Dao

Kapitel 2 – Erwachen

Abschnitt 2

Dieser Mann hatte eine Ausstrahlung, die sich schwer beschreiben lässt. Alles an ihm wirkte beruhigend und verständnisvoll. Diese Aura umgab ihn und nahm jeden in seiner Nähe gefangen. Seine schmalen, asiatischen Augen schienen alles zu durchdringen, doch das hagere, von vielen Falten durchzogene Gesicht ließ keine Regung erkennen. Die kleinen Fältchen in seinen Augen- und Mundwinkeln verliehen dem Gesicht aber einen schalkhaften Ausdruck. Der dünne Oberlippenbart und der graue, langfaserige Kinnbart standen im Gegensatz zu dem kahlgeschorenen Kopf. Ebenso verhielt es sich mit dem restlichen Körper. All seine Bewegungen wirkten jugendlich und voller Energie. Die Hände waren erstaunlich kräftig und ich hätte sie eigentlich einem wesentlich jüngeren Mann zugeordnet.
Er streckte mir seine rechte Hand entgegen und forderte mich mit einer beruhigenden Geste auf, meine Hand in die seine zu legen. Sein Begleiter hatte sich seitlich von uns niedergelassen und nickte mir jetzt ermunternd zu. Zögernd folgte ich dieser Aufforderung und wusste im selben Moment, dass mir nichts geschehen würde. Als ich die Hand des Abtes berührte, durchströmte mich eine große Ruhe und Kraft. Es war als ob er mir sagte: ›Du brauchst keine Angst zu haben, wir möchten dir nur helfen.‹
Wieder sah er mir tief in die Augen und wieder hatte ich das Gefühl, dass er alles in mir sehen konnte. Ich versuchte mich dagegen zu sperren, zu wehren, mein Innerstes zu verbergen. Doch so richtig wollte mir das nicht gelingen. Nach einer Weile brach er den Blickkontakt ab und schloss die Augen, aber nur um sie gleich wieder zu öffnen und mir zu bedeuten, es ihm gleich zu tun. Zögernd folgte ich seinem Beispiel und schloss die Augen.
Eine große Energie strömte über unsere ineinandergelegten Hände in meinen ganzen Körper. Durch die geschlossenen Augen stieg meine Konzentration. Meine Gedanken beruhigten und ordneten sich. Ich hatte das Gefühl, dass er mich fragte, was mit mir los sei, was geschehen sei, warum ich so aufgewühlt und traurig wäre. Meine letzten Erlebnisse liefen vor meinem inneren Auge noch einmal ab. Der Streit mit Gabi, die Erpressung, die Nachricht vom Autounfall und mein Selbstmordversuch. All dies spielte sich in meinen Gedanken noch einmal ab und ich wusste, dass der Abt dies auch sah, denn ich spürte seine Verwunderung über all die technischen Dinge, mit denen er nichts anfangen konnte. Und ich merkte auch, dass er mir helfen wollte.
Zu diesem Zeitpunkt konnte ich noch nicht begreifen, wie es möglich war auf diese Weise mit einem anderen Menschen zu kommunizieren, und doch war es intensiver als ein Traum und ich begriff, was er mir mitteilen wollte, obwohl wir in verschiedenen Sprachen dachten.
In meinen Gedanken tauchten wirre Bilder von Buddha, von Gott und anderen Figuren auf, die dem Abt einen Auftrag gegeben hatten. Was der Inhalt dieser Aufgabe war, wurde mir nicht klar und von wem er ihn letztendlich erhalten hatte, darüber schien sich der Abt selbst nicht im Klaren zu sein, doch dass es mit mir und meinem Erscheinen zu tun hatte stand für ihn fest. Mir wurde auch bewusst, dass er es mit aller Kraft und gerne tun würde.
