Dao

Kapitel 7 – Yin und Yang

Abschnitt 1

»Am darauffolgenden Tag zeigte ich in Form eines Scheinkampfes, was ich schon gelernt hatte. Schweigend aber mit sehr aufmerksamem Blick, folgte der Abt dieser Darbietung, ohne zu zeigen was er davon hielt. Am Ende trat er zu mir heran und fragte:
›Wie lange bist du jetzt schon Schüler von Han Liang Tian?‹
›Seit mehr als drei Jahren bin ich nun im Shaolin-Kloster.‹
Er nickte. ›Ich verstehe mich nicht so gut auf den Shaolin-Stil, doch ich denke, du bist schon erstaunlich weit gekommen in dieser Zeit.‹
Er umfasste hinter seinem Rücken die rechte mit der linken Hand, und ging einige Schritte hin und her.
›Wenn ich dir etwas von dem beibringen soll, was wir hier praktizieren, musst du aber in manchen Dingen umdenken, denn diese Art des Kampfes unterscheidet sich grundsätzlich von der, die du jetzt ausübst.‹ Er blieb stehen und schaute mir tief in die Augen. ›Als erstes musst du wissen, dass wir im Gegensatz zu den Shaolin- Mönchen nicht trainieren um des Kampfes Willen, sondern nur, um uns zu verteidigen.‹
Wang Lee wollte erregt widersprechen, doch der Abt schnitt ihm das Wort ab.
›Nicht alle sind so, das weiß ich wohl‹, sagte er zur Beruhigung Wang Lees. ›Dennoch unterscheiden sich unsere Lehren in einigen Punkten grundlegend. Die Kampfweise der Shaolin ist vorrangig auf Angriff ausgerichtet. Bei uns ist das ein wenig anders. Wir führen diese Übungen aus, um unsere Gesundheit zu erhalten und zu verbessern, um die Meditation zu unterstützen und natürlich, um uns besser verteidigen zu können.‹
Wieder legte er die Hände auf den Rücken und begann hin und her zu laufen.
›Damit du es besser verstehen kannst, muss ich dir erst einmal einige Dinge erklären‹, sagte er zu mir gewandt. ›Bei unserer Kampfkunst spielt auch unser Glaube eine große Rolle. Dem Dao, dem Weg, ist alles unterworfen oder besser gesagt untergeordnet. Alles steht in einer ständig wechselnden Beziehung, dem Yin und dem Yang. Diese beiden Dinge sind ständig im Widerstreit und gleichen sich doch immer wieder aus. Yang ist die Bewegung und Yin die Ruhe. Wenn du diese beiden Dinge in Einklang miteinander bringst, wirst du sehen, dass nichts einen Anfang und nichts ein Ende hat. Schau dir die Jahreszeiten an. Im Frühling beginnt das Leben, steigert sich bis zu seiner Blüte im Sommer, seiner Reife im Herbst und ruht dann im Winter, um im darauffolgenden Frühling wieder von vorn zu beginnen. Das ist Yin und Yang.‹ Er blieb vor mir stehen und sah mich an. ›Dieser Widerstreit der Elemente beherbergt eine große Kraft und ist gleichzeitig dazu da, immer wieder das Gleichgewicht herzustellen. Darauf basiert unsere Kampfkunst.‹ Wieder ging er einige Male hin und her. ›Han Liang Tian hat geschrieben, dass Tai Chi nichts Neues für euch ist und er hat mich gebeten, es euch richtig zu lehren. Das hat mich verwundert, denn ich weiß, dass das nicht zu den Lehren des Shaolin gehört. Wird es jetzt doch bei euch gelehrt?‹
Ich sah Wang Lee bittend an, damit er antwortete, da ich ja immer noch nicht alles wusste, was im Shaolin- Kloster vorging. Er verstand das sofort und sprang für mich ein.
