Dao

Kapitel 2 – Die Kraft des Geistes

Abschnitt 3

Als ich die Augen wieder öffnete, sah ich Han Liang Tian neben mir sitzen. Ich hatte nicht bemerkt, wie er den Raum betreten hatte und er hatte gespürt, dass ich dabei war, meiner Seele etwas Gutes zu tun und wollte mich nicht dabei stören.
Han Liang Tian lächelte mich an und sah mir offen in die Augen. Sofort fühlte ich mich wieder unwohl. Was wusste er alles von mir, wie viele meiner Gedanken konnte er lesen? Wie tief konnte er in mich hineinschauen? Konnte ich überhaupt etwas vor ihm verbergen?
Unsicher sah ich ihn an und konnte mich doch nicht durchringen, diese Fragen zu stellen. Aber dieses offene und freundliche Gesicht beruhigte mich wieder, also überlegte ich schon mit welcher Frage ich anfangen sollte, als er mir zuvorkam:
›Du hast viele Fragen. Warum stellst du sie nicht?‹
Und da war es schon wieder, dieses Gefühl des Unwohlseins. Las er in mir wie in einem offenen Buch? Doch wenn ich nicht fragte würde ich es nie erfahren. Also überwand ich mich und begann:
›Ich habe den Eindruck, dass du all meine Gedanken lesen kannst und du scheinst alle meine Fragen schon zu kennen.‹
Verständnisvoll sah er mir in die Augen und sagte:
›Ich könnte das vielleicht, wenn ich mich anstrengen würde, doch es ist ein wichtiger Grundsatz wenn man gewisse Fähigkeiten hat, dass man diese nicht missbraucht. Jeder Mensch hat seine kleinen Geheimnisse und das Recht darauf, selbst zu entscheiden, ob er sie für sich behält oder mit jemandem teilt. Es wäre schändlich von mir, wenn ich ohne Einverständnis in diese Geheimnisse eindringen würde.‹
›Und doch hast du schon in Gedanken mit mir gesprochen und geantwortet.‹
›Ja, ich habe schon in Gedanken mit dir gesprochen, aber nicht, weil ich alle deine Gedanken gekannt habe, sondern weil ich deine Verwirrung, die Unordnung deiner Gedanken und deine Unsicherheit gespürt habe.‹
›Aber du hast auch schon auf Fragen geantwortet, die ich in Gedanken gestellt habe.‹
›Ja, aber auch nur, weil sie an mich gerichtet waren. Ein geschulter Geist kann unterscheiden, was an ihn gerichtet ist und was nicht. Fragen oder Mitteilungen, die an diese Person gerichtet sind, sind intensiver, zielgerichtet, offen und somit stärker. Deshalb werden sie wahrgenommen und verstanden wie ein gesprochenes Wort. Das ist notwendig, um nicht in die geheimen Gedanken anderer einzudringen, aber zum großen Teil auch Selbstschutz. Stell dir vor, du könntest die Gedanken aller Anwesenden bei einer größeren Menschenansammlung wahrnehmen. Sie würden dich überfluten und verwirren. Du könntest nicht mehr unterscheiden, von wem welcher Gedanke ist und würdest nie mehr zur Ruhe kommen. Das Leben mit und bei anderen Menschen würde unmöglich für dich werden. Es ist notwendig und auch sehr wichtig, dass du diese Fähigkeit kontrollieren und auch abschalten kannst.‹
Diese Erklärungen beruhigten mich wieder, denn obwohl ich nichts vor ihm zu verbergen hatte, fühlte ich mich doch unwohl bei dem Gedanken, vollkommen durchsichtig zu sein.
