Dao

Kapitel 14 – Die Gesandtschaft

Abschnitt 4

Benommen öffnete die junge Frau die Augen. Es dauerte eine Weile, bevor sie sich bewusst gemacht hatte, was los war. Immer noch in den Gedanken und Bildern gefangen, die soeben in sie eingedrungen waren, schaute sie sich langsam um.
Der Mann, der neben ihr gesessen hatte und von dem sie diese Gedanken empfangen hatte, war aufgesprungen und schaute forschend in den Abgrund. Um sie herum war es immer noch trüb und regnerisch. Der Blick war begrenzt und sie konnte nichts wahrnehmen, was die Aufmerksamkeit des Mannes hervorgerufen haben konnte. Sie horchte und strengte sich an, um herauszufinden, was ihn dazu veranlasst hatte aufzuspringen, doch sie konnte nichts erkennen.
Viel Zeit war anscheinend inzwischen vergangen, denn die Sonne hatte sich dem Horizont schon weit genähert. Das seltsame Wolkenfenster, das kurz nach Erscheinen des Mannes aufgerissen war, hatte sich verändert. Es war länger geworden, so als hätte die Sonne auf ihrer Bahn, die Wolken aufgerissen. Dieser Riss in der dicken Wolkendecke war nur wenig breiter als die Sonnenscheibe, und begann sich jetzt langsam zu schließen.
Immer noch verwirrt von den vielen Eindrücken und kaum fähig den Mund zu öffnen, sprach sie ihn an:
»Was ist? Warum haben Sie aufgehört?«
Langsam, immer noch mit einem Ohr in die Ferne lauschend, drehte sich der Mann um.
»Ich muss Sie verlassen! Ich kann Ihnen die Geschichte jetzt leider nicht zu Ende erzählen!«
Er wollte sich umdrehen und gehen, doch nun richtete sich die junge Frau schnell auf.
»Halt, das können Sie doch nicht machen. Sie wollten mir etwas erzählen, das mich vom Selbstmord abhält, doch bis jetzt war es zwar eine spannende Geschichte, aber ich konnte nichts erkennen, was meine Absichten ändern sollte.«
Langsam drehte er sich um und schaute ihr in die Augen.
»Es tut mir leid. Ich habe mich gehen lassen und die Geschichte zu ausführlich erzählt. Wenn es möglich wäre, würde ich Ihnen auch gerne noch den Rest erzählen, doch nun muss ich leider schnell von hier verschwinden.«
»Warum denn nur? Was ist denn auf einmal mit Ihnen?«
»Ich kann Ihnen das auf die Schnelle jetzt nicht erklären! Hören Sie, ich denke, Sie haben erst einmal genug gehört, um viel Stoff zum Nachdenken zu haben. Vielleicht war auch das eine oder andere dabei, das Ihnen hilft, Ihr vergangenes Leben in einem anderen Licht zu sehen, doch eins sollten Sie auf alle Fälle wissen: Sie sind der erste Mensch, der diese Geschichte gehört hat.«
»Gehört ist gut«, sagte sie nachdenklich, »ich hatte eher das Gefühl, dabei gewesen zu sein. Es war, als hätte ich sie miterlebt, noch viel intensiver als in einem guten Film. Auch jetzt noch kann ich Bilder dieses Geschehens hervorrufen, als hätte ich sie selbst erlebt.«
»Es wird mit der Zeit verblassen. Vieles werden Sie vergessen und das Wenige, das Ihnen im Gedächtnis bleiben wird, werden Sie nach einiger Zeit nur noch wie eine gehörte Erzählung in Erinnerung behalten.«
Nervös schaute sich der Mann wieder um und horchte in die Ferne. Auch die Frau strengte sich an, doch sie konnte nichts wahrnehmen.
»Was ist auf einmal los mit Ihnen? Warum sind Sie so nervös?«
»Ich hab’s Ihnen doch schon gesagt. Ich muss weg und kann’s Ihnen nicht so schnell erklären.«
Sie stand auf und stellte sich ihm in den Weg.
»So kommen Sie mir nicht davon! Erst will ich wissen, was weiter geschehen ist! Was ist aus Xu Shen Po und aus den Japanern geworden? Was ist nach diesem Kampf geschehen?«
Er sah ihr in die Augen, überlegte einen Moment, ging zum Abgrund und lauschte noch einmal hinunter.