›Nein, es gehört nicht zur allgemeinen Lehre bei uns. Nur wenige führen es aus und auch meist nur die Älteren. Von den Jüngeren wird es in der Regel nur belächelt. Han Liang Tian hat es von einem Mönch gelernt, der einige Jahre bei euch war und dann zu uns zurückkam. Er sagt immer wieder, dass es ihm bei der Meditationsvorbereitung hilft oder besser gesagt, schon eine Art der Meditation ist. Seiner Meinung nach setzt es seine inneren Kräfte frei.‹
Aufmerksam hatte Tiang Li Yang zugehört und am Ende anerkennend den Kopf geneigt.
›Euer Abt ist ein sehr kluger Mann und hat die Bedeutung vollkommen richtig erkannt. Beim Tai Chi muss man sich vollkommen auf die Bewegungen konzentrieren und schaltet somit alle anderen Gedanken aus. Deshalb kommt man zur Ruhe und kann entspannt meditieren.‹ Er senkte den Kopf und dachte einen Augenblick lang nach.
›Ich denke, hier müssen wir ansetzen. Zeigt mir doch einmal die Übungen, die ihr mit eurem Abt ausgeführt habt.‹
Wir kamen seiner Aufforderung nach und zeigten ihm, was wir konnten, doch nach einer Weile unterbrach er uns.
›Halt, halt das ist zwar nicht schlecht, doch euch fehlen noch viele grundlegende Aspekte.‹
Er nahm die Grundhaltung vor uns ein und fuhr mit seinen Erläuterungen fort:
›Die Füße stehen fest auf dem Boden, nicht so in ständiger Bewegung wie bei euch. Die Augen richtet ihr entspannt auf eure Hände und folgt den Bewegungen. Aber ihr nehmt auch eure ganze Umgebung wahr, sodass euch nichts entgeht. Macht es mir nun nach.‹
Er begann, uns gegenüberstehend, einige komplexe Bewegungsabläufe vorzumachen, die wir zu imitieren versuchten. Es gelang uns nicht gleich auf Anhieb, doch mit viel Geduld übte er mit uns weiter. So ging es einige Stunden, bis er abbrach und sagte:
›Gut, das sollte für heute reichen. Ich werde euch nun verlassen, da ich auch noch einige andere Dinge zu erledigen habe. Ihr könnt gerne noch weiterüben. Morgen werde ich euch dann die nächsten Elemente beibringen.‹
Wir übten noch ein Stück weiter, doch bald gingen wir auf Wang Lees Bitte hin zum Shaolin-Stil über. Auch das Krafttraining, das während unserer Wanderschaft zu kurz gekommen war, nahmen wir wieder auf und so begann meine Lehrzeit in Wudang.
Tiang Li Yang war ein geduldiger und guter Lehrer. Bald merkte ich, dass diese Tai Chi-Übungen mir sehr viel mehr brachten als das, was ich bisher gemacht hatte. Nicht, dass es schlecht gewesen wäre, was ich bisher von Han Liang Tian gelernt hatte, es war auf jeden Fall eine gute Grundlage. Doch leider hatte Han Liang Tian es nicht von so einem guten Lehrer vermittelt bekommen und sich das meiste selbst angeeignet. Vielleicht spielt ja auch der Glaube eine große Rolle beim Erlernen. Der Buddhismus unterscheidet sich doch wesentlich vom Taoismus und dieser beinhaltet ja den Grundgedanken, der im Tai Chi steckt.
Jeden Tag zeigte uns der Abt Neues und gab uns auch die nötigen Erläuterungen dazu. Mir fiel es relativ leicht, diese Art der Bewegung anzunehmen, doch Wang Lee hatte da größere Probleme. Zum einen war er fest verwurzelt in seinem buddhistischen Glauben, er konnte dem Taoismus nichts abgewinnen, und zum anderen hatte er schon als Kind die Shaolin-Kampftechnik erlernt und konnte sich nun nur schwer mit den weichen, fließenden Bewegungen anfreunden. Deshalb trainierten wir auch weiterhin einen großen Teil des Tages nach Shaolin-Art. Ich fand, dass sich beides wunderbar ergänzte und begann nach einiger Zeit, beide Elemente zu vermischen. Tiang Li Yang sah das am Anfang gar nicht gern und protestierte heftig dagegen, aber mit der Zeit konnte ich ihn überzeugen, dass es für mich richtig war. Er akzeptierte es dann, obwohl er niemals Elemente davon übernahm.
