Dao

Kapitel 1 – Verzweiflung

Abschnitt 2

Währenddessen hatte mir der Polizist begreiflich gemacht, dass er am Telefon keine weiteren Auskünfte geben würde. Wie gelähmt bemerkte ich erst nach einer ganzen Weile, dass das Gespräch schon beendet war. Gedankenverloren legte ich den Hörer auf und suchte nach dem Autoschlüssel. Ich zog die Jacke an, klopfte die Taschen ab, sah dann den Schlüssel neben dem Telefon liegen, zog die Jacke wieder aus, nahm den Schlüssel, machte einige Schritte in Richtung Tür, bemerkte, dass ich nur im Hemd war und drehte brummend wieder um. Als ich in den zweiten Ärmel fuhr, verhedderte ich mich im Futter. Meine Sekretärin half mir und sagte:
›Wäre es nicht besser, wenn ich Sie fahre oder einen anderen Mitarbeiter damit beauftrage?‹
Wider besseres Wissen lehnte ich ab.
›Geht schon wieder. Danke für das Angebot, aber Sie werden hier gebraucht. Bitte sagen Sie alle weiteren Termine für heute ab‹, ich stockte kurz, ›und, vielleicht auch für morgen. Sagen Sie einfach … ach, Sie machen das schon, Frau Wagner. Danke!‹
Ihr zunickend verließ ich das Büro.
Die Fahrt nach Sonneberg verlief wie im Traum. Nur einmal fuhr ich zusammen und kehrte für einige Augenblicke in meine Umwelt zurück. Lautes Hupen und das Quietschen blockierender Reifen auf dem Asphalt rissen mich aus meinen Gedanken. Ich hatte einem anderen PKW die Vorfahrt genommen. Schimpfend und gestikulierend kam der Fahrer dieses Autos zum Stehen. Ich konnte noch sehen, wie seine Beifahrerin mit schreckensstarrem Blick die Hände vors Gesicht schlug. Als mir klar wurde, dass ich ein Stopschild überfahren hatte, trat ich kurz auf die Bremse, doch da kein Schaden entstanden war, gab ich gleich wieder Gas. Durch diese Schrecksekunden fuhr ich eine Weile aufmerksamer weiter, doch lange hielt das nicht an. Als ich dann endlich vor dem Krankenhaus einen freien Parkplatz gefunden hatte, sprang ich aus dem Auto und lief hastig zum Empfang.
›Hallo, meine Frau und meine Kinder hatte einen Unfall und sollen gerade hier eingeliefert worden sein, können Sie mir sagen, wo ich sie finde?‹
Der Mann am Schalter lächelte und sagte: ›Guten Tag. Wenn Sie mir Ihren Namen oder den Ihrer Frau verraten, kann ich Ihnen vielleicht helfen.‹
›Entschuldigung. Ich heiße Kaufmann und die Polizei hat mich vor Kurzem angerufen und mir gesagt, dass meine Frau einen schweren Verkehrsunfall hatte und hierher gebracht worden ist.‹
Er tippte den Namen in seinen Computer ein und schüttelte dann bedauernd den Kopf.
›Ich habe hier noch keine Information über eine Frau Kaufmann! Im Moment haben wir gar keine Patienten mit dem Namen Kaufmann in Behandlung. Aber wenn sie eben erst eingeliefert worden sind, könnte es sein, dass ihre Daten noch gar nicht aufgenommen sind. Gehen Sie doch bitte in die Notaufnahme und fragen Sie dort nach.‹
Ich ließ mir den Weg beschreiben und erkundigte ich mich dann dort noch einmal nach meiner Familie.
Es war nicht das, was die Schwester sagte, sondern wie sie es sagte und mich dabei anschaute, was mich so unruhig machte. Sie bat mich, kurz Platz zu nehmen und ging, um jemanden zu holen, der mir Auskunft geben konnte.
Wenig später betrat ein älterer, Vertrauen einflößender Arzt den Raum und forderte mich auf, ihm in sein Büro zu folgen. Als ich dort Platz genommen hatte, setzte er sich mir gegenüber, stützte seine Ellenbogen auf den Schreibtisch vor sich und faltete die Hände vorm Gesicht.
Ich werde diese Augenblicke nie vergessen und es hat sich jede Einzelheit tief in mein Gedächtnis eingebrannt, aber noch wusste ich nicht, dass sich dadurch mein ganzes Leben ändern würde.
Es waren nur Sekunden bis er anfing zu sprechen und doch nahm ich in dieser kurzen Zeit jede Einzelheit an und um ihn herum wahr.