Doch was war die Konsequenz dieser Erkenntnisse? Sollte ich mit dem Abt zurück in dieses Kloster gehen oder sollte ich versuchen, zurück nach Hause zu kommen? Irgendetwas in mir sagte mir aber auch, dass es kein Zurück für mich gab, dass ich, warum auch immer, an diesem Ort gestrandet war. Ich hatte aus meinem alten Leben und vor meinen Problemen fliehen wollen und dies schien auch gelungen zu sein, wenn auch anders als ich es geplant hatte.
Doch was sollte ich in diesem Kloster, welchen Auftrag hatte der Abt bekommen? Ich bekam zwar eine vage Vorstellung von dem, was ich dort lernen sollte, doch wofür das gut sein sollte verstand ich nicht. Für den Moment musste ich erst einmal begreifen und akzeptieren, dass mein Leben nun ganz anders verlaufen würde, dass es nichts mehr mit dem zu tun haben würde, was ich bisher kannte. Ich öffnete die Augen und sah den Abt und seinen Begleiter verunsichert an. Doch diese lächelten nur und nickten mir freundlich zu.
Warum auch nicht? dachte ich. Vielleicht finde ich ja mein inneres Gleichgewicht wieder. Zurück kann ich anscheinend nicht und außerdem hatte ich sowieso schon mit allem abgeschlossen. So zu sein, diese innere Kraft zu haben wie sie der Abt ausstrahlte, erschien mir in diesem Moment erstrebenswert und da ich keine Alternative sah, fand ich mich mit dem Gedanken, mit ihnen zu gehen, ab.
Ich sah dem Abt in die Augen und da er meinen Entschluss schon gespürt hatte, drückte er freundlich meine Hand. In diesem Augenblick knurrte mein Magen recht laut. Meine neu gewonnenen Freunde schmunzelten und verständigten sich mit einem kurzen Blick. Dann standen sie auf, der Abt zeigte auf die Ortschaft, die ich hatte erreichen wollen und deutete mit Gesten das Essen an. Dankbar nickte ich ihnen zu. Ich wollte mich schon zum Gehen wenden, als mir einfiel, dass das Geld, das ich in der Brieftasche hatte, hier sicherlich nicht zählen würde. Ihnen das zu erklären, gestaltete sich nicht so einfach für mich, doch schließlich huschte ein verstehendes Lächeln über das Gesicht des Abtes. Er legte mir die Hand auf die Schulter, drückte mich in Richtung des Ortes und gab mir zu verstehen, dass ich mir darum keine Gedanken zu machen brauchte.
Während wir auf die ersten Häuser des größeren Dorfes zuliefen, versuchte ich zu ergründen warum sie mir, einem ihnen völlig Unbekannten, einem der nicht ihre Sprache sprach, der nicht einmal ihrer Rasse angehörte, scheinbar so selbstlos halfen. Für einen, der aus einer Gesellschaft kam, die von dem Streben nach persönlichem Besitz, Einfluss, Macht und Reichtum geprägt ist, war dies schwer zu verstehen. Dann war da auch noch diese Ruhe, diese innere Kraft, diese Energie die besonders der Abt ausstrahlte. Das konnte nur von jemandem ausgehen, den keine Zweifel und Ängste plagten, von einem, der mit seinem Leben zufrieden war.
Bald hatten wir die ersten Häuser erreicht. Der Abt schien hier bekannt und beliebt zu sein, denn jeder, der ihn sah, grüßte ihn freundlich und wenn der eine oder andere noch einige Worte mit ihm wechseln konnte, schien es das höchste Glück für denjenigen zu sein. Auch er hatte für jeden ein freundliches Lächeln und Kopfneigen übrig und so war es nicht verwunderlich, dass wir, besser gesagt er, in dem kleinen Lokal, das wir betraten, mit ehrfürchtigem Respekt zu einem freien Tisch geführt wurden.
Der Begriff Lokal war vielleicht zu hochangesetzt. Da, wo ich hergekommen war, hätte keiner diese Kaschemme betreten. Im Gegenteil, diese Bude wäre schon am ersten Tag aus den unterschiedlichsten Gründen, wieder geschlossen worden. Doch hier störte sich keiner an diesen Zuständen.