Bei einer der nächsten Übungsstunden unterbrach er uns wieder einmal.
›Nein, nicht so! Ich hatte euch doch schon gesagt, die Körperhaltung soll aufrecht und entspannt sein. Nicht so verkrampft wie bei euch jetzt. Bewegt euch langsam und gleichmäßig, nicht so stoßweise und mit so viel Kraft. Führt die Bewegungen ohne Anstrengung, harmonisch und rund aus. Es steckt immer noch eure Shaolin-Technik mit darin. Verabschiedet euch endlich einmal davon!‹
Verärgert drehte sich Wang Lee um und ging, ohne ein Wort zu sagen, davon.
›Wang Lee!‹, rief ich, ›bleib hier! Geh doch nicht weg.‹ Doch er winkte nur ab und verschwand hinter einem Gebäude.
Tiang Li Yang richtete sich auf und schaute mich traurig an. ›Entschuldige, das war sehr unbeherrscht von mir und ich habe ihn verletzt. Vielleicht sollten wir für heute aufhören und du gehst ihm hinterher und trainierst den Rest des Tages Shaolin mit ihm.‹
Ich nickte ihm dankbar zu.
›Sag ihm bitte, es täte mir leid und ich hätte es nicht böse gemeint. Auch ich bin nicht perfekt und habe einmal einen schlechten Tag. Und sag ihm auch, dass ich ihn und seine Art zu kämpfen achte und respektiere. Sie hat seine Berechtigung und er ist von klein auf mit ihr vertraut. Doch ich möchte euch, auch ihm, mehr von unserer Art vermitteln und lehren. Ob er das dann annimmt und anwendet, ist allein seine Entscheidung und ich werde sie immer respektieren.‹ Leiser und nachdenklicher fügte er dann noch hinzu: ›Es ist eben immer viel schwieriger einen, der schon fertig ist, mit etwas völlig anderem vertraut zu machen. Einen Stein, der schon bearbeitet ist, gibt man nicht so schnell und gut eine neue Form wie einem, der noch roh und unbehandelt ist.‹
›Ich werde mit ihm reden‹, sagte ich und lief Wang Lee nun schnell hinterher.
Als ich um die Gebäudeecke bog, wäre ich fast über seine Beine gestolpert. Er saß dort, den Rücken an die Wand gelehnt und stierte auf den Boden. Langsam ließ ich mich neben ihm nieder und wollte ihm sagen, was der Abt mir nachgerufen hatte. Doch er unterbrach mich gleich.
›Ich habe es gehört! Und auch verstanden.‹ Er holte tief Luft. ›Ach, Gü Man, mir fehlt unser Klosterleben. Es ist alles so anders hier und ich will doch meinen Glauben nicht verraten. Es fällt mir schwer, mich hier einzuleben und ich möchte am liebsten wieder zurück. Warum müssen wir denn so lange wegbleiben?‹
Ich konnte ihn verstehen und er tat mir sehr leid, denn er war ja nur mir zuliebe hier.
›Möchtest du zurück? Ich denke, du musst nicht hierbleiben und kannst ohne Probleme nach Shaolin zurückkehren.‹ Er sah auf und mir in die Augen. ›Ich denke, dass er nur mich gemeint hat, als er schrieb, dass ich länger hierbleiben sollte. Für dich war das bestimmt nicht gedacht. Es wird zwar nicht so schön sein, wie mit dir, denn du bist mein einziger und der beste Freund, den ich jemals hatte, doch wenn es dich quält, dann haben wir beide nichts davon.‹
Ich schaute ihm bei diesen Worten fest in die Augen und nun senkte er seinen Blick und sagte beschämt:
›Entschuldige, Gü Man, so war das nicht gemeint! Ich werde dich niemals verlassen. Von dem Tag an, als wir dich zum Kloster geleitet haben, gab es ein Verbindung zwischen uns. Ich kann nicht sagen warum, doch inzwischen ist es so, als wärest du mein Bruder. Und nun lass uns aufstehen und Shaolin üben!‹
Er wollte sich erheben, doch ich stoppte ihn, da ich das Gefühl hatte, dass er mir nicht alles gesagt hatte.