Wir saßen in einem kleinen, hellen, freundlichen Büro. Einige gut gepflegte Pflanzen auf dem Fensterstock verliehen dem Raum ein angenehmes Klima. Der Schreibtisch war ordentlich aufgeräumt und es lag nur das Notwendigste darauf. Die Anordnung des Computerbildschirms, der Tastatur und der Maus waren sinnvoll gewählt, sodass auch bei einem Gespräch wie diesem nichts störte. Es drangen kaum Geräusche von außen herein und man hätte in den Augenblicken, bevor er anfing zu sprechen, eine Stecknadel fallen hören können. Der Arzt saß leicht nach vorn gebeugt an seinem Schreibtisch, hatte den Kopf ein wenig gesenkt und schaute über seine Brille hinweg in meine Augen. Nachdenklich oder nervös rieb er, mit den gefalteten Händen, die Handballen und Daumen aneinander. Langsam richtete er sich auf und fing an zu sprechen: ›Herr Kaufmann, als Ihre Frau hier eintraf …‹
Dieses Gespräch fiel ihm sichtlich schwer und das flaue Gefühl in meiner Magengegend verstärkte sich. Mit weit aufgerissenen Augen und schwer atmend hing ich an seinen Lippen.
›… als sie hier eintraf, konnten wir leider nichts mehr für sie tun. Sie hat bei dem Unfall schwere, auch schwere innere Verletzungen erlitten. Der Notarzt hat alles Menschenmögliche versucht, um sie am Leben zu erhalten und auch wir haben hier versucht sie zu reanimieren, aber es war leider nicht mehr möglich.‹
Mein Herz schlug bis zum Hals. Ich hatte das Gefühl, dass mein Kopf jeden Augenblick platzen würde. Mein Atem ging schwer, meine rechte Hand fing an zu zucken und ein kalter Schauer lief mir über den Rücken.
›Wie … was … ich verstehe das nicht! Das … das ist doch nicht möglich!‹
Meine Gedanken wirbelten durcheinander. Sie wollte doch mit den Kindern nur zu ihren Eltern fahren. Diese Strecke kannte sie wie ihre Westentasche, denn sie war diese Straßen doch schon hundert Mal gefahren. Da konnte doch gar nichts passieren. Außerdem, wenn die Kinder mit im Auto saßen, fuhr sie immer besonders vorsichtig. Die Kinder, na klar, die waren ja auch mit dabei gewesen.
›Und den Kindern, wie geht es denen? Wenn ich mich recht entsinne, dann hat der Polizist vorhin auch von ihnen gesprochen!‹
Erwartungsvoll und zugleich ängstlich schaute ich ihn an.
›Tjaaa, also, wenn ich recht informiert bin, dann kam für die beiden Kinder schon vor Ort jede Hilfe zu spät. Als die Rettungskräfte eintrafen und sie mühevoll aus dem Auto befreit hatten, gab es leider keine Möglichkeit mehr, ihnen zu helfen.‹
Ich sank in mich zusammen. Jedes Wort der letzten Sätze war wie der Schlag mit einem Hammer gewesen. Mühsam versuchte ich, meine Gedanken zu ordnen und zu begreifen, was der Arzt gesagt hatte. Als ich früh gegangen war, hatte ich doch noch in die Kinderzimmer geschaut und sie friedlich schlafen gesehen.
Oh Gott, mein Gott, was ist nur geschehen, was hab ich nur getan, dass ich so gestraft werde? Bisher war immer alles, mit einigen wenigen, vergessenswerten Schwierigkeiten, nach meinen Wünschen und Träumen verlaufen und nun das. Es konnte gar nicht sein, das war überhaupt nicht möglich! Es musste einfach ein Missverständnis sein! Bei diesem Gedanken angekommen, schaute ich hoffnungsvoll auf den Arzt. Doch im selben Moment wurde mir klar, dass es nur ein dummer Gedanke gewesen war. Der Arzt sprach immer noch und ich versuchte mühsam, seine Worte aufzunehmen, doch es gelang mir nicht. Ich sah nur wie schwer es ihm fiel, mir diese Mitteilung zu machen, dass er schon lange nicht mehr in mein Gesicht sah, sondern gebannt auf seine immer noch gefalteten Hände schaute und auch weiterhin nervös die Handballen und Daumen aneinander rieb. Was war nur geschehen, die Kinder hatten doch noch ihr ganzes Leben vor sich und Gabi …
›Ich … ich möchte sie sehen. Wo ist sie, und wo sind meine Kinder?‹
Verblüfft schaute der Arzt hoch. Er hatte immer noch gesprochen und ich hatte ihn mitten im Satz unterbrochen. ›Ich denke, es wäre besser, wenn Sie Ihre Angehörigen jetzt noch nicht wiedersehen. Es ist kein schöner Anblick durch die schweren Verletzungen. Vielleicht sollten Sie in Erwägung ziehen …‹
In diesem Moment klopfte es zaghaft an der Tür. Der Arzt, froh wegen dieser Unterbrechung, sagte: ›Ja, bitte!‹
Langsam ging die Tür auf und ein Polizist schaute herein.
