verließ mich die Kraft. Doch nachdem ich diesen Stand zwei Tage gehalten hatte, lief ich am dritten Tag einige Meter weiter und als ich dachte, es ginge nicht mehr setzte ich noch ein Stück hinzu. Das führte ich so fort bis ich es geschafft hatte, fünf bis sechs Kilometer am Stück zu laufen. Das war das Pensum, das ich mir selbst auferlegte und bis auf wenige Ausnahmen täglich absolvierte. Nur die Geschwindigkeit oder die Strecke änderte ich ab und zu.
Nach dem Joggen ging ich immer zu dem Wasserbecken, an dem ich meine erste Morgentoilette gemacht hatte. Bald fiel es mir auch nicht mehr schwer, in dem kalten Wasser unterzutauchen und ein wenig zu schwimmen. Diese Körperreinigung, die ich oft auch abends durchführte, tat mir sehr gut, wurde aber von den Mönchen, die das nicht kannten, leise belächelt.
Fast immer schaffte ich es, kurz vor oder am Ende der Morgenandacht, ins Kloster zurückzukommen, um dann mit Wang Lee weiter zu trainieren. Die wenigen Male, die ich später kam, fand ich ihn dann immer schon auf dem großen Platz vor den Unterkünften. Ich baute mir auch bald einige Hilfsmittel, fürs Krafttraining. Sie hatten zwar keinerlei Ähnlichkeit mit den Geräten, die in modernen Fitnessstudios genutzt werden, aber ähnliche Funktionen. Wang Lee und einige andere Mönche nutzten sie gerne mit, denn sie erleichterten einiges.
Die ungewohnte körperliche Betätigung ging nicht spurlos an mir vorüber. Nach den ersten Tagen tat mir jede Körperstelle weh und wenn ich morgens aufstand, musste ich mich zu jeder Bewegung zwingen, da mich schon beim Aufrichten der Muskelkater im Bauch schmerzte. Die ersten Schritte stakste ich steif wie ein Storch durchs Gelände und Wang Lee hatte oft Grund zum Lachen. Erst bei den Tai Chi-Übungen wurden meine Bewegungen langsam wieder geschmeidig und ich merkte auch, dass der Abt manche Übungen bevorzugte, die die Muskeln wieder entkrampften. Es vergingen aber einige Wochen, bis sich mein Körper auf die neue, ungewohnte Betätigung eingestellt hatte.
Nach einiger Zeit vertrug ich auch das Essen besser. Mein Magen hatte sich langsam an die fremde Kost gewöhnt. Mit den Essstäbchen konnte ich auch immer besser umgehen und Wang Lees Chinesisch-Unterricht zeigte erste Früchte.
An der Mittagsandacht der Mönche nahm ich nach einiger Zeit gern und regelmäßig teil. Zum einen verschaffte es mir die Möglichkeit mich auszuruhen und Kraft für das Nachmittagstraining zu schöpfen und zum anderen war es eine gute Möglichkeit, um zur Ruhe zu kommen, zu meditieren und Geist und Körper zu vereinigen. Der Abt, mit dem ich oft in den Abendstunden beisammen saß, lehrte mich auch, dass nur ein gesunder und entspannter Geist zu außergewöhnlichen Leistungen fähig ist. Ich erkannte, dass die Meditation ein gutes Mittel ist, um den Körper dazu anzuspornen. Die Einstellung zum Körper und zum Leben trägt wesentlich zum Wohlbefinden bei. Wenn der Geist sagt, ich bin schön, gesund und stark, dann strahlt das der Körper, das Gesicht auch aus. Er vermittelte mir, dass es nicht darauf ankommt, stark zu sein und gut kämpfen zu können, sondern dass es wichtig ist, welche Einstellung ich zum Leben, zum Kämpfen, zur Gerechtigkeit habe. Er zeigte und bewies mir, dass es durchaus möglich ist, schwächer und dem anderen unterlegen zu sein und dennoch so viel Kraft und Überlegenheit auszustrahlen, dass der Gegner ohne Worte und Aktion eingeschüchtert wird und jede Konfrontation vermeidet.
Doch vorerst hatte ich damit zu tun, meine Gedanken zu ordnen, zur Ruhe zu kommen und mich nur auf das Wesentliche zu konzentrieren. Die Zeit, in der ich aufgewachsen und in die ich hineingewachsen war, war so angefüllt von Reizen und äußeren Einflüssen, dass der Geist eigentlich gar nicht mehr zur Ruhe gekommen war.