»Also gut. Hören Sie, nur noch eine kurze Zusammenfassung.« Er schloss die Augen und sammelte sich kurz. –»Also, nach dem Kampf bedankte sich der japanische Fürst bei uns. Es war ihm bewusst, dass er und seine Begleiter uns das Leben verdankten. Außer den vier Japanern, die bis zum Schluss gekämpft hatten, hatten noch weitere sechs diesen Angriff schwerverletzt überlebt. Den, den wir unterwegs gefunden hatten, eingerechnet. In einem kleinen Bergdorf, das nur sechs Häuser oder besser gesagt Hütten hatte, wurden die Verwundeten soweit gesund gepflegt, dass sie, von Pferden getragen, die Heimreise antreten konnten. Wang Lee und ich blieben bei ihnen und pflegten sie so gut es ging. Chen Shi Mal und Liu Shi Meng holten Hilfe aus dem Kloster. Es waren nur einige wenige vertrauenswürdige Mönche, von denen niemals einer etwas über diese Angelegenheit erzählte. Sie brachten Pferde, Nahrungsmittel und andere Dinge für die Pflege der Verwundeten mit. Es wurden zwei kleine Hütten zur Unterbringung errichtet. Diese wurden dann den Bergbauern überlassen. Auch einige andere, für sie sehr wertvolle Geschenke bekamen die Bergbauern. Man nahm ihnen allerdings das Versprechen ab, für immer über diesen Vorfall zu schweigen. Bei den toten Chinesen, die den Überfall begangen hatten, waren einige dabei gewesen, die den Mönchen bekannt vorkamen. Es wurde vermutet, dass es Soldaten gewesen waren, die von Mao Lu Peng und seinen Meistern ausgebildet worden waren, doch man konnte ihm nichts beweisen. Offiziell war es eine Räuberbande gewesen. Keiner außer denen, die an der Rettung und Pflege der Japaner beteiligt waren, erfuhr meines Wissens von dieser Angelegenheit. Was später in dieser Richtung geschah kann ich nicht sagen, doch die Japaner verzichteten auf meinen Ratschlag hin auf eine offizielle Beschwerde beim chinesischen Kaiser und verließen dann, sobald es möglich war, das Land. Der japanische Fürst bot mir aus Dankbarkeit an, ihn nach Japan zu begleiten, was ich nach kurzem Zögern auch annahm. Die toten Japaner wurden mit buddhistischen Bräuchen in den Bergen bestattet. Ebenso wurden die toten Chinesen, die den Überfall begangen hatten, ohne große Zeremonie verscharrt. Unter ihnen war der Führer gewesen, der die Gesandtschaft in die Berge gelockt hatte und zu dieser Bande gehörte. Die Mönche kehrten wieder in ihr Kloster zurück und es trat wieder Ruhe und Frieden in diesen Bergen ein.« Der Mann öffnete die Augen, überlegte kurz, schüttelte den Kopf und sagte abschließend: »Ich denke, das war alles. Und jetzt muss ich wirklich los!«
Er schob sie sanft zur Seite, drängte sich an ihr vorbei und verschwand hinter dem vorspringenden Felsgrat. Verblüfft und für einen Augenblick unfähig sich zu bewegen, stand die junge Frau da. Die Wolkendecke hatte sich wieder geschlossen und der feine Regen durchnässte wieder ihre Kleidung. Kleine Tropfen perlten von ihren Haaren und der Nase. Nachdenklich schaute sie zum Himmel. Es war, als wäre es niemals anders gewesen. Alles um sie herum war grau, dunkel und triefte nur so vor Nässe.
Hatte sie alles nur geträumt? War nichts von dem, was sie soeben glaubte erlebt zu haben, wirklich geschehen? Langsam begann sie an allem zu zweifeln, doch in ihrem Kopf waren Bilder dieser Geschichte, so deutlich und konkret wie kaum eine andere Erinnerung. Sie war unschlüssig und wusste nicht so recht, was sie nun tun sollte, doch dann entschloss sie sich dem Mann nachzulaufen. Aber als sie um den Felsgrat herumgegangen war, sah sie weit und breit nichts von diesem seltsamen Mann. Alles schien unberührt, nass und einsam zu sein. Zögernd begann sie den Abstieg. Die Selbstmordgedanken waren erst einmal verschwunden und nur die Neugier trieb sie den Weg hinunter. Doch je weiter sie nach unten kam und nichts von dem Mann sah, umso mehr zweifelte sie an dem soeben Erlebten. Sie wurde immer langsamer und schließlich blieb sie stehen.
Es war vielleicht doch nur ein Traum gewesen. Ihre Sinne hatten ihr einen Streich gespielt und sie zum Narren gehalten.
So stand sie nun da im Regen und wusste nicht, was sie tun sollte. Ihr altes Leben wollte sie nicht mehr, wie sie ein neues anfangen sollte, wusste sie nicht und Angst, so einfach wieder unter die Leute zu gehen, hatte sie auch noch.
Oh, warum muss nur alles so kompliziert sein! dachte sie und fuhr im gleichen Moment zusammen.