›Entschuldigen Sie bitte, ich suche einen Herrn Kaufmann. Mir wurde gesagt, ich könnte ihn hier finden.‹
›Ja, da sind Sie hier schon richtig. Ich nehme an, Sie sind der Ermittlungsleiter vom Unfallort?‹
›Ja, Schlichter, Hauptwachtmeister Schlichter, aber Sie waren noch im Gespräch, und ich wollte Sie nicht unterbrechen. Ich werde vor der Tür warten bis Sie fertig sind.‹
Er drehte sich um und wollte den Raum verlassen, doch der Arzt hielt ihn mit den Worten auf: ›Einen Moment bitte, bleiben Sie, ich habe dem Herrn Kaufmann schon alles erzählt, was ich über den Unfall sagen kann. Weitere Fragen zum Unfallhergang können höchstens Sie ihm beantworten. Ich werde dann, damit Sie ungestört sprechen können, solange in die Notaufnahme gehen.‹
Er erhob sich und wollte den Raum verlassen, doch der Polizist hielt ihn mit den Worten auf: ›Bitte warten Sie, ich denke, es wäre besser, wenn Sie hier bleiben würden.‹ Und mit einem flehenden Blick fügte er hinzu: ›Es gibt da vielleicht das eine oder andere, wobei ich Ihre Hilfe benötigen könnte.‹
Der Arzt machte eine resignierende Handbewegung und setzte sich mit einem enttäuschten Blick wieder hin. Neben der Tür stand ein Stuhl, den sich der Hauptwachtmeister nun heranzog. Er schloss kurz die Augen und sammelte seine Gedanken.
›Ich kann Ihnen nur das mitteilen, was wir aus den Unfallspuren und Zeugenaussagen ableiten können, denn der Unfallverursacher hat Fahrerflucht begangen. Zurzeit läuft die Fahndung nach einem Fahrzeug, dessen Beschreibung wir durch vage Zeugenaussagen haben. Also, es muss sich ungefähr so zugetragen haben …‹
Teilnahmslos schaute ich auf seine Lippen und versuchte den Ausführungen zum Unfallgeschehen zu folgen.
›… Ihre Frau war auf der Hauptstraße zwischen Lauscha und Steinach unterwegs, als sie von einem nachfolgenden PKW, vermutlich dem Unfallverursacher, hart bedrängt wurde. Dies wissen wir durch die Zeugenaussage eines entgegenkommenden Fahrzeugs, dessen Fahrer später wieder in Richtung Steinach zurückfuhr. Der Unfallverursacher muss dann bei weiteren Überholversuchen Ihre Frau auf der Fahrerseite gerammt haben. Vermutlich hat sie dadurch die Gewalt über das Fahrzeug verloren und ist auf der regennassen Fahrbahn ins Schleudern gekommen. Nachdem sie mit dem Fahrzeugheck einen Baum berührt hatte, ist sie aufgrund der hohen Geschwindigkeit, die sie wahrscheinlich durch den Unfallverursacher hatte, auf der gegenüberliegenden Seite in den Straßengraben gefahren. Dort hat sich das Auto dann mehrfach überschlagen. Zuerst ist es über die Front hinweg aufs Dach geschlagen, und das Dach wurde durch die große Wucht bis auf die Rückenlehnen der Sitze heruntergedrückt. Anschließend hat sich das Auto noch mehrfach seitlich überschlagen, bevor es auf der Fahrerseite liegend, zum Stehen kam. Der Fahrer eines nachkommenden LKW hat noch gesehen, wie sich ein PKW, schnell beschleunigend, von der Unfallstelle entfernt hat. Nach der Fahrzeugbeschreibung war dies das gleiche Fahrzeug, das uns auch der andere Zeuge beschrieben hat. Fahrer und Beifahrer des LKW haben dann sofort die Rettungskräfte informiert und versucht, selbst Hilfe zu leisten. Leider waren aber alle so im Fahrzeug eingeklemmt, dass sie nur die Möglichkeit hatten Ihre Frau durch die herausgebrochene Frontscheibe notdürftig zu versorgen. Als die Rettungskräfte eintrafen und die Feuerwehr das Dach entfernt hatte, konnten Ihre Kinder leider nur noch tot geborgen werden. Vermutlich hatten sie schon den ersten Überschlag nicht überlebt. Ihre Frau war besinnungslos und hatte in der Zwischenzeit so viel Blut verloren, dass der Notarzt sich wunderte, dass sie überhaupt noch am Leben war. Wahrscheinlich konnte sie nur durch die Notversorgung der beiden LKW-Fahrer so lange am Leben erhalten werden.‹
Er atmete tief durch und beendete seine Ausführungen mit den Worten: ›Das ist erst einmal alles, was ich Ihnen zum Unfallhergang mitteilen kann. Ich werde Sie auf jeden Fall über den Stand der weiteren Ermittlungen auf dem Laufenden halten.‹
Der Hauptwachtmeister hatte mich die ganze Zeit fixiert und schnell hintereinanderweg gesprochen und war nun sichtlich froh, dass er diese schwierige Aufgabe hinter sich gebracht hatte. Er wartete auf eine Reaktion von mir, doch ich musste das Gehörte erst einmal verarbeiten. In meinem Kopf hatten sich während der Ausführungen des Polizisten Bilder gebildet, mit denen ich das Geschehen nachzuvollziehen suchte. Mir stockte der Atem und es wurde mir schlecht, als ich mir meine blutenden, im Fahrzeugwrack eingeklemmten Familienangehörigen vorstellte. Mein Anblick muss beängstigend gewesen sein, denn der Polizist hatte schon einen fragenden und um Hilfe flehenden Blick auf den Arzt geworfen, als dieser auch schon aufstand, zu mir trat und mich fragte: ›Ist Ihnen schlecht? Soll ich das Fenster öffnen?‹
›Ja, ich glaube, das wäre nicht schlecht‹, keuchte ich.