›Du sprichst immer so, als würde ich das schon beherrschen, aber ich habe doch diese Fähigkeiten noch nicht!‹
›Ja und nein. Ja, du hast diese Fähigkeiten noch nicht. Aber, du hast eine große Begabung in dieser Richtung und ich spüre auch große innere Kräfte in dir. Deswegen und weil wir dir alles beibringen sollen, was wir können, werde ich dich unterrichten. Ich werde dir alles beibringen, was ich kann und weiß, doch das meiste musst du selbst herausfinden, denn ich kann dich nur die Grundlagen lehren. Es gehört viel Selbstdisziplin und innere Ruhe dazu, diese Kräfte zu beherrschen. Du wirst also viel Geduld haben müssen, denn es wird eine lange Zeit vergehen bis du diese Kraft kontrollieren kannst.‹
›Diese Kraft, wo soll ich die denn hernehmen? Ich habe doch kaum genug Kraft, um im Kampftraining durchzuhalten und mein Geist ist sicherlich auch nicht so ruhig, entspannt und konzentriert, wie der deine.‹
›Oh, diese Kraft steckt in uns allen. Es liegt nur an uns sie zu entdecken und zu kontrollieren. Außerdem ist alles um uns herum voller Kraft und Energie. Du musst sie nur spüren und nutzen. Der Wind, die Sonne, die Erde, ja die ganze Natur stecken voller Kraft und wenn du sie spürst und eins wirst mit deinem Umfeld kannst du sie auch nutzen.‹
Er machte eine kurze Pause und ich hatte schon meine nächste Frage auf den Lippen, als er fortfuhr:
›Aber ich denke, das wird dir nicht schwerfallen, denn du hast ein Talent dafür und hast unbewusst auch schon diese Kraft genutzt.‹
›Ich? Meinst du etwa den Abend in Hu Kangs Krankenzimmer?‹
›Ja, natürlich. Dort hast du, wenn auch sehr unkontrolliert, diese Kraft bewusst eingesetzt.‹
›Ich würde nicht sagen, dass ich bewusst gehandelt habe. Es war eher Instinkt. Der Wunsch zu helfen und das Gefühl, auch die Möglichkeit dazu zu haben, haben mich an jenem Abend angetrieben. Aber ich kann nicht sagen, dass ich mir darüber im Klaren war, was ich da getan habe.‹
›Deswegen habe ich ja auch gesagt, dass es unkontrolliert war. Aber, das spielt auch keine Rolle.‹
Er strich sich nachdenklich mit der Hand über die Stirn und fragte dann:
›Was hast du damals gefühlt? Was hast du gedacht, als du deine Hände auf die meinen gelegt hast?‹
›Ich weiß auch nicht so recht, was ich mir dabei gedacht habe. Ich hatte nur das Gefühl, dass ich helfen muss und es auch kann. Ich dachte, dass ich entdeckt hatte wie es funktioniert und wollte mit zu seiner Heilung beitragen.‹
›Nein, das meine ich nicht. Ich will nicht wissen, was du für Beweggründe hattest, sondern an was du dabei gedacht hast.‹
Ich überlegte einen Augenblick, versuchte mich zu erinnern, wie es an jenem Abend gewesen war und antwortete dann:
›Ich habe eigentlich nicht weiter über das Warum oder Wie nachgedacht. Als ich gemerkt hatte, dass ich, wenn ich mich richtig darauf konzentrierte, eure Gedanken hören und die Kraft, die von euch ausging spüren konnte, hatte ich einfach das Gefühl, dass ich auch mit dazu beitragen könnte. Ich war irgendwie der Meinung, ich brauchte nur den Körperkontakt und die volle Konzentration auf den Wunsch, meine Kraft mit zur Verfügung zu stellen.‹
Ich hob meinen Kopf und schaute in die forschend auf mich gerichteten Augen Han Liang Tians.
›Hmmm, wenn ich mich recht erinnere, dann hab ich wirklich nur versucht, meine Gedanken in Gleichklang mit den euren zu bringen. Alles andere um mich herum ist in den Hintergrund getreten. Ich habe meine Umgebung und Wang Lee nur noch schemenhaft wahrgenommen.‹
Han Liang Tian sah mir immer noch forschend in die Augen. Was wollte er nur noch wissen? Ich hielt seinem Blick stand und stellte die Frage, in Gedanken an ihn gerichtet, immer wieder. Es dauerte auch nicht lange bis ich eine Antwort bekam, doch diese erhielt ich anders als erwartet. Es war, als ob er laut mit mir spräche und doch bewegte er seine Lippen nicht und kein Laut unterbrach die Stille des Raumes.