Als wir Platz genommen hatten, wischte der Wirt oder Bedienstete mit einem nicht mehr ganz sauberen Tuch die Essensreste unserer Vorgänger vom Tisch auf den Fußboden. Der Abt sprach kurz mit diesem Mann, woraufhin dieser durch einen offenen Durchgang in den Innenhof des Gebäudes ging. Dort war unter einer Überdachung eine offene Feuerstelle, die offenbar die Küche darstellte. Der Koch spülte gerade eine Pfanne über einem offenen Graben neben der Überdachung aus. Wohin dieser Graben führte, konnte ich nicht sehen, doch anscheinend gab es einen Durchgang zwischen den Gebäuden, über den man diesen Bereich auch betreten konnte. Nach den Geräuschen zu urteilen, gab es in einem der Seitengebäude auch Stallungen, in denen Pferde untergebracht waren. Doch vielmehr interessierte mich, was der Koch nun tat. Mit der soeben ausgespülten Pfanne in der Hand ging er zur Feuerstelle und begann mit der Zubereitung einer Mahlzeit. Wenn man sah, wie er mit seinen schmutzigen Händen von einem Behältnis ins andere griff, sich zwischendurch höchstens mal die Hände an seiner Kleidung abwischte, nur um gleich darauf die Katze, die um seine Beine strich, mit der Hand wegzuschieben, dann konnte einem schon der Appetit vergehen. Doch es schien keinen der anderen Gäste zu stören, im Gegenteil sie verspeisten ihre Mahlzeit mit großem Appetit und warfen dabei verstohlene Blicke in unsere Richtung.
Ich wurde in meinen Betrachtungen unterbrochen, als der Wirt – mittlerweile war ich mir sicher, dass es der Wirt war – mit drei großen Schalen Tee an unseren Tisch kam. Sich immer wieder verneigend, stellte er die Schalen vor uns auf den Tisch. Als er bei mir angekommen war, nickte ich ihm dankbar zu. Er sprach mich an, doch ich konnte ihn ja leider nicht verstehen, zuckte bedauernd mit den Schultern und sah hilfesuchend zu meinen beiden Begleitern. Der Abt sprach kurz mit dem Wirt, dieser nickte verstehend und verließ uns wieder.
Nur kurze Zeit später kam er wieder an unseren Tisch. Diesmal mit mehreren Schalen, die eine dicke, süßlich riechende Soße, Reis und verschiedene Gemüsesorten enthielten. Auch Essstäbchen legte er mit dazu, schaute mich aufmunternd an und blieb neben mir stehen. Anscheinend erwartete er, dass ich gleich mit dem Essen beginnen würde, doch ich bedeutete ihm, dass ich warten wollte, bis die Mönche ihr Essen hatten. Der Abt gab mir jedoch zu verstehen, dass sie nichts essen würden.
Da mich alle beobachteten – selbst der Koch schaute von draußen herein – und ich auch keinen beleidigen wollte, überwand ich die Abscheu, die mir angesichts der Zubereitung des Essens gekommen war, und griff nach der Schale mit dem Reis. Nun hatte ich aber noch nie mit Stäbchen gegessen und als ich verzweifelt versuchte, diese in einer Hand zum Essen zu nutzen, konnte sich der jüngere Mönch ein Lachen nicht verkneifen. Mit einem strafenden Blick sah ihn der Abt an und richtete einige Worte an den Wirt, woraufhin dieser ging und gleich darauf mit einer kleinen Schale Reis und einem Paar Stäbchen zurückkehrte. Dann zeigte mir der Abt wie ich die Essstäbchen halten sollte und führte mir vor, wie man damit aß. Krampfhaft versuchte ich es ihm gleichzutun, doch immer wieder bekamen die Stäbchen in meiner Hand ein Eigenleben. Frustriert setzte ich die Schale ab, doch der Abt lächelte mir nur aufmunternd zu, griff nach meiner Hand, korrigierte die Haltung meiner Finger und machte es mir noch einmal vor. Nach einigen Versuchen gelang es mir schließlich, einige Reiskörner in meinen Mund zu befördern.
