Dao

Kapitel 13 – Schlechte Nachrichten

Abschnitt 2

Ich schloss die Augen und kämpfte mit den Tränen. Der Mann, der mich freundlich hier aufgenommen, meinem Leben einen neuen Sinn gegeben und mich so viel gelehrt hatte, war nicht mehr. Es war, als wäre ein Teil von mir nicht mehr da. Selbst hier, so weit weg von Shaolin hatten mich seine Gedanken und Lehren bewegt. Ohne ihn wäre ich niemals so weit gekommen. Es war schwer, mir Shaolin ohne ihn vorzustellen. Nun würde es noch schwieriger für mich sein oder gar unmöglich, in Shaolin weiterzuleben.
Ich rief mir sein gütiges, freundliches Gesicht ins Gedächtnis zurück. Erinnerte mich an den hilfreichen Gedankenaustausch mit ihm. Erst als Tiang Li Yang mir die Hand auf die Schulter legte, kehrten meine Gedanken in die Gegenwart zurück.
›Nur sein Körper ist von euch gegangen! Sein Geist lebt weiter! In euch und in all den anderen, die seine Lehren angenommen haben. Ein Teil von ihm steckt in jedem von euch! Wenn ihr in seinem Sinne handelt ist es, als wäre er weiterhin bei euch. Bedenkt das und es wird euch leichter fallen, sein Gehen zu akzeptieren.‹
Er hatte recht, dennoch fiel es mir schwer anzunehmen, dass ich diesen gütigen Menschen nun nie mehr sehen oder sprechen sollte. Wieder hatte ich einen Menschen verloren, der mir sehr viel bedeutete. Wieder merkte ich erst, als ich damit konfrontiert wurde, wie groß dieser Verlust war und wieder drohte ich den Halt zu verlieren.
Doch durch diesen Mann hatte ich so viel gelernt, dass diese Gedanken nicht lange anhielten. Nach einigen Minuten schaute ich auf und fragte:
›Wann brechen wir auf?‹
›Wie meinst du das?‹, fragte mich Chen Shi Mal.
›So, wie ich es gesagt habe. Wann brechen wir auf? Er wird zwar schon zur letzten Ruhe gebettet sein und wir können nur noch sein Grab besuchen, doch es hält mich nun nichts mehr hier. Ich möchte mit Wang Lee sprechen, denn ihn wird dieser Verlust noch mehr treffen als mich, und ich möchte verstehen, warum er so plötzlich gestorben ist.‹
Ich sah in die immer noch verständnislos blickenden Augen von Chen Shi Mal und fügte hinzu:
›Außerdem muss nun ein neuer Abt gewählt werden und wenn mir das Han Liang Tian richtig erklärt hat, sollten alle hohen Würdenträger des Klosters daran teilnehmen. Auch ihr zwei müsst an dieser Wahl teilnehmen. Ich bin kein Mönch, meine Stimme zählt also nicht, doch ich hoffe, dass es genügend Meister und andere Würdenträger gibt, die für einen Abt stimmen, der das Kloster in Han Liang Tians Sinne weiterführt. Sollten aber nicht genügend vernünftige Mönche da sein, erhält Mao Lu Peng die Chance, auf die er hofft. Ich glaube nicht, dass das in eurem Sinne wäre!‹
Daran hatte Chen Shi Mal noch gar nicht gedacht. Ich konnte in seinem Gesicht sehen, dass ihn diese Gedanken nun sehr beschäftigten. Mao Lu Peng wollte er sicherlich nicht als Abt haben! Auch Liu Shi Meng dachte so, doch einige der Meister, die ebenfalls ihre Stimme abgeben konnten, standen unter dem Einfluss von Mao Lu Peng, weshalb die Wahl knapp werden konnte.