Der Arzt trat, ohne mich aus den Augen zu lassen, ans Fenster, nahm die Pflanzen weg und öffnete es weit. Zitternd und taumelnd stand ich auf und trat, gestützt vom Polizisten, ans Fenster. Die frische Luft tat gut und langsam konnte ich wieder klar sehen. Doch in meinem Kopf wirbelte alles durcheinander. Alles war so düster, so trostlos. Doch das Wetter und die Natur schienen dem allen Hohn zu spotten. Die Sonne war hinter den Gewitterwolken hervorgekommen und begann, die Nässe vom Boden aufzusaugen. Die Vögel zwitscherten fröhlich, die Luft war klar und sauber, alles sah so frisch, so erholt aus. All dies passte überhaupt nicht zu meiner derzeitigen Verfassung. Langsam begann ich meine Gedanken zu ordnen.
›Danke, es geht schon wieder. Das ist bloß sehr viel auf einmal. Ich muss das erst einmal verarbeiten.‹
Der Arzt nickte.
›Das kann ich verstehen. Wenn Sie möchten, können Sie gerne eine Weile hier in diesem Büro bleiben. Hier stört Sie keiner und Sie können erst einmal zur Ruhe kommen.‹ Er schaute mich fragend an, und als ich nicht reagierte, gab er dem Polizeibeamten mit den Augen einen Wink und sie verließen gemeinsam den Raum.
Ich setzte mich und holte tief Luft. Dann versuchte ich das Gehörte zu verarbeiten. In diesem Moment wurde mir bewusst, dass ich nun allein war. Diese Erkenntnis erschlug mich fast, denn ich hatte nun niemanden mehr. Meine Eltern lebten nicht mehr, meine Schwester war weit weggezogen und nun waren meine einzigen nahen Verwandten mit einem Schlag nicht mehr da. Plötzlich spürte ich, dass die Stille und Einsamkeit in diesem kleinen Raum mich erdrückte. Schwer atmend und am ganzen Körper zitternd stand ich auf. Ich verließ das Büro und begab mich in die Notaufnahme. Die an diesem Ort herrschende Betriebsamkeit tat mir gut und ich schaute mich nach dem Arzt und dem Polizisten um. Schließlich fand ich sie in ein Gespräch vertieft, Zigarette rauchend vor der Tür stehen.
›Tut mir leid, aber allein in diesem kleinen Büro, das ist jetzt doch nicht das Richtige für mich. Als ich kam, habe ich vorn beim Haupteingang eine Cafeteria gesehen, und ich denke bei einer Tasse Kaffee kann ich meine Gedanken jetzt besser ordnen.‹
Anscheinend hatten sich die beiden gerade über mich unterhalten und der Arzt schien nun sichtlich erleichtert zu sein, dass ich diese Entscheidung getroffen hatte. Er nickte zustimmend und bat mich nur, später noch einmal bei ihm vorbeizuschauen, um einige Formalitäten zu erledigen. Auch auf dem Polizeirevier sollte ich mich zu diesem Zweck noch einmal melden.
Ich nickte und begab mich in die Cafeteria. Dort musste ich mich zwingen, nicht meiner Verzweiflung nachzugeben, sondern über die weiteren Schritte nachzudenken. Nach einer Weile gelang mir das auch und ich fand zu der rationalen Handlungsweise zurück, für die ich bei meinen Geschäftspartnern bekannt war. Ich zog das Notizbuch, das ich immer bei mir hatte, hervor und begann mir Notizen über die nächsten Schritte zu machen.
Der Rest dieses Tages war wie ein Lauf durch dicken Nebel. Ich funktionierte rationell und von außen drang nichts richtig bis zu mir vor.
Nachdem ich Schritt für Schritt abgearbeitet hatte, was ich zu diesem Zeitpunkt für notwendig erachtete, fuhr ich nach Hause und ließ meinen Gefühlen freien Lauf. Nun begann ich zu bereuen, dass ich mir so wenig Zeit für meine Familie genommen hatte. Bilder aus der Vergangenheit stürmten auf mich ein und ich sah so vieles, was ich hätte anders oder besser machen können.
Das Klingeln des Telefons riss mich aus meinen trübsinnigen Gedanken. Meine Schwester erkundigte sich nach meinem Befinden und bot mir an, mich in den kommenden Tagen zu unterstützen. Ich war dankbar für dieses Angebot, denn die Einsamkeit in diesem Haus war belastend. Nachdem ich einige Bier getrunken hatte, kam ich soweit zur Ruhe, dass ich mich entschloss, zu Bett zu gehen. Doch nach höchstens zwei Stunden Schlaf schreckte ich aus einem Albtraum hoch. Meine Decke war ein einziger Knoten und der Schlafanzug klebte schweißnass an meinem Körper. Nachdem ich mich umgezogen und das Bett wieder in Ordnung gebracht hatte, legte ich mich wieder hin, doch an Schlaf war nicht mehr zu denken.