›Versuche dich bitte an den genauen Wortlaut deiner Gedanken zu erinnern. Es ist wichtig, um dir zu erklären warum es an diesen Abend gelungen ist.‹
Ich wollte schon den Mund öffnen, um zu antworten, als ich mir überlegte, dass wir sicherlich auch lautlos kommunizieren könnten und so bildeten sich die Worte nur in meinem Kopf.
›Nehmt von mir was ihr braucht und gebt es Hu Kang! Nehmt, so viel wie ihr bekommen könnt! Wenn ich mich recht erinnere, dann war das der ungefähre Wortlaut meiner Gedanken in diesem Moment.‹
Han Liang Tian lächelte und sogleich bildete sich seine Antwort in meinem Kopf.
›Es ist gut, dass du gleich beginnst auf diese Art zu antworten. Dadurch wird dein Geist geschult und ich würde vorschlagen, dass wir, solange niemand anderes in der Nähe ist, immer auf diese Art und Weise kommunizieren. Im Übrigen hast du an diesem Abend genau das Richtige gedacht und getan. Du hast deine Kraft zur Verfügung gestellt und hast es dabei uns überlassen, diese Kraft, diese Energie zu nutzen. Du selbst warst oder besser bist noch nicht in der Lage, deine Energie selbst bewusst und kontrolliert zu übertragen. An jenem Abend hast du im Prinzip nur als Medium gedient, zwar bewusst und gewollt, aber von uns kontrolliert. Aber das war auch gut so, denn du hast genau in dem Augenblick deine Kraft gegeben, als unsere nachließ und so konnten wir Hu Kang noch geben, was nötig war, damit er sich selbst heilen konnte. Ohne deine Hilfe wäre es wahrscheinlich nicht gelungen, doch ich kann bis heute noch nicht so recht verstehen, dass du als völlig ungeschulter Geist dazu in der Lage warst. Oder hast du vielleicht früher schon ähnliches gemacht?‹
›Na ja, auf keinen Fall bewusst und kontrolliert, aber meine Frau hat am Anfang unserer Ehe behauptet, dass ich ihr alle Energie abziehen würde.‹
Ich sah ihn fragend an, doch ich konnte in seinen Augen lesen, dass er es genauer wissen wollte.
›Es geschah eigentlich unbewusst und ohne Kontrolle. Wir liebten es, eng umschlungen einzuschlafen. Dabei verzichteten wir möglichst auf jegliche Kleidung, damit wir uns besser spüren konnten. Es war so schön gewesen, die junge, glatte Haut und Wärme des anderen zu spüren, sodass wir einfach nicht genug davon bekommen konnten, aber der Körperkontakt begünstigte etwas, das ich gar nicht wahrnahm.‹
Ich merkte wie diese Erinnerungen auf mein Gemüt drückten und wie es mir immer schwerer fiel, mich zu konzentrieren. Bilder von Ereignissen, an die ich schon lange nicht mehr gedacht hatte, tauchten in meinem Kopf auf und meine Augen wurden feucht. Mit viel Überwindungskraft gelang es mir, mich auf das Wesentliche zu konzentrieren und alle anderen Gedanken zu unterdrücken.
›In dieser Zeit ging es mir gut wie nie zuvor. Auch später hatte ich, wenn ich mich recht erinnere, keine Phase, in der ich so vor Kraft und Energie gestrotzt habe wie in den ersten Jahren unsere Ehe. Ich war extrem leistungsfähig, konzentriert und zielstrebig. Aber ich bemerkte nicht, dass diese Kraft nicht allein von mir kam, sondern dass ich über Nacht meine verbrauchte Energie wieder auffüllte. Ich habe nie herausgefunden wie das abgelaufen ist und konnte es auch nicht steuern, aber meine Frau diente mir als Energiespender. Am Anfang war es selbst für sie unbemerkt, doch nach einiger Zeit fand sie es heraus, denn ich zog ihr immer mehr Kraft ab, sodass sie morgens teilweise völlig erschöpft erwachte. Nun brauchten aber auch die Kinder ihre Aufmerksamkeit und Energie. Deswegen entschloss sie sich, von mir unbemerkt, dieses nächtliche Auffüllen zu beenden. Zu dieser Zeit habe ich das noch nicht erkannt. Ich merkte bloß, dass ich nicht mehr so leistungsfähig war. Schob es aber auf andere Dinge. Erst viel später hat sie mir einmal erzählt, dass sie am Morgen manchmal so kraftlos war, dass sie erst nach ein, zwei Stunden wieder in Tritt kam.‹
Han Liang Tian sah mich immer noch fragend an und ich hatte das Gefühl, er erwarte weitere Erklärungen, doch ich hatte mich nie weiter mit diesem Thema beschäftigt und konnte ihm deshalb nicht mehr sagen. Nachdem ich noch eine Weile in meinen Erinnerungen nach weiteren Details gesucht hatte, gab ich auf und teilte ihm mit, dass das alles sei, was ich ihm darüber sagen könne.