›Liu Shi Meng, weißt du wie schnell der neue Abt gewählt werden wird?‹
›Nein! Doch ich denke, dass es nicht so schnell gehen wird. Wir haben hohen Winter. Die Bestattung wird, wegen des starken Frostes, nicht so schnell erfolgt sein. Wenn ich Wang Lee und Hu Kang richtig einschätze, dann werden sie darauf hoffen, dass wir so schnell wie möglich zurückkommen und die Wahl bis dahin hinauszögern.‹ Er überlegte einen Augenblick und fuhr dann fort:
›Wang Lee hat zwar nichts in dieser Richtung gesagt als er mich fragte, ob ich euch die traurige Nachricht überbringe, doch ich denke nun, dass es ihm auch wichtig wäre, dass Chen Shi Mal zur Wahl wieder in Shaolin ist.‹
›Glaube ich nicht!‹, sagte ich entschieden. ›Wenn er daran gedacht hätte, dann wäre es sehr leichtsinnig gewesen, einen weiteren Meister, der eine vernünftige Stimme abgeben würde, wegzuschicken. Ich denke, er wollte uns diese Nachricht nur durch einen vertrauenswürdigen Menschen schicken und hat in diesem Moment gar nicht an die weiteren Folgen gedacht. Deshalb bin ich jetzt umso mehr der Ansicht, dass wir so schnell wie möglich aufbrechen sollten.‹
Nach einigem Hin und Her stimmten mir die beiden zu. Wir kamen überein, spätestens in zwei Tagen aufzubrechen. Liu Shi Meng brauchte auch noch Ruhe, um sich von den Anstrengungen seiner Anreise zu erholen. Außerdem hofften wir, dass bis dahin der Schneefall nachlassen würde.
Obwohl Tiang Li Yang sehr bedauerte, dass wir ihn schon wieder verließen, stimmte er uns zu, dass wir so schnell wie möglich aufbrechen sollten, um nach Möglichkeit noch vor der Wahl des neuen Abtes in Shaolin einzutreffen. Er schickte nach einem Wandermönch, der den Winter im Kloster verbrachte, und fragte diesen nach der günstigsten Reiseroute. Der Wandermönch kannte die Strecke sehr gut, da er schon mehrfach in dieser Richtung unterwegs gewesen war. Er schilderte uns eine Route, auf der wir an jedem Abend eine Herberge oder ein Dorf zum Übernachten erreichen konnten. Das war sehr wichtig für uns, denn der starke Wintereinbruch würde die Reise sicherlich sehr beschwerlich werden lassen.
Am zweiten Tag nach der Ankunft von Liu Shi Meng brachen wir bei strahlendem Sonnenschein auf. Der Schneefall hatte ausgesetzt und die frische weiße Decke blendete, sodass wir die Augen nur zu schmalen Schlitzen öffnen konnten. Durch den Neuschnee, der teilweise zu hohen Wehen aufgetürmt war, bahnten wir uns den Weg in Richtung Norden. An den ersten Tagen hatten wir Mühe, unser abendliches Ziel zu erreichen, doch als wir das Gebirge verlassen hatten, wurde es besser. Die Wege waren schon von anderen begangen worden, sodass wir schneller vorankamen. Glücklicherweise hielt das kalte, wolkenlose Wetter an, denn bei Tauwetter und aufgeweichtem Boden hätten wir das Tempo nicht halten können. Wir waren nun auf einer vielbegangenen Handelsroute und kamen gut voran. Erst als wir das Song Shan Gebirge erreichten, änderte sich das wieder und wir hatten Mühe, unser Tagesziel zu erreichen.