Wenn sich das so fortsetzen würde, dann wäre ich noch Stunden damit beschäftigt, die Schalen zu leeren. Aber etwas Gutes hätte es dennoch, ich brauchte das unhygienische Essen nicht in mich hineinzuwürgen.
Aber vielleicht war das ja auch der Standard in dieser Welt und besser Zubereitetes bekäme ich nie wieder vorgesetzt. Wie recht ich mit diesem Gedanken haben sollte, wurde mir bald bewusst.
Wieder ein Versuch, bei dem ich drei oder vier Reiskörner schlucken konnte und am liebsten hätte ich die Essstäbchen in die Ecke geschmissen. Ein Blick zum Abt hinderte mich aber daran. Während die anderen mehr oder wenigen offen lachten, bedachte er mich mit einem aufmunternden Blick. Dann zeigte er mir noch einmal wie es gemacht wird, hielt dabei aber die Schale mit dem Reis direkt an seine Lippen und schob ihn in seinen Mund hinein. Als er mir so demonstriert hatte, wie ich mein Stäbchenproblem erst einmal umgehen konnte, zog er die anderen Schalen zu sich heran und zeigte mir, wie ich am besten das Gemüse und die Soße zu mir nehmen konnte. Ich tat es ihm nach und auf diese Weise gelang es mir, die Mahlzeit doch noch in meinen Magen zu befördern.
Aus den Augenwinkeln konnte ich beobachten, dass sich der Koch – offenbar zufrieden damit, dass ich sein ‚Menü‘ vertilgte – wieder seiner Arbeit zuwandte. Den Weg zur Kochstelle legte er nun schneller zurück, da sich in der Zwischenzeit die Katze an einem der Töpfe gütlich getan hatte. Unter einem energischen Redeschwall scheuchte er sie davon und machte sich daran, die Mahlzeit in dem Topf weiter zuzubereiten. Als ich das sah, blieb mir der Bissen beinah im Hals stecken. Hustend und prustend schnappte ich nach Luft. Alle dachten, ich hätte mich beim Essen verschluckt und ich war wieder einen Lacher wert.
Der Wirt hatte sich auch wieder von unserem Tisch entfernt und den anderen Gästen zugewandt. Doch ich hatte den Eindruck, dass es bei den Gesprächen an den anderen Tischen, bei denen des Öfteren gelacht wurde, hauptsächlich um mich und meine Esskünste ging. Ich war froh, als ich nach einem längeren Kampf die Schalen geleert hatte und nahm mir vor, dass ich, bevor ich nicht richtig mit den Essstäbchen umgehen konnte, nie wieder in der Öffentlichkeit damit essen würde.
Das Essen hatte anders geschmeckt, als ich es aus dem Chinalokal meiner Heimatstadt gewohnt war. Dort hatte ich immer gerne gegessen und ich war mir auch sicher gewesen, dass alles frisch und sauber war, doch hier hatte ich im Nachhinein einen faden Geschmack im Mund.
Das Gemüse schien nicht sehr frisch gewesen zu sein und hatte einen seltsamen Beigeschmack gehabt. Die mit mir unbekannten Kräutern gewürzte Soße hatte das zwar zum Teil überdeckt, doch jetzt, nachdem ich mit dem Essen fertig war, hatte ich einen seltsam pelzigen Geschmack im Mund. Ich griff zur Teeschale und versuchte mit dem Tee diesen Geschmack loszuwerden, doch Tee zu einem solchen Essen war für mich genauso ungewohnt und somit half es nicht wirklich, die Situation zu verbessern. Es kostete mich einige Mühe, vor den anderen zu verbergen, dass mir das Essen nicht besonders geschmeckt hatte und ich war deshalb recht froh, als der Abt sich erhob, nachdem ich meinen Tee ausgetrunken hatte.