›Ich hatte es schon vermutet und nun bin ich mir eigentlich auch sicher. In dir steckt eine große, noch ungenutzte und ungelenkte Kraft. Ich denke, du musst nur zur Ruhe kommen, deine wirren Gedanken ordnen und dein Chi erkennen und lenken, dann wirst du zu Dingen fähig sein, von denen du jetzt noch nicht einmal träumst.‹
Nach einer kurzen Pause des Nachdenkens fuhr er dann fort:
›Wir müssen erst einmal dafür sorgen, dass dein Geist zur Ruhe kommt. Dass deine vielen, wirr durcheinander springenden Gedanken und Erinnerungen in den Hintergrund treten und deinen Geist nicht mehr belasten, ihn frei machen für Neues und das jeweils Wesentliche.‹
Ich sah ihm in die Augen.
›Wenn das nur so einfach wäre! Ich habe schon oft versucht, zur Ruhe zu kommen. Doch jedes Mal, wenn ich die Augen schließe, steigen all die Erinnerungen in mir hoch. Schuldgefühle erwachen in mir und ich versuche mir vorzustellen, wie mein Leben weiterverlaufen wäre, wenn ich dieses oder jenes anders gemacht hätte!‹
›Ja, ich weiß, es wird nicht einfach sein, doch wenn du jemals zur Ruhe kommen willst und deine Seele jemals Frieden finden soll, dann gibt es keinen anderen Weg, um dieses Ziel zu erreichen. Egal, ob du ein guter Kämpfer werden willst, die Macht deines Geistes voll ausschöpfen möchtest oder einfach nur ein erfülltes oder spirituelles Leben führen willst, dein Geist muss erst einmal frei werden und zur Ruhe kommen. Solange du nicht zur Ruhe gekommen bist, wirst du, besser gesagt dein Unterbewusstsein, dir immer wieder im Weg stehen. Dir wird die Konzentration, die Kraft, das Chi fehlen, um deine Ziele zu verwirklichen. Gerade dein mittelmäßiges Abschneiden beim Kämpfen kann dir am besten zeigen, wie dein ruheloser Geist dich hindert besser zu sein. Du versuchst schon, dich zu konzentrieren, versuchst die richtige Abwehrhaltung oder Schlagtechnik zu finden, doch zur gleichen Zeit springen auch noch andere Gedanken durch deinen Kopf und dein Geist ist zu langsam, um im entscheidenden Moment richtig zu reagieren. Lass zu, dass dein Chi dich in solchen Augenblicken führt und du wirst sehen, dass alles gleich viel besser geht. Doch das braucht noch Zeit, wir müssen erst einmal einen Weg finden, wie du zur Ruhe kommst.‹
Er strich sich mit der linken Hand über seinen kahlrasierten Schädel und zum ersten Mal wurde mir bewusst, dass es bei ihm eine Geste, eine Bewegung war, mit der er alle unwesentlichen Gedanken aus seinem Kopf verbannte, um sich voll zu konzentrieren.