Die folgenden Tage und Nächte bis zur Beerdigung waren nicht leicht für mich und ich weiß nicht, wie ich sie ohne die Hilfe meiner Schwester überstanden hätte. Da meine Eltern nicht mehr lebten, war sie meine nächste lebende Verwandte und ihre Nähe half mir sehr. Am Tag der Beerdigung wurde alles noch einmal so richtig aufgewühlt und ich musste alle Kraft zusammennehmen, um ihn zu überstehen.
Seit diesem Tag stelle ich mir ständig die Frage: Was wäre geschehen, wenn ich nachgegeben hätte? Was wäre, wenn …
Das Schlimmste kam aber noch, denn ich wusste ja noch nicht alles über diesen Unfall. Aber es traf mich wie ein Schlag, als ich zwei Tage nach der Beerdigung das erste Mal wieder in der Firma erschien. Ich hatte lange überlegt, wie es nun weitergehen sollte und war schließlich zu dem Ergebnis gekommen, dass es das Beste wäre, wenn ich mich wieder in meine Arbeit stürzen würde. Die Arbeit würde mich ablenken, sodass ich nicht ständig über das Warum und Wieso nachdenken könnte. Meine Belegschaft war wirklich sehr verständnisvoll. Besonders Frau Wagner, meine Sekretärin, hatte wieder bewiesen, dass sie die perfekte Besetzung für diese Stelle war. Alles, was ich nicht unbedingt selbst entscheiden musste, hatten sie und andere leitende Angestellte in der Zwischenzeit zu meiner vollsten Zufriedenheit erledigt. Nur die Dinge, die kein anderer entscheiden konnte, waren, sauber nach Wichtigkeit geordnet, auf meinem Schreibtisch bereitgelegt. Ich ging mit ihr diese Angelegenheiten durch und wir hatten schon einiges abgearbeitet, als das Telefon wieder einmal klingelte. Sie ging an ihren Schreibtisch und nahm den Hörer ab. Im selben Moment konnte ich an ihrem Gesichtsausdruck erkennen, dass sie diesen Anruf zwar erwartet, aber insgeheim gehofft hatte, dass er nicht käme. Sie legte das Gespräch in die Musik und sagte zu mir: ›Es ist wieder dieser Herr Igor und er lässt sich einfach nicht abwimmeln. Er hat schon in den letzten zwei Tagen mehrfach hier angerufen. Was soll ich …?‹
›Geben Sie das Gespräch her. Der erwischt mich gerade auf dem richtigen Fuß! Dem werd ich jetzt ein für alle Mal die Meinung geigen!‹, sagte ich zornig. Ich nahm das Gespräch an und meldete mich betont forsch.
›Ja! Kaufmann am Apparat!‹
›Ahhh, Herr Kaufmann. Schön, dass Sie wieder im Geschäft sind.‹
›Was wollen Sie? Ich denke, ich habe Ihnen meine Position klar und verständlich mitgeteilt! Also, warum belästigen Sie mich trotzdem noch?‹
›Also, also, Herr Kaufmann. Nicht so aggressiv! Ich bedaure das mit Ihrer Familie sehr, aber es sollte eigentlich nur ein Warnschuss werden. Dass es dann so schlimm ausgegangen ist, war wirklich die Verkettung unglücklicher Umstände. Ich habe meine Mitarbeiter schon bestraft für ihr übertriebenes Vorgehen. Ich hoffe Sie wissen nun, dass wir es ernst meinen und auch die Möglichkeit haben, unsere Forderungen durchzusetzen!‹
Mit einem Schlag ging mir ein Licht auf. Ich verstand nun, wie es zu diesem Unfall hatte kommen können. Mir verschlug es die Sprache und die Hand mit dem Telefonhörer sank mir auf die Brust. Ich rang nach Luft und Frau Wagner, die durch die offene Tür hereingeschaut hatte, war schon auf dem Sprung, um mir zu helfen, als ich mich aufraffte und den Hörer wieder hochnahm.
›Hallo? Hallo, Herr Kaufmann? Sind Sie noch da?‹
›Ja … Ja, ja‹, stotterte ich, ›was haben Sie da eben gesagt? Sie … Sie sind dafür verantwortlich? Ich … ich kann das gar nicht glauben!‹
›Tja, dann finden Sie sich mal mit diesem Gedanken ab! Ich hatte Sie vorher mehrfach gewarnt! Es sollte nicht so hart ausfallen, sollte nur ein Warnschuss werden, aber vielleicht war es auch gut so. Nun wissen Sie wenigstens, dass wir es ernst meinen! Ich denke, Sie sollten nun eine Änderung Ihrer Meinung in Betracht ziehen, denn wir haben auch noch andere Möglichkeiten, unseren Willen durchzusetzen. Also, ich lasse Sie das Ganze noch einmal in Ruhe überdenken. Äh, sagen wir ein, oder besser zwei Tage, dann melde ich mich wieder und wir handeln die Einzelheiten aus!‹ Es folgte eine kleine Pause.
