Dao

Kapitel 13 – Schlechte Nachrichten

Abschnitt 1

»Chen Shi Mal setzte Han Liang Tian von seinem Entschluss in Kenntnis und dieser war nun beruhigter, da ich die Reise nicht allein durchführen würde. Er unterstützte die Entscheidung von Chen Shi Mal voll und stattete uns mit ausreichenden Reisemitteln aus. So machten wir uns am nächsten Morgen in aller Frühe auf den Weg. Nur wenigen war unser Ziel bekannt und das sollte auch so bleiben.
Obwohl ich mich ein-, zweimal in der Richtung geirrt hatte und wir deswegen einige Umwege machten, erreichten wir nach zweiunddreißig Tagen unser Ziel. So wie ich bei meinem ersten Besuch, war Chen Shi Mal begeistert von dem Anblick, den die Klosteranlage bot. Langsam wanderten wir den Berg hinauf und ich zeigte und erklärte Chen Shi Mal viele Dinge, die mir bekannt waren. Ich fühlte mich gleich wieder sehr wohl in dieser Umgebung. Es war fast mehr Heimat für mich geworden als Shaolin. Hier hatte ich nur Freundlichkeit kennengelernt. Keiner hatte mich schief angesehen. Der Abt des Klosters hatte, auch wenn sich seine Glaubensrichtung sehr von der in Shaolin unterschied, in vielen Punkten große Ähnlichkeit mit Han Liang Tian. Vielleicht war das auch ein Grund, warum es mich wieder hierher gezogen hatte.
Freundlich wurden wir von Tiang Li Yang aufgenommen und er bat uns gleich am ersten Abend, seine Gäste zu sein. Wir nahmen diese Einladung gerne an und überließen ihn den übrigen Tag seinen Aufgaben. Den Rest dieses ersten Tages überbrückte ich damit, Chen Shi Mal herumzuführen. Ich zeigte ihm alles Wichtige und führte ihn an Orte, mit denen ich besondere Erinnerungen verband. Unter anderem kamen wir auch an die Stelle, wo es mir zum ersten Mal gelungen war, nur mit der Kraft meines Geistes etwas zu bewegen.
Gedankenverloren setzte ich mich hin. Chen Shi Mal hatte sich ebenfalls niedergelassen und beobachtete mich.
›Was verbindest du mit diesen Ort hier? Es scheint eine große und gute Erinnerung zu sein.‹
›Woher weißt du das? Womit habe ich mich verraten?‹
›Ach, das war mehr oder weniger geraten, doch ich kenne dich nun schon recht gut und als du dich hierher gesetzt hast, konnte man sehen, dass es nur gute Erinnerungen sind, die dich mit diesem Ort verbinden. Überhaupt habe ich den Eindruck, dass es dich glücklich macht wieder hier zu sein.‹
›Ja, du hast recht. Es sind gute Erinnerungen, die ich mit Wudang verbinde und vor allem dieser Ort hier weckt solche Erinnerungen. Hier ist es mir zum ersten Mal gelungen, mit der Kraft meines Chi etwas zu bewegen.‹
›Du meinst, so wie den Schneeball, den du bei den Kindern geformt und weggeschossen hast?‹
Ich schaute ihn erstaunt an. Er war doch gar nicht mit dabei gewesen! Woher wusste er davon? Wieder erriet er meine Gedanken.
›Denkst du, das spricht sich nicht herum? Gerade, wenn es Kinder sehen, ist es doch kaum möglich solche Ereignisse zu verheimlichen. Du hast sie damals sehr beeindruckt und nun streben sie alle danach, diese Kräfte auch einmal zu beherrschen.‹
›Das lag nicht in meiner Absicht und ich habe es im Nachhinein auch bereut, dass ich irgendwie damit angegeben habe. Doch leider war es geschehen und ich konnte es nicht mehr rückgängig machen. Seitdem habe ich mich bemüht, diese Kräfte nur dann zu trainieren, wenn mich keiner sehen konnte.‹
›Ich glaube nicht, dass du dir Vorwürfe machen musst. Du bist, gerade bei dem Konflikt mit Mao Lu Peng, immer mit gutem Beispiel vorangegangen. Du hast ihnen gesagt, dass man eine große Verantwortung hat, wenn man solche Kräfte beherrscht und lebst es ihnen auch vor. Außerdem haben sie sehr gute Lehrer. Vor allem Wang Lee ist einer, der sie auf den richtigen Weg bringen kann.‹
›Ja, das stimmt! Wang Lee war auch mir immer ein guter Lehrer!‹
Chen Shi Mal lachte kurz auf. ›Ja, und nun ist es umgekehrt, der einstige Lehrer könnte nun vom Schüler lernen, so wie ich jetzt von dir lernen kann.‹
Erstaunt hob ich die Augen.