Bisher war außer dem Plätschern des Regenwassers nichts zu hören gewesen, doch jetzt vernahm sie plötzlich Stimmen. Den Berg hinauf kamen Leute und unterhielten sich aufgeregt. Einer von ihnen war besonders erregt und widersprach den anderen ständig, doch sie konnte noch nicht so recht verstehen, um was es ging. Aber bevor sie das Streitgespräch verfolgen konnte, kamen die vier Männer, die mit Geräten bepackt den Berg hinauf strebten, in Sichtweite. Als sie die Frau erblickten, stockte kurz ihr Schritt, doch dann liefen sie ihr umso schneller entgegen. Schon in größerer Entfernung rief der eine:
»Haben Sie es auch gesehen? Sind sie auch deswegen hier rauf gestiegen?«
Verständnislos schaute sie ihn an. »Was gesehen? Ich versteh Sie nicht. Was, meinen Sie, soll ich gesehen haben?«
Nun war er es, der sie erstaunt ansah. »Das seltsame Wolkenfenster! Diesen unnatürlichen Riss in den Wolken, wegen dem wir hier sind! Sie müssen es doch auch gesehen haben! Eigentlich dürfte es hier oben doch gar nicht geregnet haben.« Also war es doch kein Traum gewesen und der seltsame Mann hatte vielleicht doch existiert. Oder hing das alles vielleicht zusammen? Doch was sollte sie den Männern nun antworten? Irgendetwas in ihr sagte: Sag die Wahrheit! Doch nicht zu viel und nichts über den Fremden.
»Ach so, das meinen Sie. Ja, das hab ich auch gesehen, doch als ich loslief, ist es zugegangen.« Es war ja keine Lüge, sagte sie sich, denn als sie oben losgelaufen war, war es ja wirklich zugegangen.
»Also sind Sie auch zu spät gekommen. Es ist zum Verzweifeln! Zuerst haben wir’s nicht bemerkt, und als uns dann andere darauf aufmerksam gemacht haben, haben wir zu lange gebraucht, um hierher zu kommen.« Missmutig setzte er sein Gepäck ab. »Aber Sie kommen von weiter oben. Waren Sie weit oben? War es da oben nass, oder vielleicht trocken?«
Aufgeregt schaute er sie an.
»Seh ich so aus, als würde ich aus dem Trockenen kommen?«, stellte sie ausweichend eine Gegenfrage.
Er schaute sie forschend an, schüttelte den Kopf und sagte:
»Nein, wirklich nicht! Es ist zum Verrücktwerden, da ist schon mal so ein einmaliges Wetterphänomen in unserer näheren Umgebung und dann kommt man auch noch zu spät. Was machen wir denn nur? Gehen wir weiter und schauen uns oben um, oder fahren wir wieder zurück?«
»Du wolltest doch die ganze Zeit weitergehen, und jetzt fragst du uns, ob wir umkehren wollen? Dir ist wirklich nicht mehr zu helfen!«
»Entschuldigen Sie!«, sagte die junge Frau und versuchte sich an ihnen vorbei zu drängen. »Entschuldigen Sie bitte, ich bin patschnass und möchte nur noch nach Hause und mich aufwärmen! Wenn Sie mich bitte durchlassen würden.«
»Ja, ja, natürlich.« Sie machten Platz auf dem schmalen Steig und ließen sie vorbei. Dabei diskutierten sie heftig weiter und konnten sich nicht so recht entscheiden, was sie nun tun sollten.
Froh, dass sie so davongekommen war, ging die junge Frau schnell weiter. Sie hatte keine Lust, noch einmal auf diese Sache angesprochen zu werden, doch nun war sie sich eigentlich sicher, dass sie nicht nur phantasiert hatte. Aber ihre Neugier war auch wieder geweckt und sie hätte zu gerne noch einmal mit diesem Mann gesprochen, um den Rest der Geschichte zu hören.
Auf einmal wurde ein Gedanke in ihr immer lauter:
Du hast die Geschichte gehört und gesehen. Du hast, am Anfang der Geschichte, auch von Orten gehört und Orte gesehen, die du kennst. Dort wirst du ihn finden.
Sie rief sich diese Erinnerungen noch einmal ins Gedächtnis und richtig, wie ein Blitz durchzuckte sie die Erkenntnis. Sie war schon einmal dort gewesen, in dem Ort, in dem diese Geschichte begann.
Glücklich über dieses Wissen rannte sie den Rest des Berges hinunter und zu ihrem im Tal geparkten Auto.

Ende des ersten Bandes

Wie es weiter geht, erfahrt ihr in Band 2 und Band 3. Da ich im Moment aber noch kein großes Feedback bekommen habe, ob das kostenlose Angebot hier Zuspruch findet, werde ich noch etwas warten, bis ich Band 2 zum kostenlosen Lesen einstelle.

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