›Warte, Wang Lee! Warte. Du hast gesagt, dir fehle das Klosterleben. Du meinst sicherlich die Ausübung deines Glaubens, die Zeremonien und gemeinsamen Gebete?‹ Ich sah in seinen Augen, dass ich das Richtige getroffen hatte und fuhr schnell fort: ›Ich denke nicht, dass dich hier irgendeiner von deinem Glauben abbringen will. Im Gegenteil, ich glaube, dass jeder hier deinen und auch meinen Glauben achtet und respektiert. Schau mal, meinen Glauben kennt keiner von euch, nicht einmal Han Liang Tian hat ihn gekannt, und dennoch hat niemals irgendeiner versucht, mich zu eurem Glauben zu bekehren. Ich habe keinen, mit dem ich über meinen Glauben reden kann, da ihn niemand hier oder in Shaolin kennt, doch er steckt bei mir hier drin, so wie dein Glaube bei dir hier drin steckt.‹ Dabei deutete ich erst auf meine und dann auf seine Brust. ›Solange du ihn darin bewahrst und pflegst, wird er immer da sein und keiner kann ihn dir wegnehmen!‹ Ich merkte, dass ihm meine Worte halfen, denn langsam hellte sich sein Gesicht auf.
›Danke, Gü Man, ich habe in meinem Kummer gar nicht daran gedacht, dass es für dich ja noch viel schwerer war und vielleicht immer noch ist. Du hattest, als du bei uns ankamst, gar niemanden. Du konntest nicht einmal unsere Sprache und bist dennoch nicht verzweifelt.‹
Ich lachte kurz auf. ›Na so einfach ist das auch wieder nicht. Bei mir waren das völlig andere Voraussetzungen und was die Sprache betrifft, die kann ich ja immer noch nicht richtig, vom Schreiben und Lesen mal ganz zu schweigen.‹ Ich hatte mich erhoben. ›Übrigens, die Menschen hier verstehe ich noch viel schlechter als die Leute in Shaolin. Auch habe ich das Gefühl, dass sie mich hier kaum verstehen.‹
›Das ist auch nicht verwunderlich. Hier wird ein ganz anderer Dialekt gesprochen und selbst ich beherrsche ihn mehr schlecht als recht. Doch was das Schreiben und Lesen anbetrifft: Wenn du möchtest, werde ich dir beibringen, was ich kann. Es ist zwar nur das nötigste, denn alle Schriftzeichen beherrsche ich nicht. Doch um die wichtigsten Dinge zu lesen, reicht es allemal.‹
›Wenn uns Zeit bleibt neben unseren Übungsstunden, können wir das gerne machen.‹
›Gut, aber komm jetzt, ich muss jetzt etwas Shaolin-Boxen üben, um auf andere Gedanken zu kommen.‹
Wir gingen zu der Stelle, die wir schon in den letzten Tagen zum Trainieren genutzt hatten und verbrachten den restlichen Tag damit.
Am nächsten Tag trafen wir uns wieder mit Tiang Li Yang, um unsere Ta Chi-Übungen fortzusetzen. Wang Lee war mitgekommen, saß aber mit trotzigem Gesicht auf den Stufen, die zu einem kleinen Podest hinaufführten und schaute uns zu.
Als Tiang Li Yang gekommen war, wollte er gleich zu Wang Lee hingehen und mit ihm reden, doch ich gab ihm mit den Augen einen Wink und er beließ es bei einem freundlichen Gruß.
Wir hatten schon eine ganze Weile geübt, als Tiang Li Yang mich wieder einmal verbesserte.
›Warte, deine Bewegungen sind immer noch viel zu eckig. Du musst deine Arme kreisförmig in einer Verlängerung der Körperbewegung führen.‹ Er machte es mir noch einmal vor. ›Sanft und geschmeidig, auf keinen Fall stoßweise. Deine Finger sind völlig weich und bewegen sich als eine Fortsetzung der Arme.‹ Ich machte es nach und versuchte, seine Anweisungen umzusetzen. ›Gut, sehr gut. Du bist auf dem richtigen Weg.‹
Langsam kam ich dahinter und es machte mir Freude, diese geschmeidigen Bewegungen auszuführen. Was mich aber noch viel mehr freute war, dass Wang Lee nun zu uns gekommen war und mitmachte. Er hatte immer noch ein abweisendes Gesicht aufgesetzt, doch ich kannte ihn nun schon länger, und wusste, dass es eigentlich nur noch Show war.