›Und denken Sie nicht mal im Traum daran, die Polizei oder jemanden anders zu informieren! Ich würde auf jeden Fall recht schnell davon erfahren und dann ist Ihre Firma und Ihr Leben keinen Pfifferling mehr wert! Ich denke, dass ich mich da klar ausgedrückt habe.‹
Wut stieg in mir hoch und ohne irgendwelche Konsequenzen zu bedenken, schrie ich in den Hörer:
›Sie sind wohl nicht mehr ganz bei Trost?! Nachdem, was Sie mir jetzt erzählt haben, erwarten Sie auch noch eine Kooperation von meiner Seite? Ich denke ja nicht mal im Traum daran, auch nur im Geringsten in irgendeiner Form auf Ihre Forderungen einzugehen! Sie können sich Ihre Drohungen sonst wohin stecken! Sie, Sie Stück Dreck, Sie! Sie … Arrr!!‹
Mit diesen Worten knallte ich den Hörer so wütend auf die Basisstation, dass er auseinanderbrach. Noch wütender dadurch, wischte ich das Telefon inklusive einiger anderer Dinge vom Schreibtisch. Ohne Rücksicht auf weitere Schäden ging ich durch die heruntergeworfenen Gegenstände, nahm meine Jacke vom Garderobenständer und verließ ohne ein weiteres Wort das Firmengebäude in Richtung Auto. Aus den Augenwinkeln konnte ich noch das entsetzte Gesicht meiner Sekretärin sehen, doch ich war zu aufgewühlt, um in diesem Moment darauf einzugehen.
Aggressiv fuhr ich ohne Ziel drauflos. Nach einer ganzen Weile bog ich in einen Waldweg ein, stieg aus und lief leise vor mich hinredend auf und ab.
Oh Gott, warum nur? Was hab ich denn verbrochen, dass ich so gestraft werde? Ich wollte doch nie jemandem schaden oder ihn übervorteilen. Habe immer versucht, es allen recht zu machen. Oft habe ich zu meinem eigenen Nachteil anderen nachgegeben. Ich stockte kurz und holte tief Luft.
Na ja, meistens war es ja nicht ganz unberechnend, denn im Nachhinein hat sich oft ein Vorteil für mich daraus ergeben. Aber muss ich deswegen so gestraft werden? Ich habe doch deswegen niemandem Schaden zugefügt! Warum habe ich nur diesmal nicht nachgegeben? Warum habe ich dieses blöde Geschäft nicht einfach sausen lassen? Es lief doch auch so hervorragend in der Firma. Sie muss es geahnt haben, muss gewusst haben, was geschehen würde. Sie war immer besser in der Einschätzung solcher Dinge.
Die Verzweiflung überrollte mich, ich legte die Arme aufs Autodach, vergrub meinen Kopf in den Armbeugen und begann hemmungslos zu schluchzen.
Bilder stiegen in mir auf.
Wie schön war es immer gewesen, wenn Maria mit ihren großen Kinderaugen flehend zu mir aufgeschaut hatte, um etwas zu erreichen, und wie schwer war es mir oft gefallen, ihr nicht jede Bitte zu erfüllen. Ich habe immer gedacht: Das darfst du nicht, später bekommt sie auch nicht jeden Wunsch erfüllt und dann kann sie nicht damit umgehen. Hätte ich ihr doch jeden Wunsch erfüllt! Ach, könnte ich doch die Zeit zurückdrehen! Die schönen Stunden mit Gabi noch einmal erleben. Wie schön war es gewesen, als unsere Liebe noch jung war. Wir hatten uns nichts daraus gemacht, immer und überall zu zeigen, wie sehr wir uns liebten. Auch wenn andere manchmal verunsichert wegschauten, wenn wir uns im Beisein Dritter küssten oder umarmten, es war ja nichts dabei, wenn wir jedem zeigten, dass wir zusammengehörten. Aber später kam dann die Routine ins tägliche Leben, und im Kampf mit den anfallenden Aufgaben haben wir uns vernachlässigt. Unsere Liebe vernachlässigt. Oder war nur ich das? Aber wie sollte ich sonst mein Tagespensum bewältigen? Nur durch die harte Arbeit und die Routine im täglichen Leben konnte ich das aufbauen, was ich bis jetzt geschaffen hatte. Ich wollte doch nur eine gewisse Sicherheit haben! Sicherheit und noch ein Stück Sicherheit und noch ein Stück! Und, was nützt sie mir jetzt, diese Sicherheit? Es ist niemand mehr da, dem sie nützen könnte. Auch Torsten nicht! Oh, wie stolz war ich auf meinen Sohn gewesen! Der Glanz in seinen Augen, bei gemeinsamen Unternehmungen, war die schönste Belohnung. Wann hatte ich denn eigentlich das letzte Mal richtig Zeit für ihn gehabt? Wie oft hab ich mit Gabi über das alles diskutiert und mir vorgenommen, etwas zu ändern. Aber dann. Eine Weile hat es meist angehalten, bis, ja bis mich die tägliche Routine wieder im Griff hatte. Und jetzt, jetzt ist es zu spät. Hätte ich doch nur damals in die Zukunft schauen können. Was hätte ich nicht alles anders gemacht! Wieder schossen mir Tränen in die Augen.