›Das sehe ich aber anders. Ich denke nicht, dass ich meine Lehrzeit schon beendet habe. Gut, ich kann vielleicht das eine oder andere mittlerweile besser als andere, doch dafür habe ich von vielen anderen Dingen noch keinen blassen Schimmer. Es gibt noch so vieles was ich lernen muss und auch lernen möchte. Dass ich das Kämpfen nun schon recht gut beherrsche heißt doch nicht, dass alles andere genauso mitgewachsen ist. Gerade was die Beherrschung von Geist und Körper, vor allen Dingen aber meiner Emotionen angeht, da stehe ich doch noch am Anfang. Meine großen Vorbilder sind da Han Liang Tian und Tiang Li Yang. Sie ruhen in sich und schöpfen große Kraft daraus. Wenn mir das eines Tages auch mal gelingen sollte, dann bin ich einen großen Schritt weitergekommen.‹
›Du bist nie mit dem zufrieden, was du erreicht hast. Siehst immer nur das, was noch fehlt oder vielleicht noch verbesserungswürdig wäre. Vielleicht macht das einen guten Schüler aus, aber vielleicht ist es auch übertrieben. Ich denke, du machst dir das Leben nur unnötig schwer.‹
›Kann ja sein, dass du recht hast, doch du hast vorhin gesagt, ich könnte nun in manchen Dingen euer Lehrer sein. Aber wie könnte ich mir das anmaßen, wenn ich mit meinen eigenen Leistungen bei Weitem noch nicht zufrieden bin. Ich mache selbst noch so viel falsch, verhalte mich so, wie ich es im Grunde genommen gar nicht möchte und kurze Zeit später auch sehr bereue. Wie sollte ich da andere unterweisen? Sie würden doch vielleicht nur meine Fehler lernen.‹
›Wenn du so denkst, darfst du es auch niemals tun. Glaubst du wirklich, dass auch nur einer, der andere unterrichtet, fehlerfrei ist? Glaubst du wirklich, dass diese Menschen über allem stehen? Träum weiter, Xu Shen Po, träum weiter! Auch das sind nur Menschen mit ihren Fehlern. Jeder von ihnen hat seine ganz persönlichen Eigenheiten, doch die meisten haben gelernt, es gut zu verbergen oder mit besseren Eigenschaften aufzuwiegen. Auch Han Liang Tian ist nicht fehlerfrei, was er dir auch selbst jederzeit bestätigen wird. Doch er hat nun schon viele Jahre gelebt und aus den vielen Fehlern, die er gemacht hat, gelernt. Und genau das macht einen guten Schüler und auch Lehrer aus! Wenn man aus seinen Fehlern lernt und es beim nächsten Mal besser macht, hat man auch das Recht, andere zu unterrichten und seine Erfahrungen weiterzugeben.‹
Wieder einmal hatte ich einen Menschen falsch eingeschätzt. Chen Shi Mal war mehr als er zeigte. In ihm steckte ein großer Geist und ich konnte froh sein, ihn zu meinen Freunden zu zählen.
Seine Worte beschäftigten mich sehr. Ich gab ihm im Grunde genommen auch recht, doch es war auch nicht immer einfach, aus den Fehlern zu lernen und es dann anders zu machen. Manches steckt so tief in uns und unseren Gewohnheiten, dass viel Beherrschung und geistige Reife erforderlich ist, diese Gewohnheiten zu durchbrechen. Ich maßte mir nicht an, das schon erreicht zu haben, doch ich arbeitete daran. Vielleicht würde es mir ja eines Tages gelingen.