Er winkte den Wirt heran und zog einen Lederbeutel unter seinem Gewand hervor, um zu bezahlen, doch der Wirt wehrte energisch ab. Anscheinend war es für ihn eine große Ehre gewesen, den Abt als Gast zu haben. Mit einem Lächeln legte der Abt dem Wirt die Hand auf die Schulter und verneigte sich leicht vor ihm. Das schien diesem genauso viel wert zu sein wie eine gute Bezahlung, denn er bedachte den Abt mit einem nicht enden wollenden Redeschwall und die Seitenblicke, die er den anderen Gästen zuwarf, schienen zu sagen: ›Seht, welch eine Ehre mir zuteilwurde!‹
Nachdem wir das Lokal verlassen hatten, wanderten wir schweigend den Weg zurück, auf dem wir den Ort erreicht hatten. Ich hatte wieder Mühe, dem schnellen, weitausgreifenden Schritt der beiden Männer zu folgen und begann nach einiger Zeit zu schnaufen und zu schwitzen. Die beiden verlangsamten ihren Schritt ein wenig, nicht so sehr, dass es ein bequemes Wandern wurde, aber um so viel, dass ich ihnen gerade noch folgen konnte.
Wir hatten den Bergkamm schon überschritten und konnten das Seitental, in dem das Kloster lag, sehen, als sich mein Bauch energisch zu Wort meldete. Das ungewohnte Essen zeigte eine durchschlagende Wirkung und ich musste mich schnell in die Büsche schlagen. Auf dem restlichen Weg wiederholte sich das noch zweimal und ich war heilfroh, als wir das Kloster erreichten. Dort trennte sich der Abt von uns und der jüngere Mönch führte mich in den Raum, der mir am Morgen schon einmal zugewiesen worden war.
Auf dem Weg dorthin hatte ich den Eindruck, dass es im Kloster ruhiger geworden war. Irgendwie fehlten die Menschen. Bei meinem ersten Besuch hier hatte ich viel mehr Mönche gesehen. Von denen, die am Morgen auf dem großen Hof diese Übungen durchgeführt hatten, sah ich an diesem und auch an den nächsten Tagen keinen einzigen mehr.
In der Zelle, die mir zugewiesen worden war, lag die Kleidung immer noch dort, wo ich sie hingelegt hatte. Ich nahm sie von der Liege und legte sie auf einen Hocker, der neben der Pritsche stand, dann ließ ich mich, mir den Bauch haltend, nieder. Über das Gesicht des jungen Mönches, der noch in der offenen Tür gestanden hatte, huschte ein Ausdruck, als wäre ihm etwas eingefallen und er verließ mit schnellen Schritten den Raum. Nur wenig später kehrte er mit einer dampfenden Schale zurück. Er hielt sie mir hin und forderte mich mit Gesten zum Trinken auf. Ich nahm die Schale und der aromatische Geruch von heißem Tee stieg mir in die Nase. Vorsichtig begann ich zu trinken. Der Tee schmeckte ungewohnt, denn da er nicht gesüßt war, kam der Geschmack der Kräuter so richtig zur Geltung. Doch ich spürte schon nach wenigen Schlucken, wie sich mein Bauch beruhigte. Ich entspannte mich und mit einem zufriedenen Gesicht verließ mich der Mönch. Erschöpft von dem langen Fußweg schlief ich dann ein.
Als ich wieder erwachte, war es sehr still um mich herum. Nur das Zwitschern eines Vogels und das Zirpen der Grillen, das durch die Fensteröffnung meiner Zelle hereindrang, machten deutlich, dass es noch anderes Leben gab. Ich stand auf und verließ das Gebäude.
Auf dem großen Platz trainierten nun einige junge Mönche. Für mich sahen diese Übungen aus wie Kung Fu, denn mangels Erfahrungen fasste ich alle asiatischen Kampfsportarten unter diesem Begriff zusammen. Die feinen Unterschiede kannte ich noch nicht und in diesem Moment war mir auch nicht bewusst, dass es diesen Begriff an diesem Ort, zu dieser Zeit nicht gab.