›Ich habe bemerkt, dass du beim Meditieren eigentlich niemals so richtig zur Ruhe gekommen bist, doch als ich vorhin den Tempel betrat und du im Gebet versunken warst, habe ich das erste Mal, seit du bei uns bist, das Gefühl gehabt, dass du für kurze Zeit Frieden gefunden hast.‹
Er schloss kurz die Augen, öffnete sie wieder und sah mir tief in die meinen. Dann fuhr er fort:
›Ich denke, da müssen wir ansetzen. Es ist ein guter Weg, um zur Ruhe zu kommen, wenn man mit Buddha, den Göttern, wenn du mit deinem Gott sprichst. Es ist auch wichtig, dass du das weiterhin tust, denn wenn ein Sohn nicht mehr mit seinem Vater, seinem Mentor, Beschützer und Schild spricht, dann geht die Verbindung verloren und ein Vater, der die Sorgen seines Sohnes nicht kennt, kann ihm auch nicht helfen. Außerdem wirst du merken, dass das auch ein Weg ist, um deine inneren Kräfte freizusetzen und Buddha, dein Gott wird dir dabei helfen. Die Macht der Gedanken ist fast unendlich. Du wirst noch erkennen welche Möglichkeiten dir offen stehen, wenn du deinen Geist, deinen Körper erst einmal richtig beherrschst.‹
Wieder fuhr er mit der linken Hand über seinen Kopf und schloss dabei kurz die Augen.
›Einen Weg, um zur Ruhe zu kommen, kennst du nun. Ihn richtig zu nutzen und die Kraft die daraus erwächst richtig zu nutzen liegt nun an dir. Ich kann dir dabei zwar etwas helfen, doch ich möchte das nicht zu sehr tun, denn dein Chi soll dich stark machen und nicht meins.‹
Er holte tief Luft, als ob er eine lange Rede gehalten hätte. Doch er hatte weiterhin nur in Gedanken mit mir kommuniziert.
›Es gibt noch weitere Wege, um deine inneren Kräfte freizusetzen. Ein wesentlicher und wichtiger Weg ist, dass du dich genau kennenlernst. Und damit meine ich, du musst jede Faser, jede Sehne, jede Ader und jeden Muskel deines Körpers genau kennen. Schließe deine Augen und konzentriere dich auf den kleinen Zeh deines linken Fußes. Stell dir vor wie er aussieht, wie es sich anfühlt, wenn er den Boden berührt. Mach dir bewusst wie wichtig es ist, dass er da ist. Welche Aufgabe er hat und wie er funktioniert.‹
Ich versuchte den Anweisungen Han Liang Tians zu folgen, doch meine Gedanken schweiften immer wieder ab und es war nur ein unvollständiges Bild, das ich mir machen konnte. Frustration stieg in mir auf und verhinderte mehr als alles andere, dass ich mich konzentrieren konnte. Wütend wollte ich aufgeben.
›Ich kann es ja doch nicht! Ich war, bin und bleibe eben immer Mittelmaß! Was soll’s, es …‹
›Denke niemals so!!‹
Han Liang Tians ruhige, mächtige und befehlende Stimme stieg in mir auf und unterbrach mich in meinem Selbstmitleid.
›Du kannst es und du kannst es besser als jeder andere! Das ist es, was du dir sagen musst, damit es funktioniert. Genauso, wie du meine Gedanken hören kannst und wie du mit mir sprechen kannst, ohne deine Stimme zu erheben, genauso kannst du auch mit deinem Körper sprechen.‹
Erschrocken fuhr ich zusammen, als Han Liang Tians Hand mich an meinem kleinen Zeh berührte. Doch sofort spürte ich die Ruhe und Kraft, die ich dadurch gewann und plötzlich ging es! Ich sah den Zeh genau vor meinem inneren Auge. Ich fühlte das Blut durch die kleinen Adern im Zeh rinnen, fühlte die Sehnen und die Haut. Spürte den leichten Luftzug an meiner Haut, als der Abt seine Hand wieder wegnahm. Jetzt konnte ich mir auf einmal vorstellen wie es sich anfühlt, wenn der Zeh den Boden berührt. Wie der Zeh auf den Boden drückt, um den Körper im Gleichgewicht zu halten. Ich sah wie ich lief, wie ich rannte und wie der Zeh meinen Körper im Gleichgewicht hielt. Auf einmal konnte ich spüren, wie unermüdlich und erfolgreich dieses kleine Körperteil unbemerkt seine Arbeit verrichtete und ich bedankte mich bei ihm.