Es wurde schon langsam dunkel. Weshalb wir uns auch sehr beeilen mussten, um nicht zu spät zur Verabredung mit Tiang Li Yang zu kommen. Eilig brachten wir unsere Bündel in das Quartier, das er uns zugewiesen hatte, und wuschen uns den Staub der Reise ab. Anschließend begaben wir uns zur Wohnung des Abtes. Dort wurden wir aufs herzlichste begrüßt.
Nach einem sehr guten Mahl gingen wir ins Freie und tauschten Neuigkeiten aus.
Ein sternenklarer Himmel empfing uns. Der Mond, der fast seine volle Größe erreicht hatte, spendete genügend Licht, um ohne zu stolpern den Klosterberg hinabzuwandern. Es versprach eine recht kalte Nacht zu werden. In diesem Moment war es bestimmt schon um die null Grad, doch das störte keinen von uns. Wir genossen einfach nur die wunderbar frische Luft.
Tiang Li Yang fragte uns nach den neuesten Ereignissen von Shaolin aus. Aufmerksam hörte er sich unseren Bericht an. Besonders erfreut war er, als Chen Shi Mal berichtete, dass ich in den Meisterstand erhoben worden war. Auch die Schilderungen über meine Fortschritte fesselten ihn sehr.
›Es ist sehr interessant, was ihr zu berichten habt und du hast jetzt einen neuen Namen, Gü Man?‹
›Ja, sie rufen mich jetzt Xu Shen Po, doch ich habe mich immer noch nicht richtig daran gewöhnt.‹
›Xu Shen Po? Ja, eine schnelle Auffassungsgabe hast du, das stimmt!‹ Er nickte mir freundlich zu. ›Und Wang Lee ist also auch in den Meisterstand erhoben worden? Das freut mich für ihn. Er hat einen Charakter mit großer Ausstrahlung und die Jungen, die er nun unterrichtet, werden sicherlich von seiner ruhigen, freundlichen Art profitieren.‹
Schweigend schauten wir in den Abendhimmel, bis ich nach einiger Zeit Tiang Li Yang nach den neuesten Ereignissen in Wudang fragte. Doch in diesem Kloster schien alles seinen gewohnten Gang zu gehen. Es gab keine außergewöhnlichen Dinge zu berichten. Das alltägliche Klosterleben umhüllte dessen Bewohner wie eine schützende Schale. So konnten sie in sich und ihrem Glauben ruhen. Ich wünschte mir, auch so leben zu können.
Vielleicht wäre es ja das Beste für mich, wenn ich hierbliebe? Dieser Gedanke durchschoss mich wie ein Blitzstrahl, und er ließ mich nicht mehr los, solange wir in Wudang weilten.

Die nun folgenden Tage und Wochen brachten meine aufgewühlte Seele wieder zur Ruhe. Langsam fand ich das innere Gleichgewicht wieder, das ich durch die letzten Ereignisse in Shaolin verloren hatte. Die Stunden der Meditation und des Trainings mit dem Abt taten mir sehr gut, weshalb auch der Entschluss, in Wudang zu bleiben, immer konkretere Formen annahm. Ich sprach mit Chen Shi Mal darüber, doch dieser wollte nichts davon hören. Er versuchte mich zu überzeugen, spätestens im Frühjahr wieder mit ihm nach Shaolin zurückzukehren.
An einem sehr kalten und schneereichen Wintertag waren wir wieder einmal in ein solches Gespräch vertieft. Chen Shi Mal versuchte mit allen Mitteln mir meinen Entschluss auszureden, als der Abt zu uns trat. In seinen Augen konnte ich sehen, dass Schlimmes geschehen war. Auch Chen Shi Mal spürte das sofort.
›Was ist?‹, fragte ich aufgeregt.