Es war eine völlig neue Erfahrung, auf diese Art und Weise die Übungen durchzuführen. Mit der Zeit wurde ich immer ruhiger und entspannter dabei, war zugleich aber aufmerksam und steuerte bewusst sämtliche Bewegungen. Selbst Wang Lee gab später einmal zu, dass er bei keiner anderen Übung so intensiv spüre, dass sein Körper eine komplexe Einheit bildet.
›Es ist schon erstaunlich, es fühlt sich so an, als ob alles zusammenhängt. Alles ist miteinander verbunden und wenn ich den einen Teil bewege überträgt sich die Bewegung gleichmäßig auf die anderen Körperteile. Es ist, als wenn ich mit einem Seil schlüge. Die Bewegung setzt sich gleichmäßig von einem Ende zum anderen hin fort, nur viel, viel sanfter.‹
Ich fühlte das auch so, und genau das war es, was uns Tiang Li Yang vermitteln wollte. So vergingen die Tage und Wochen, und ich wurde langsam ungeduldig, da wir immer nur Tai Chi übten und er uns noch nichts von ihrer Kampfkunst gezeigt hatte. Nachdem wir schon fast zwei Monate in Wudang waren, hielt ich es nicht mehr aus und fragte ihn.
›Tiang Li Yang, du hast uns bisher immer noch nichts von eurer Kampfkunst gezeigt. Wir üben immer nur Tai Chi. Denkst du, wir sind noch nicht so weit?‹
›Ja, und nein! Ja, weil ihr es sicherlich, wenn auch schlecht, anwenden könnt. Nein, weil ihr immer noch nicht verstanden habt, dass ihr, auf eine gewisse Art und Weise, eigentlich schon unsere Kampfart trainiert.‹ Ich schaute ihn verständnislos an. Er lächelte und fuhr fort: ›Schau, Tai Chi ist ein wesentlicher Bestandteil unser Kampfart. Wenn du Tai Chi richtig beherrschst, ist es kein Problem mehr, unseren Stil zu erlernen.‹ Ich begriff es immer noch nicht richtig.
›Was lernst du zum Beispiel beim Tai Chi?‹ Er sah mich an und wartete auf meine Antwort, doch ich wusste nicht, worauf er hinaus wollte und zuckte nur mit den Schultern. Ein leichter Unmut flog kurz wie ein Schatten über sein Gesicht, doch diesmal ließ er sich nichts anmerken und fuhr ruhig in seinen Erläuterungen fort.
›Du lernst zum Beispiel, jeden Schritt so ruhig wie das Schleichen eines Panthers zu machen und dabei deine ganze Aufmerksamkeit auf deine Bewegungen und dein Umfeld zu richten. Wenn du die Bewegungen während des Kampfes so sanft und gleichmäßig ausführst, wie beim Tai Chi, kannst du den härtesten Schlag mit einer sanften Bewegung zurückweisen. Dadurch, dass dein ganzer Körper hinter dieser Bewegung steht und deine Füße fest auf dem Boden verwurzelt sind, kann deine innere Kraft von den Füßen her, durch die Beine, über die Hüften und den Oberkörper in die Arme und Finger fließen. Genau das übst du beim Tai Chi aus, und genau das ist die Grundlage unserer Kampfweise.‹
Langsam ging mir ein Licht auf.
›Ich sagte dir ja schon, dass unsere Art zu kämpfen sich grundlegend von der der Shaolin unterscheidet. Du siehst also, dass du eigentlich schon die ganze Zeit unsere Art zu kämpfen trainierst.‹
Ich nickte bestätigend, und langsam wuchs das Verständnis für die Lebens- und Kampfweise dieser Mönche. Da ich jetzt anders an die Übungen heranging, fiel es mir viel leichter, Tiang Li Yangs Anweisungen zu folgen. Doch Wang Lee hatte nach wie vor Probleme und konnte mir auch nicht folgen, wenn ich sagte, dass sich diese beiden Arten des Kampfes eigentlich wunderbar ergänzten.