Das riss mich wieder aus meiner Konzentration.
›Ich bedanke mich hier bei meinem kleinen Zeh, als ob er mich hören könnte. Bin ich nun ganz verrückt?‹
›Nein bist du nicht! Genau das ist es, was du tun solltest! Du sollst deinen Körper spüren, erkennen welche Funktion jedes einzelne Körperteil hat, spüren wie es deinem Körper geht und dich bei ihm bedanken, dass er Träger deines Geistes ist. Du warst auf dem richtigen Weg und solltest nun fortfahren. Mach beim nächsten Zeh weiter und beginne eine Reise durch deinen Körper. Eine Reise, bei der du deinen Körper richtig kennenlernst! Und wenn du diese Reise beendet hast und fortan richtig auf die Sprache deines Körpers hörst, wirst du feststellen, dass dir dein Körper viel mehr mitteilen kann als nur Schmerzempfindung, Ermüdung oder Wohlbefinden. Konzentriere dich nun und beginne.‹
Ich schloss die Augen wieder und versuchte es, doch es gelang mir nicht so recht. Erst nachdem ich mich noch einmal in den kleinen Zeh hineinversetzt hatte, fand ich wieder den Einstieg.
Es war ein erstaunliches Erlebnis und ich war erst bei meinem Bauch angekommen, als ich den bohrenden Blick von Han Liang Tian spürte. Ich öffnete die Augen und sah in das lächelnde Gesicht des Abtes. Er erhob sich und durchbrach unseren schweigenden Gedankenaustausch mit den Worten:
›Es ist schon spät und auch kühler geworden. Die anderen werden schon wieder zum Training gegangen sein und ich habe auch noch einige Dinge zu erledigen.‹
Ich erhob mich ebenfalls und fühlte mich erfrischt und voller Tatendrang. Kein Schlaf hatte mich jemals so erfrischt wie dieses Zwiegespräch mit meinem Körper.
Han Liang Tian sah es in meinen Augen und sagte:
›Ich sehe, du hast einen Weg gefunden und es hat dir sehr gut getan. Sprich mit deinem Körper auf diese Art und Weise sooft wie es dir nötig erscheint und lerne jede Faser von dir kennen. Nutze diese Art der Meditation, um dich zu erholen und dem Träger deines Geistes bei der Erfüllung seiner Aufgaben zu helfen. Es ist nur eine Art der Meditation und wenn du sie gut beherrschst, werden dir die anderen Arten keine Probleme mehr bereiten. Du wirst merken, dass dir ganz andere Möglichkeiten offenstehen, wenn Geist und Körper eins geworden sind. Komm nun. Lass es genug sein für heute. Wir werden uns morgen wieder hier treffen und auch in Zukunft sooft es möglich ist.‹
Wir verließen nun den kleinen Tempel. Er in Richtung Haupttempel und ich zum Trainingsplatz. Ich hörte schon von Weitem, dass die anderen das Training wieder aufgenommen hatten. Anscheinend war ich einer der Letzten, die den Platz betraten und Mao Lu Peng hatte das sofort bemerkt.
›Ah, unser Gast hat seine Wunden geleckt und schleppt sich wieder auf den Platz! Übernimm dich nicht! Ruhe lieber noch ein wenig, nicht dass du uns zusammenbrichst und wir dich dann noch pflegen müssen.‹
Ein gehässiges Lachen folgte diesen Worten. Wang Lee und einige andere Mönche schauten besorgt zu mir und befürchteten wohl, dass ich unbeherrscht auf diese Beleidigungen eingehen würde, doch ich fühlte mich so gut nach der Meditation im kleinen Tempel, dass die Beleidigungen an mir abprallten wie Steine an einer Mauer.