Nur noch vier Tagesreisen trennten uns von unserem Ziel, als uns ein starker Schneesturm zwang, mitten am Tag Rast zu machen. Wir suchten Schutz in einem kleinen Wäldchen und in einer geschützten Mulde krochen wir unter unsere Decken. Chen Shi Mal und Liu Shi Meng zitterten am ganzen Körper. Auch unter ihren Decken wurden sie nicht richtig warm. Es gelang mir, an der geschützten Seite der Mulde, den Schnee zum großen Teil zu entfernen und dort krochen wir so gut es ging zusammen unter unsere Decken. Da ich seit Winterbeginn wieder Tumo ausführte, gelang es mir relativ schnell, genügend Hitze unter diesem Schutz zu erzeugen, um die beiden wieder aufzuwärmen. Mit unseren Wanderstäben hielten wir zur windabgewandten Seite eine kleine Öffnung frei, um genügend Sauerstoff zu bekommen. Dennoch war die Luft unter den Decken recht stickig, und ein Mensch mit einer empfindlichen Nase hätte sicherlich bald die Flucht ergriffen.
Erst in der Nacht ließ der Sturm nach und als wir am Morgen aufbrachen, hatten wir Mühe uns durch den hohen Schnee voranzukämpfen. Behindert durch die verschneiten Wege, erreichten wir am späten Nachmittag das Ziel, das wir am Vortag hatten erreichen wollen.
Unglücklicherweise setzte am nächsten Tag auch noch Tauwetter ein und es wurde immer schwieriger voranzukommen. So erreichten wir erst achtunddreißig Tage nach unserem Aufbruch das Shaolin-Kloster. Fast unbemerkt betraten wir den Klosterbereich kurz bevor das Tor geschlossen wurde. Noch bevor wir uns vom Koch einen heißen Tee und eine kleine Mahlzeit zubereiten ließen, suchten wir Wang Lee auf. Dieser war sehr froh über unsere Ankunft und teilte uns mit, dass die Wahl des neuen Abtes trotz heftigen Drängens von Mao Lu Peng noch nicht stattgefunden hatte. Der Rat der Ältesten hatte das Vesakfest, also Buddhas Geburtstag, als Tag der Abtwahl auserkoren. Bis dahin war noch einige Wochen Zeit und ich hoffte, dass Mao Lu Peng in dieser Zeit durch sein Drängen so viel an Sympathie verlor, dass die Wahl günstig für das Kloster ausgehen würde. Als ich mich erkundigte, ob immer so viel Zeit verginge bis zur Wahl eines neuen Abtes, erfuhr ich, dass eigentlich das Gegenteil normal wäre. Doch aufgrund der schwierigen Verhältnisse hatte man sich auf diesen Termin geeinigt. Die Ältesten und Meister konnten sich nicht so recht auf zwei oder drei Kandidaten einigen. Han Liang Tian hatte durch seinen plötzlichen Tod ein Vakuum hinterlassen. Er hatte Hu Kang oder Wang Lee als Nachfolger vorgeschlagen, doch Wang Lee erschien den meisten zu jung und Hu Kang hatte nicht das Charisma, das viele von einem Abt erwarteten. So waren sie uneins, die einen hielten an Han Liang Tians Vorschlägen fest, die anderen schlugen den alten Mönch vor, der Han Liang Tian in dessen Abwesenheit vertreten hatte und auch jetzt, in der Übergangszeit das Kloster wieder leitete. Durch diese Uneinigkeit liebäugelten nun auch schon einige mit Mao Lu Peng und wenn dieser nicht so massiv drängen würde, hätte er sicherlich gute Chancen. Doch Mao Lu Peng war das letzte, was das Kloster jetzt gebrauchen konnte und die meisten wussten das.
Am nächsten Tag ließ ich mir von Wang Lee das Grab des Abtes zeigen. Er war im Pagodenwald bestattet worden und sobald es das Wetter zuließ, sollte auch über seiner Grabstelle eine kleine Pagode errichtet werden. Traurig ließ ich mich am Grab nieder. Wang Lee, der merkte, dass ich gerne allein sein wollte, ging zurück ins Kloster.