Fasziniert schaute ich zu und bewunderte die Beweglichkeit und Schnelligkeit dieser Männer. Nach einiger Zeit löste sich mein junger Führer aus der Gruppe der Übenden und kam zu mir. Er bedeutete mir, dass ich mitmachen sollte. Ich wehrte ab und versuchte, ihm verständlich zu machen, dass ich nichts dergleichen beherrschte. Aber er wiederholte diese Aufforderung immer wieder und schließlich begriff ich, dass ich es von ihnen lernen sollte. Doch bevor wir uns dieser Herausforderung zuwandten, gab es noch eine andere Hürde zu überwinden. Da ich ihre und sie meine Sprache nicht verstanden, war die Verständigung sehr schwierig und der junge Mönch wurde einer meiner geduldigsten Sprachlehrer. Wir mussten oft lachen, wenn ich versuchte ihm nachzusprechen, etwas falsch betonte, oder ein Wort im falschen Zusammenhang verwendete.
Doch begonnen hatte das Ganze mit der gegenseitigen Vorstellung. Er deutete auf sich und nannte seinen Namen:
›Wang Lee!‹
Mit Gesten forderte er mich auf ihm nachzusprechen. Ich versuchte es, doch dabei kam etwas ganz anderes heraus. Dieser Name klang in der weichen, singenden chinesischen Aussprache ganz anders und meine an das harte Deutsch gewohnte Stimme hatte Probleme, das richtig wiederzugeben. Wang Lee konnte ein Schmunzeln nicht unterdrücken und ließ es mich mehrfach wiederholen, bis es einigermaßen nach ‚Wang Lee‘ klang. Er war dabei sehr fröhlich und motiviert, was sich wiederum auf mich übertrug. Nachdem ich es einigermaßen hinbekommen hatte, deutete er auf mich und seinen Gesten entnahm ich, dass er nun meinen Namen wissen wollte. Ich nannte ihm meinen vollen Namen und der Gesichtsausdruck, den ich erntete, war köstlich.
Als er versuchte es nachzusprechen, hatte ich genauso viel Grund zum Schmunzeln, wie er vorher bei mir. Nach einer Weile – seine Fortschritte waren schon recht beachtlich – erschien ihm ‚Günter Kaufmann‘ zum Ansprechen oder Rufen doch viel zu lang und mit einer resignierenden Geste deutete er auf mich und sagte:
›Gü Man!‹
Ich lachte kurz auf und nickte zustimmend. Es war mein erstes unbefangenes Lachen seit dem Tod meiner Familie und es war richtig befreiend. Wang Lee freute sich anscheinend sehr, dass ich mit seiner Namensgebung einverstanden war, und so begann mein Sprachunterricht in Chinesisch, der bei jeder sich bietenden Gelegenheit fortgesetzt wurde. Er fand immer einen Weg, um einen Begriff oder eine Bezeichnung zu umschreiben und dennoch sollte eine lange Zeit vergehen, bevor ich einigermaßen verstand, was gesprochen wurde.
Nachdem wir uns nun vorgestellt hatten, versuchte er herauszufinden was ich für Voraussetzungen mitbrachte, um an ihrem Training teilnehmen zu können. Bald begriff er, dass ich keinerlei Grundkenntnisse hatte. Doch er war keiner, der sich gleich entmutigen ließ. Mit verschiedenen Übungen, die er mir vormachte und die ich dann unter seiner Beobachtung nachahmte, begann er auszuloten, was bei mir möglich war und wo er ansetzen konnte. Als er sich für einen Augenblick unbeobachtet glaubte sah ich, wie er einem der anderen anwesenden Mönche einen Blick zuwarf, der so viel bedeutete wie ‚Puuh, das wird ein hartes Stück Arbeit!‘
Es dämmerte bereits, als ein Gong ertönte. Die Mönche beendeten ihr Training und strebten dem Tempelbereich zu. Keiner sprach, alles lief ruhig und entspannt ab. Nur Wang Lee forderte mich mit einem Wink dazu auf ihnen zu folgen.