Lächelnd sah ich ihm offen in die Augen und konnte mir doch eine zweideutige Antwort nicht verkneifen:
›Ich danke dir für die Sorge um mein Wohlbefinden, Meister. Und ich danke dir für die Lehren, die du mir heute erteilt hast. Sorge dich bitte nicht weiter um mein körperliches Wohlbefinden und lass mich weiter an den Vorzügen deiner Ausbildung teilhaben. Es ist ein Privileg, von dir unterrichtet zu werden und die Erfahrung, die ich dadurch mache, ist durch nichts anderes zu ersetzen.‹
Die rechte Hand senkrecht vor die Brust haltend, verbeugte ich mich vor ihm. Er spürte den Spott in meinen Worten und es machte ihn wütend, doch durch mein ernstes Gesicht und die ehrerbietige Verneigung nahm ich ihm den Wind aus den Segeln. Er wusste nicht so recht, wie er darauf reagieren sollte, doch schließlich kam er zu dem Schluss, dass es besser wäre, wenn er mich als etwas naiv abtat und einer offenen Konfrontation auswich.
›Es ist gut, dass du das endlich einsiehst und ich werde dir gerne zusätzliche Stunden geben, damit du endlich Fortschritte machst!‹
›Ich werde bei Bedarf auf dieses Angebot zurückkommen, Meister.‹
Sorgsam darum bemüht, nicht wieder so viel Spott in meine Worte zu legen, verneigte ich mich nochmals vor ihm und senkte meinen Kopf. Als ich mich wieder aufrichtete, fiel mein Blick auf einige Bäume, die am Rande des Trainingsplatzes standen und ich konnte noch den Abt dahinter verschwinden sehen. Hatte Mao Lu Peng ihn bemerkt? Unauffällig schaute ich aus den Augenwinkeln zu ihm hin. Nein, anscheinend hatte er nichts von der Anwesenheit Han Liang Tians mitbekommen und auch die anderen Mönche waren zu sehr auf die Auseinandersetzung zwischen Mao Lu Peng und mir fixiert, als dass sie Blicke für ihre Umgebung gehabt hätten.
Ich stellte mich neben Wang Lee und nahm erwartungsvoll die Grundstellung ein, um mit dem Training zu beginnen. Nach kurzem Zögern nahm Mao Lu Peng das Training wieder auf.
Wenn ich seinen Blicken begegnete sah ich, dass seine Reserviertheit mir gegenüber nicht mehr weit von offener Feindschaft entfernt war und ich nahm mir vor, ihn wieder zu besänftigen. Folgsam und möglichst fehlerfrei führte ich alle Übungen aus und Wang Lees Versuche, mit mir zu sprechen, bremste ich vorzeitig ab. Auf diese Art brachte ich für den Moment ein wenig Ruhe in die Konfrontation und der Meister konzentrierte sich auf andere, um seinen Frust abzulassen. Das wollte ich zwar auch nicht, doch jedes Mal, wenn ich ansetzte, um etwas dagegen zu unternehmen, hielten mich die Blicke der anderen davon ab.
An diesem Tag merkte ich, dass ich eigentlich sehr viele Freunde unter den Mönchen hatte und dass es nur wenige gab, die so dachten wie Mao Lu Peng oder seine Haltung mir gegenüber teilten. Nach dem Training konnte Wang Lee endlich ungestört mit mir sprechen und sogleich machte er mir Vorwürfe.
›Musste das sein? Warum hast du ihn nur so gereizt? Jetzt wird er dich noch mehr schikanieren! Er wird jede noch so kleine Möglichkeit wahrnehmen, um dir zu zeigen, dass du nach seinem Ermessen nicht hierher gehörst.‹
Es gab nichts, was meine gute Stimmung an diesem Tag trüben konnte. Deshalb zuckte ich nur mit den Schultern und sah ihm lächelnd in die Augen.