Mittlerweile hatte sich sein Verhältnis zu Tiang Li Yang aber wieder eingerenkt. Es war fast wieder wie in den ersten Tagen und dadurch, dass wir weiterhin viel Shaolin trainierten, fiel ihm das Hiersein auch nicht mehr ganz so schwer.
Besonders eine kleine Begebenheit förderte es, dass sich die beiden wieder näher kamen. Wir hatten schon ein ganze Weile Tai Chi trainiert als ich merkte, dass Tiang Li Yang unzufrieden war. Ich beobachtete ihn intensiver und sah, dass er ständig zu Wang Lee hinblickte und mit dessen Übungen nicht einverstanden schien. Doch offensichtlich wagte er es nicht, ihn zu korrigieren, um nicht schon wieder seinen Unmut zu erregen. Wang Lee schien es nicht zu bemerken und ich konnte nicht so recht sehen, was es war, das ihn so sehr störte.
Nach einer Weile entschloss ich mich, vorsichtig vermittelnd einzugreifen. Unauffällig machte ich Wang Lee auf den Abt aufmerksam und dieser bemerkte ebenfalls, dass diesen etwas störte. Nachdem er ihn eine Weile schweigend beobachtet hatte, aber nicht dahinterkam, was es sei, richtete er sich plötzlich auf und fragte Tiang Li Yang offen nach dem Grund. Das überraschte den Abt und er brauchte erst einmal einen Augenblick, um sich auf die Situation einzustellen. Dann sagte er, sorgfältig die Worte wählend, um Wang Lee nicht wieder zu verprellen:
›Ich weiß, dass bei euch im Kloster sehr viel Wert auf die Beinarbeit gelegt wird und ihr die Beine auch sehr viel beim Kampf einsetzt. Es hat bei eurer Kampfweise ja auch seine Berechtigung und gibt euch in bestimmten Situationen einen großen Vorteil, doch bei uns wird das anders gehandhabt.‹ Er holte tief Luft, als ob er vor den nächsten Sätzen erst einmal Kraft schöpfen müsste und sprach dann vorsichtig weiter. ›Wenn du erlaubst, möchte ich dir gerne sagen, was bei uns anders gemacht wird. Ob du es dann anwendest oder nicht, liegt allein in deiner Entscheidung.‹
Fragend sah er Wang Lee an und ich konnte in seinen Augen die Unsicherheit sehen, die ihn plagte. Er wollte Wang Lee nicht verletzen und konnte doch nicht so weitermachen, wenn dieser etwas davon lernen sollte.
Mit einem entspannten Auflachen entschärfte Wang Lee die Situation.
›Natürlich sollst du es mir sagen, wenn ich Fehler mache. Es tut mir leid, dass ich damals so dumm reagiert habe, doch es fällt mir leider nicht so leicht, mich auf diese ganz andere Art und Weise einzustellen. Doch wenn ich es falsch mache, bringt es doch gleich gar nichts, oder?‹
Das Gesicht des Abtes hellte sich auf, und wesentlich entspannter antwortete er.
›Ja, du hast recht. Ich wollte aber nicht schon wieder verletzend wirken.‹ Er nahm die Grundstellung ein und zeigte Wang Lee, was er meinte. ›Bei uns werden die Beine kaum zum Kämpfen eingesetzt. Sie sind dazu da, dem Körper Halt zu geben und ihn im Gleichgewicht zu halten. Außerdem ist es sehr wichtig, dass du einen festen Stand hast wenn du einen harten Schlag zurückweisen willst oder ihn gar nutzen möchtest, um die Kraft gegen deinen Gegner zu wenden.‹
Tiang Li Yang begann mit der Vorführung einiger komplexer Tai Chi-Übungen. Er verlagerte den Schwerpunkt ständig von einem Bein aufs andere, hielt aber den Körper dabei im Gleichgewicht.