Ich dachte an die vielen Gespräche und den lehrreichen Gedankenaustausch, den ich mit Han Liang Tian so oft geführt hatte. Seine ruhige, charismatische Art hatte mich auf den rechten Weg gebracht. Er hatte erreicht, dass ich nicht mehr mit meinem Schicksal haderte und mein Leben so akzeptierte, wie es jetzt war. Durch ihn hatte ich eine völlig neue, für mich stimmige Welt kennengelernt.
Nach einiger Zeit versank ich in eine tiefe Meditation. In dieser Verfassung versuchte ich zu ergründen, wie Han Liang Tian wohl in dieser Situation gehandelt hätte. Es dauerte lange, bis ich mir darüber im Klaren war und am Abend traf ich mich mit Wang Lee, Chen Shi Mal, Liu Shi Meng und Hu Kang, um ihnen mitzuteilen, zu welchem Schluss ich gekommen war. Wir trafen uns in dem kleinen Tempel, den ich mit Han Liang Tian zum Meditieren genutzt hatte.
›Entschuldigt bitte, dass ich euch hierher bestellt habe, doch ich wollte gerne ungestört mit euch sprechen.‹
Erwartungsvoll sahen sie mich an.
›Ich saß heute lange an Han Liang Tians Grab und habe versucht zu ergründen, wie er in unserer Situation gehandelt hätte oder was er uns nun raten würde.‹
Ich machte eine kleine Pause, in der ich in ihre erwartungsvollen Augen schaute.
›Ich denke, Han Liang Tian würde euch raten, dass alle, die nicht Mao Lu Peng wählen wollen, sich schon vorher auf einen Kandidaten einigen. Tut ihr das nicht, werden sich eure Stimmen auf verschiedene Kandidaten verteilen und ihr spielt Mao Lu Peng in die Hand. Doch wenn ihr euch im Vorfeld einig seid, könnt ihr einen Führer eures Klosters wählen, der vielleicht viel Schaden vom Kloster abwenden kann.‹
Schweigend blickten sie mich weiterhin an.
›Ich weiß nicht, was ihr noch von mir erwartet? Er hat nicht zu mir gesprochen, falls ihr das denkt. Ich habe nur versucht, wie er zu denken und zu ergründen, wie er in dieser Situation handeln würde.‹
Ich schaute von einem zum anderen. ›Versucht es doch selbst einmal! Versucht selbst herauszufinden, was er tun würde und ich denke, ihr werdet zum gleichen Ergebnis kommen.‹
Wieder verging einige Zeit, in der selbst das Atmen der Anwesenden laut erschien, doch dann schauten sie auf und Hu Kang sagte:
›Du hast recht. Ich verstehe gar nicht, warum keiner von uns auf diesen Gedanken gekommen ist. Doch es wäre sicherlich in Han Liang Tians Sinne, wenn wir so handeln würden.‹
›Gut! Ich bin froh, dass ihr zum gleichen Schluss gekommen seid.‹ Ich erhob mich und fuhr fort: ›Dann werde ich mich jetzt zurückziehen und euch allein beraten lassen, welcher Kandidat der beste für das Kloster wäre.‹
›Warum willst du nicht daran teilnehmen?‹, fragte Wang Lee hastig.
›Weil ich kein Mönch bin, keine Stimme bei der Wahl habe und eure Entscheidung nicht beeinflussen möchte.‹
Wang Lee wollte widersprechen, doch ich schnitt ihm das Wort ab.
›Nein, Wang Lee, ich bin immer noch nur ein Gast des Klosters und durch mich ist schon genug Unfrieden hier entstanden. Werdet euch einig und sprecht es auch mit allen anderen, die Mao Lu Peng nicht wählen wollen, ab. Auf diese Art helft ihr dem Kloster am meisten und erfüllt Han Liang Tians Vermächtnis am besten.‹
Nachdenklich ging ich wieder zum Pagodenwald und am Grab des Abtes betete ich dafür, dass sie eine kluge Entscheidung treffen würden.

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