Als der Abt mit einem monotonen Sprechgesang begann, war der Haupttempel nicht einmal zu einem Drittel gefüllt und doch schienen alle, die sich zu diesem Zeitpunkt im Klosterbereich aufhielten, anwesend zu sein. Ich hatte mich in der Nähe des Eingangs niedergelassen und keiner schien weiter Notiz von mir zu nehmen. Da ich nicht wusste, was ich nun tun sollte, mit ihren Gebeten und Zeremonien aber auch nichts anfangen konnte, schloss ich die Augen und kam innerlich langsam zur Ruhe. Ich dachte über mein bisheriges Leben nach, über die letzten Ereignisse, über den Sinn des Ganzen und versuchte mir vorzustellen wie es nun weitergehen sollte.
Nach einiger Zeit, angeregt durch mein Umfeld, begann ich über den Glauben nachzudenken. Es hatte eine Zeit gegeben, als mein Glaube an Gott und die christliche Kirche zwar nicht felsenfest, aber bestimmend in meinem Leben gewesen war. Doch irgendwann hatte ich im Alltagsstress den Glauben vernachlässigt, hatte nur noch nebenbei daran gedacht und mir nie die Zeit genommen die innere Ruhe zu finden, die nötig ist, um mit Gott zu sprechen. Jetzt fand ich das erste Mal seit langer Zeit wieder die Ruhe, um darüber nachzudenken. Mir wurde bewusst, dass ich mich im Großen und Ganzen nach den Geboten gerichtet und gelebt hatte, wie es von einem Christen erwartet wurde, doch die Verbindung zu Gott war verloren gegangen.
Hatte Gott mit den letzten Ereignissen zu tun? Wie war ich hierhergekommen? Warum war ich hier? Wenn Gott etwas damit zu tun hatte, warum war ich dann an einem Ort, wo ein ganz anderer Glaube vorherrschte? Ist der Gott, an den ich glaube, auch der wahre Gott? Gibt es überhaupt einen Gott?
Fragen über Fragen und ich fand keine Antworten. Das innere Gleichgewicht, das ich gerade gefunden hatte, begann wieder zu schwinden. Ich wurde immer nervöser und wollte mich schon erheben, um den Tempel zu verlassen, als ich fühlte, dass mich jemand beobachtete. Ich öffnete die Augen und sah nach vorn zu dem leicht erhöhten Teil, auf dem die Buddhafigur stand, und ich sah direkt in die Augen des Abtes. Dieser Blick hatte etwas, das ich nicht beschreiben konnte und ich spürte, wie sich die Ruhe des Abtes auf mich übertrug. Langsam glätteten sich die Wogen meiner aufgewühlten Gedanken und Gefühle und mir wurde bewusst, dass es eigentlich egal war warum, wie oder durch wen ich hierhergekommen war. Es zählte nur, dass ich jetzt hier war und das Beste daraus machte. Als ich diese Erkenntnis gewonnen hatte, sah ich hoch und wieder in die Augen des Abtes. Dabei dachte ich: Danke, du hast mir sehr geholfen!
Im selben Moment erschien ein Lächeln auf dem Gesicht des Abtes und ich glaubte, ein leichtes Kopfneigen zu bemerken. Während der restlichen Andacht der Mönche dachte ich über mein bisheriges Leben nach und kam dabei zu dem Ergebnis, dass dieses eigentlich sehr oberflächlich gewesen war. Das ständige Streben nach Besitz, Sicherheit und Anerkennung hatte mich vieles nicht mehr erkennen und verstehen lassen. In diesem Moment wurde mir bewusst, dass ich von den Menschen an meiner Seite und um mich herum nur noch die Oberfläche wahrgenommen und in der Hast meines Lebens ihre Gedanken und Gefühle übersehen hatte.

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