Es war kein Wunder, dass es so viele Menschen mit Schlafstörungen gab, dass so viele Menschen hektisch, nervös und überreizt waren. Wie oft hatte ich es selbst gemacht oder bei anderen gesehen, dass mehrere Dinge auf einmal oder nebeneinander abliefen. Schon als Jugendlicher hatte ich bei den Hausaufgaben laut Musik gehört, durch das geöffnete Fester die Nebengeräusche von der Straße, Gespräche der Passanten oder Familienmitglieder gehört und doch keines von alledem richtig oder einprägsam wahrgenommen.
Wie oft hatte ich gesehen, dass jemand ein Buch las, den Fernseher anhatte und einen Film anschaute und doch keines von beiden richtig verstand. Oder dass beim Zusammensein mit Freunden der Fernseher lief und sich dann der eine oder andere wunderte, wenn man unaufmerksam beim Gespräch war oder einen Einwurf weit weg vom Thema machte.
Dasselbe galt für Bücher und Filme. Wenn ich einen Film bewusst anschaute oder ein Buch bewusst las, ohne mich durch etwas anderes stören oder beeinflussen zu lassen, nahm ich Kleinigkeiten wahr, die mir sonst oft entgangen waren und die mir zum Verständnis des Ganzen oftmals fehlten. Wenn ich mir am Ende des Filmes oder Buches dann noch die Zeit nahm, mit geschlossenen Augen über bestimmte Stellen nachzudenken, fielen mir dann manchmal noch Kleinigkeiten auf, die ich vorher gar nicht wahrgenommen hatte.
Zu diesen Erkenntnissen gelangte ich in den Zeiten der Meditation. Ich brachte meinen Körper und Geist zur Ruhe und lernte bewusst zu leben. Mit der Zeit ordnete ich meine Gedanken, lernte aus meinen Fehlern und verstand es, gute Dinge bewusst wahrzunehmen und zu leben.
Doch es gab auch Momente, in denen ich an meine Familie und mein dummes Verhalten, das zum Tod meiner Lieben beigetragen hatte, dachte. Am Anfang zerbrach ich dann fast immer an diesen Erinnerungen und die Selbstvorwürfe wollten kein Ende nehmen. Doch irgendwann verstand ich, dass ich das Geschehene doch nicht mehr ändern konnte und nun das Beste aus meinem jetzigen Leben machen musste. Vielleicht sollte das so sein, vielleicht hatte auch alles einen tieferen Sinn und das Geschehene trug zu etwas Wesentlichem und Wichtigem bei. Vielleicht waren diese Gedanken auch Ausflüchte und Wunschvorstellungen, aber sie halfen mir sehr, meinem Leben wieder einen Sinn zu geben. Doch es dauerte lange, bis ich mein Gleichgewicht gefunden hatte und auch mit diesen Erinnerungen umgehen konnte.
Mithilfe des Trainings, das bis auf die wenigen Pausen fast den ganzen Tag und sieben Tage in der Woche andauerte, lernte ich langsam meinen Körper kennen und verstehen. Mit der Zeit stählte sich mein Körper und ich lernte Muskeln, wenn sie schmerzten oder überanstrengt waren, zu schonen, die Anstrengung auf andere oder mehrere Körperpartien zu verteilen oder es durch Geschwindigkeit wettzumachen. Da das Training jeden Tag durchgeführt wurde, und in der jetzigen warmen Jahreszeit nur an den wenigen ganz heißen Tagen nachmittags durch Meditation und Andacht im kühlen Tempel ersetzt wurde, machte ich auch gute Fortschritte. So kam es, dass ich schon nach einigen Wochen die ersten Kampf- und Bewegungstechniken erlernte. Doch um einen Trainingskampf selbst mit einem der jüngsten und schwächsten Mönche auch nur annähernd zu bestehen, musste noch viel Zeit vergehen.
Am Anfang fiel es mir noch schwer, meine Ungeduld zu bezähmen und ich wollte rasche Fortschritte sehen. Irgendwann fiel aber die Hektik und Unruhe meines bisherigen Lebens von mir ab und ich wurde ruhiger und gelassener. Ich lernte, dass man vieles mit Ruhe ertragen konnte, wenn man bereit war, es als gegeben und unumgänglich hinzunehmen.
Eines Tages erkannte ich auch, dass der kahlgeschorene Kopf der Mönche nicht nur rituelle Bedeutung hatte, sondern dass es auch einen rein praktischen Hintergrund gab. Der ständige Juckreiz auf dem Kopf war belastend und beim Kratzen bemerkte ich, dass ich Läuse hatte. Als ich das Wang Lee mitteilte, machte dieser mir klar, dass es besser wäre, wenn ich mir den Kopf kahlrasieren lassen und die andere Körperbehaarung kurz halten würde. Auf diese Weise wurde ich diese Plagegeister wieder los und ich fühlte mich nicht einmal unwohl, da alle um mich herum so aussahen.«

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