›Oh, Buddha, ich finde ja auch, dass es nicht in Ordnung ist wie er dich behandelt, doch ich glaube nicht, dass es gut ist, wenn du ihn zum Feind hast. Selbst wenn der Abt und viele andere hinter dir stehen, hat er immer noch sehr viel Einfluss. Nicht nur hier im Kloster, sondern auch außerhalb des Klosters und er kann dir mit Sicherheit das Leben sehr schwer machen!‹
›Ich weiß, Wang Lee, ich weiß. Und es ehrt mich, dass du dir so viele Gedanken wegen mir machst! Doch wie soll ich mich denn verhalten? Soll ich alles schlucken und über mich ergehen lassen? Soll ich vor ihm kriechen? Heute Vormittag hat er mich gedemütigt und seine Kritik war ja auch berechtigt. Er hat mir eine Lehre erteilt und ich kann es akzeptieren, doch ich muss mich doch nicht immer wieder von ihm beleidigen lassen, oder? Ich kam nicht als Letzter und ich habe mich bemüht, möglichst fehlerfrei zu trainieren. Ich denke auch, dass er nicht viel an meinen Übungen aussetzen konnte.‹
Wang Lee holte mehrmals tief Luft, schüttelte den Kopf, setzte zu einer Erwiderung an und winkte dann ab.
›Was soll’s, es ist geschehen und wir können es nicht mehr ändern. Du solltest in Zukunft bloß aufpassen, dass du ihn nicht noch mehr gegen dich aufbringst!‹
Unzufrieden und missmutig hob er mit den Zehen des linken Fußes einen nicht ganz kleinen Stein vom Boden auf, warf ihn in die Luft und kickte ihn dann mit dem rechten Fuß gegen einen nahe stehenden Baum. Man konnte das Einschlagloch, das der Stein hinterlassen hatte, im Stamm sehen. Erstaunt sah ich auf seinen Fuß, denn es musste doch sehr schmerzhaft sein, wenn man einen Stein mit solcher Wucht mit dem bloßen Fuß wegschoss. Er bemerkte meinen Blick, doch er deutete ihn falsch.
›Was ist? Ich weiß, es war sehr unbeherrscht von mir, doch ich bin eben auch nicht perfekt.‹
›Nein, nein, daran habe ich gar nicht gedacht. Ich habe nur erwartet, dass dir der Fuß schmerzen würde nach diesem Schuss.‹
›Hmff, Gü Man, du stehst immer noch am Anfang deiner Ausbildung und weißt noch nicht sehr viel. Ich war doch darauf vorbereitet und die Haut meines Fußes war in diesem Moment hart wie Leder. Der Stein konnte dem Fuß nichts anhaben, aber so wie du vorhin trainiert hast, lernst du das auch bald. Es war gar kein Vergleich zu heute Vormittag. Ich verstehe gar nicht, warum du plötzlich so gut warst. Was hat denn diese Wandlung bewirkt?‹
Erfreut über das Lob, sah ich hoch und antwortete:
›Oh, danke! Ich habe mir auch sehr viel Mühe gegeben und viel gelernt heute. Ich denke, dass ich nun auch einen Weg gefunden habe, um innerlich zur Ruhe zu kommen, was mir sicherlich bei vielen Dingen helfen wird.‹
Ich sah mich kurz um und nachdem ich sicher war, dass niemand in Hörweite war, sagte ich zu Wang Lee:
›Ich weiß nicht, ob der Abt möchte, dass es alle anderen mitbekommen, doch du hast ja gehört, dass er mich in den kleinen Tempel bestellt hatte. Dort hat er mit mir meditiert und bei mir das Verständnis für meinen Körper geweckt. Ich hätte niemals gedacht, dass so etwas möglich ist, aber ich habe jetzt einen ganz anderen Bezug zu meinem Körper und ich kann es kaum erwarten dort fortzufahren, wo ich geendet habe.‹
Wang Lees Augen leuchteten auf.
›Ah, jetzt versteh ich langsam, was dir bis jetzt gefehlt hat. Dein unruhiger Geist hat dich gehindert auf deinen Körper und dein Chi zu hören. Wenn diese kurze Zeit schon so viel bei dir bewirkt hat, dann bin ich gespannt, wie es sich nun weiterentwickelt. Also, lass dich nicht abbringen von dem Weg, den du nun beschritten hast und scheue dich nicht, mich zu fragen, wenn du Hilfe brauchst. Wenn ich sie dir geben kann werde ich’s gerne tun!‹
Mit diesen Worten trennten wir uns. Er ging zur Abendandacht und ich verließ das Kloster, um mich mit einem Bad zu erfrischen.«

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