›Kommt mit. Ein Bote aus Shaolin ist angekommen und bringt Nachrichten für euch.‹
›Was für welche? Keine guten, oder?‹
›Er wird es euch selbst sagen. Er hat auch einen Brief von Wang Lee mitgebracht.‹
Meine innere Unruhe wuchs. Einen Boten mitten im Winter zu uns zu schicken war ungewöhnlich. Irgendetwas musste geschehen sein, das keinen Aufschub duldete. Eilig strebten wir dem Quartier des Abtes entgegen, in dem sich der Bote aufwärmte. Tiang Li Yang führte uns in die Küche. Dort sahen wir Liu Shi Meng in Decken gehüllt am warmen Herd sitzen. Die Frau des Abtes reichte ihm gerade eine Schale dampfenden Tees und zog sich dann sofort zurück, um uns nicht zu stören.
Zitternd wollte sich Liu Shi Meng erheben, um uns zu begrüßen, doch ich trat schnell die wenigen Schritte bis zu ihm heran und drückte ihn wieder herunter.
›Bleib sitzen Liu Shi Meng, bleib sitzen! Du brauchst die Wärme des Herdes jetzt. Die Nachrichten kannst du uns auch so erzählen.‹
Ich schaute in seine Augen. Sofort hatte ich das Gefühl, dass er nicht nur wegen des kalten Winterwetters so mit den Zähnen klapperte. Sein Gesicht drückte unendliche Trauer und sogar ein wenig Furcht aus. Das war ich von diesem selbstbewussten Mönch nicht gewöhnt. Mein Gefühl, sehr schlechte Nachrichten zu erhalten, verstärkte sich.
›Nun red schon! Es muss Außergewöhnliches geschehen sein, wenn du mitten im Winter diese lange Reise antrittst!‹
Schweigend zog er aus seinem Gewand ein Schreiben und überreichte es mir. Es war von Wang Lee. Hastig faltete ich es auseinander.
Bei jedem Wort, das ich dann las, wurden meine Arme schwerer. Fassungslos sah ich von Liu Shi Meng zu Chen Shi Mal. Dieser blickte mich fragend an, und ohne ein Wort zu sagen reichte ich ihm das Pergament. Auch ihm ging es nicht anders, und erst nach einigen Minuten war ich fähig Liu Shi Meng zu fragen:
›Wann ist das geschehen?‹
›Zwei Tage bevor ich Shaolin verlassen habe, ist Han Liang Tian für immer eingeschlafen. Bis zu euch habe ich zweiundvierzig Tage gebraucht. Der anhaltende Schneefall hat mich am schnellen Vorankommen gehindert und auch zu einigen ungewollten Pausen gezwungen‹, antwortete er mit zitternder Stimme.
›So lange schon‹, sagte ich traurig und senkte den Kopf. ›Wisst ihr woran er gestorben ist?‹
Liu Shi Meng schaute mich an.
›Es ging sehr schnell. Nur drei Tage nach den ersten Anzeichen von Schwäche ist er von uns gegangen. Er war am Ende so schwach, dass er nicht einmal ohne Hilfe Nahrung zu sich zu nehmen konnte.‹
›Aber warum? Was hat ihm denn gefehlt? Als wir gegangen sind, war er doch noch vollkommen in Ordnung. Er hatte zwar immer wieder einmal gesagt, dass er nun das Alter langsam spüre, doch ich hatte nicht das Gefühl, dass er sich dem Ende nahe fühlte.‹
›Das hatte keiner von uns. Erst als er bei der Morgenandacht plötzlich zusammengebrochen ist, haben wir gemerkt, dass es ihn nicht gut geht. Alle sind ihm sofort zu Hilfe geeilt, doch keine Medizin konnte ihm mehr helfen. Auch alle anderen Versuche, ihn von dieser Krankheit oder Schwäche zu befreien, schlugen fehl.‹
Die Erinnerung an diese Tage drückten Liu Shi Meng sichtlich aufs Gemüt und es dauerte eine Weile, bevor er fortfuhr:
›Wang Lee und Hu Kang haben nichts unversucht gelassen, um ihm zu helfen, doch alle Versuche, ihm Kraft zur Selbstheilung zu geben schlugen fehl. In einem der wenigen Augenblicke, in denen er noch fähig war zu sprechen, hat er dann einmal gesagt: ‚Lasst mich sterben, es ist Zeit für mich zu gehen.‘ Wang Lee wollte es nicht akzeptieren, doch Hu Kang hat ihn dann überzeugt, dass es besser wäre, wenn er den Willen des Abtes respektierte.‹

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