›Das, was du hier siehst, ist ein Grundelement unserer Kampfweise und des Tai Chi. Die Füße stehen fest auf dem Boden, die Beine sind dabei leicht gespreizt. Dadurch hast du einen festen Stand und kannst gleichzeitig ohne Anstrengung das Gewicht von einer Seite auf die andere verlagern. Yin und Yang!‹ Er wiegte sich geschmeidig in den Hüften und man sah, dass es schwerfallen würde, ihn in dieser Position zu Fall zu bringen. Auch Wang Lee folgte aufmerksam seiner Vorführung und ich sah mit Freude, dass er dabei angedeutet die Bewegungen nachahmte.
›Also, deine Füße sind fest mit dem Boden verwurzelt und du kannst die Kraft von ihnen aus, wie in einer Welle, zu deinen Händen führen. Dabei wird sich die Welle bis zum Endpunkt, durch den festen Ausgangspunkt, immer weiter verstärken, bis sie ohne große Kraftanstrengung, in einem Vielfachen zur Wirkung kommt.‹
Er hatte bei diesen Worten, mit leicht gespreizten Beinen, eine sanfte Bewegung des ganzen Körpers von unten nach oben gemacht. Dabei hatte er sich leicht nach vorn geneigt und ließ die Kraft mit dem rechten Handballen nach vorn schnellen. In dieser Bewegung war alles. Sie war gleichmäßig, rund und geschmeidig, aber auch schnell und hatte ein Ergebnis, das wir beide nicht erwartet hatten. Vor ihm auf einer Säule der steinernen Einfassung des Platzes war eine etwa zwei Fäuste große Kugel gewesen. Diese war durch irgendetwas schon abgebrochen worden und lag nun nur noch lose auf der Säule. Tiang Li Yang hatte seine Bewegung etwa zehn Zentimeter vor dieser Kugel enden lassen. Jedenfalls konnte weder Wang Lee noch ich sehen, dass er sie berührt hatte. Doch nun flog sie mit großer Geschwindigkeit durch die Luft und schlug etwa acht Meter entfernt, ein kleines Loch hinterlassend, in die Mauer des Tempelvorplatzes ein.
Verblüfft schauten wir von ihm zur Kugel. Doch er ging überhaupt nicht auf unsere fragenden Blicke ein.
›Seht ihr, so kann ich mit einer relativ kleinen Anstrengung eine große Wirkung erzielen. Doch bis ihr das könnt, müsst ihr noch viel lernen.‹
›Wie ist das …?‹ Doch ich kam nicht dazu, die Frage auszusprechen. Tiang Li Yang unterbrach mich:
›Ihr müsst erst einmal das Grundprinzip begreifen und erlernen, bevor ihr überhaupt daran denken könnt, diese Kraft zu beherrschen.‹ Er stand nun wieder völlig entspannt vor uns, als wäre nichts gewesen. ›Ist euch noch etwas aufgefallen, als ich die Bewegung eben gemacht habe?‹ Fragend schaute er von einem zum anderen. Doch wir schüttelten beide den Kopf.
›Ich habe es fast befürchtet. Also, ein weiteres wichtiges Element des Tai Chi und des Kampfes ist die Atmung. Als ich mit dem Bewegungsablauf begann, bin ich nach unten gegangen, um die Kraft mithilfe dieses Schwungs nach oben zu holen. Dabei habe ich tief, bis in den Bauch hinunter, eingeatmet und als ich die Kraft nach oben strömen ließ, habe ich das Ausatmen mitgenutzt, um die Energie noch zu verstärken. Nur in dieser Kombination ist es überhaupt möglich, so eine Wirkung zu erzielen.‹
Diese Vorführung hatte auch auf Wang Lee großen Eindruck gemacht und es erschien ihm jetzt nicht mehr ganz so abwegig, diese fremde Art des Kämpfens zu studieren. Es fiel ihm nun viel leichter, sich in das Tai Chi hinein zu versenken und er begann langsam meine Denkweise, dass sich die beiden Stile wunderbar ergänzten, zu verstehen. Doch unsere täglichen Trainingseinheiten im Shaolin-Boxen gaben wir nicht auf.

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