Ja, was, was hätte ich denn anders gemacht? Hätte ich wirklich mein Leben geändert? Wäre ich in der Lage gewesen, mich anders zu verhalten? Meinem Wesen, meinen Wünschen und Träumen entgegen anders zu leben? Mich anderen unterzuordnen und so zu leben, wie diese sich das wünschten? Oder wäre ich daran zerbrochen? Hätte ich vielleicht nur den Weg des geringsten Widerstandes gesucht und nur bestimmte Dinge vermieden? Oh, warum ist das Leben nur so kompliziert?
Ich begann wieder hin und her zu laufen und kam mit diesen Gedanken nicht zur Ruhe. Nach einer Weile lief ich einfach den Waldweg entlang, bis er an einem Wiesenhang die Richtung wechselte. Er führte dann am Waldrand entlang, bis er in einem großen Bogen ins Tal hinunter schwenkte. Wenn man dem Weg mit den Augen weiterfolgte, konnte man am Ende des Tales, bevor es durch einen Bogen nicht mehr einsehbar war, die ersten Häuser eines kleinen Dorfes sehen. Irgendjemand hatte am Waldrand, zwischen zwei Bäumen, eine kleine Bank gebaut. Dort setzte ich mich nieder und schaute den wild dahintreibenden Wolken nach. Der stürmische Wind beugte die Baumwipfel und immer wieder hörte man das Knacken von kleineren Ästen, die zu Boden fielen. Ich war noch nie an diesem Ort gewesen. Da ich aufs Geradewohl losgefahren war, wusste ich nicht einmal genau, wo ich mich befand. Wäre ich zu einem anderen Zeitpunkt hierhergekommen, hätte ich mich an der Schönheit der Landschaft gefreut und dem Treiben der Natur zugeschaut. Doch so nahm ich das alles nur nebenbei wahr und meine Gedanken jagten genauso wild dahin, wie die Wolken im stürmischen Wind.
Was hab ich nun noch vom Leben? Mein Halt, die Wärme, die Zuflucht in meinem Leben sind nicht mehr da. Das einsame, stille, für mich allein viel zu große Haus erdrückt mich fast. Jeder Ort, jeder Gegenstand in diesem Haus erinnert mich an meine Familie. Was will ich allein mit all den Dingen, die ich um mich herum angehäuft habe? Es macht keine Freude, wenn man sie nicht mit jemandem teilen kann. Oh Gott, was soll nur werden?
Ich vergrub den Kopf in den Händen und schloss die Augen.
Wie soll es jetzt weitergehen mit mir? Ich weiß ja nicht einmal, wie ich das Problem in der Firma lösen soll. Wenn ich diesem Igor jetzt nachgebe, verrate ich alles und alle, die mir jemals lieb waren. Gebe ich ihm nicht nach, bringe ich auch noch andere, von mir und der Firma mal abgesehen, in Gefahr. Vielleicht wäre es ja gar nicht mal schlecht, wenn ich mit dran glauben müsste. Dann wären all meine Probleme ein für alle Mal gelöst. Ich müsste mir keine Gedanken mehr machen, wie es weitergeht und wäre alle Sorgen los. Ja, das ist es. Ich leg mich weiter mit diesem Gangster an.
Mein Gesicht hellte sich auf und ich wollte aufspringen, doch fast im selben Moment sackte ich wieder in mich zusammen.
Ich bin bloß der Letzte, dem es an den Kragen geht. Er will ja was von mir. Also wird er erst alle anderen Möglichkeiten ausschöpfen. Wieder nichts! Wieder kein Weg! Wie komm ich nur da raus? Man müsste einfach ausreißen können. Einfach weg. Sich einfach davonstehlen. Es merkt ja doch keiner mehr, wenn ich nicht mehr da bin. Aber wo soll ich denn hin? Was soll ich denn dann tun mit meinem Leben? Außer … außer ich setz meinem Leben selbst ein Ende.
Ich erschauderte bei dem Gedanken und doch ließ er mich nicht mehr los. Nachdenklich aber schon ruhiger stand ich auf und lief den Waldweg zurück. Der Selbstmordgedanke hatte sich richtig in mir festgefressen. Ich überlegte nur noch, ob ich vorher noch etwas klären müsste. Doch schließlich kam ich zu dem Schluss, dass es mir doch dann egal sein könnte, was weiter werden würde. Der Gedanke an Gott kam kurz in mir auf, doch ich hatte den Glauben in den letzten Jahren sehr vernachlässigt, sodass der Selbstmordgedanke schnell wieder die Oberhand gewann. Zielsicher ging ich aufs Auto zu, suchte den Schlüssel in meinen Taschen und musste dann feststellen, dass er noch im Zündschloss steckte. Das war mir auch noch nicht passiert. Sonst hatte ich meist noch ein, zwei Mal kontrolliert, ob das Auto auch richtig zugeschlossen war und jetzt, da steckte der Schlüssel, da lagen alle Papiere auf dem Beifahrersitz. Selbst die Brieftasche hatte ich dort liegen lassen.
Kopfschüttelnd setzte ich mich ans Steuer und fuhr zurück auf die Landstraße. Da ich zu dem Schluss gekommen war, dass es am besten wäre, wenn ich gleich jetzt mit dem Auto einen tödlichen Unfall verursachte, schaute ich mich nach einer passenden Stelle um. Schließlich kam ich auf eine lange Gerade, die in einer scharfen Rechtskurve endete. Am linken Straßenrand in dieser Kurve stand ein recht starker Baum.
Das ist ideal! dachte ich und beschleunigte. Da ich ein PS-starkes Auto hatte, war es kein Problem, es bis zum Ende der geraden Strecke auf 140 km/h zu bringen. Ich hielt genau auf den Baum zu. Da schoss mir aber noch ein Gedanke durch den Kopf:
Was ist, wenn ich nicht sterbe? Was, wenn ich diesen Unfall überlebe? Wenn ich nur zum Krüppel werde! Wenn ich ein Pflegefall werde! Nein das geht nicht! Das ist zu unsicher!
Im letzten Moment nahm ich den Fuß vom Gaspedal und riss das Lenkrad herum. Ich kann nicht mehr genau sagen, wie ich es geschafft habe, das schleudernde Auto wieder in den Griff zu bekommen, aber glücklicherweise kam mir kein Fahrzeug entgegen, sonst wäre es wohl nicht so glimpflich ausgegangen.
Nachdenklich fuhr ich nach Hause. Zwischenzeitlich kam mir die Firma in den Sinn, und dass ich ja noch einiges dort zu erledigen hätte. Doch nach einem Blick auf die Uhr verwarf ich diesen Gedanken schnell wieder. Erstens war es schon ziemlich spät und bevor ich in der Firma ankommen würde, wäre schon Feierabend. Und zweitens, was sollte ich noch dort, wenn ich meinen Plan wirklich durchführen wollte. Durch diese Gedanken wurde mir erst einmal bewusst, wie lange und wie weit ich eigentlich ziellos in der Gegend herumgefahren war.
Als ich an einer Bahnlinie vorbeifuhr, kam mir der Gedanke, mich vor einen Zug zu werfen. Doch auch das verwarf ich schnell wieder.
Egal, was ich in Erwägung zog, keine Möglichkeit wollte mir so recht gefallen. Vielleicht war es auch Selbstschutz oder die Angst vor der Endgültigkeit dieser Entscheidung, die mich immer wieder zurückschrecken ließ.
Schließlich entschied ich mich fürs Erhängen und zu Hause angekommen, suchte ich gleich nach einem passenden Strick. Mit diesem ging ich in ein nahe gelegenes Waldstück. Es dauerte auch nicht lange, und ich fand eine Eiche mit einem starken, fast waagerecht gewachsenen Ast. Es war der unterste auf der mir zugewandten Seite des Baumes und doch etwa drei Meter über dem Boden. Auf der anderen Seite des Baumes konnte ich durch Springen einen dünneren, nicht so hohen Ast erreichen, wodurch ich recht gut hinauf gelangte. Ich setzte mich auf den starken, waagerechten Ast und legte mir die Schlinge um den Hals. Das andere Ende des Strickes befestigte ich so am Baum, dass ich den Boden nicht mit den Füßen erreichen konnte. Nun machte ich mich bereit zu springen. Lange saß ich dort und konnte mich einfach nicht entschließen, diesen Schritt zu tun. Der Zwiespalt in mir war riesig. Einerseits wollte ich mich davonstehlen, allen weiteren Problemen aus dem Weg gehen und dem allen ein für alle Mal ein Ende setzen. Andererseits wehrte sich mein Verstand, der Selbsterhaltungstrieb in mir massiv dagegen. Als ich endlich soweit war, sich die Muskeln in meinen Armen spannten und ich mich vom Ast abstieß, geschah etwas Seltsames. Zuerst hatte ich das Gefühl, dass ich einem Feuer zu nahe gekommen wäre, denn es wurde unheimlich heiß um mich herum. Dann wurde mir kalt, und zwar so kalt, dass ich am Ende die Besinnung verlor. Doch bevor das geschah, hatte ich das Gefühl, ich wäre eingefroren. Ich bekam keine Luft mehr und mein Herz schien stillzustehen. Die Umgebung nahm ich nur noch verschwommen war, seltsame Farbspiele erschienen plötzlich vor meinen Augen und ich war nicht fähig mich zu bewegen. Das letzte, was ich wie durch einen Schleier wahrnahm, war mein Körper, der in verkrampfter Haltung auf dem Ast saß. Verstört schloss ich die Augen.«

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