Kapitel 8 – Der lange Aufenthalt
Abschnitt 3
Der Winter kam mit großen Schritten näher und ich drängte Wang Lee wegen des Aufbruchs nach Shaolin, doch dieser verschob den Termin immer wieder. Etwa drei Wochen, nachdem ich mich wieder vom Krankenlager erhoben hatte, stellte ich ihn zur Rede.
›Wann wollen wir denn aufbrechen? Ich denke, es wird höchste Zeit. Wenn wir nicht durch Schnee und Kälte stapfen wollen, müssen wir langsam los. Es kann sowieso schon fast zu spät sein.‹
›Wir werden nicht vor dem Frühling gehen‹, sagte er bestimmt.
›Wieso denn das? Du wolltest doch schon lange los und hast es kaum noch ausgehalten.‹
›Ich bin diesmal ausnahmsweise mit Tiang Li Yang einer Meinung. Wir denken nicht, dass es gut wäre, wenn du jetzt schon eine so lange Reise antrittst. Keiner kann sagen, wie gut die Verletzung schon vernarbt ist. Ob sie im Inneren auch schon so fest verwachsen ist wie außen. Wir denken, dass es besser ist, wenn du dich noch schonst.‹
›Was soll denn das, ich bin doch nicht aus Porzellan. Mir geht es gut und ich habe nicht den geringsten Schmerz mehr. Wegen mir brauchen wir nicht hier zu warten, bis der Winter vorbei ist.‹
›Doch wir werden nicht vorher aufbrechen. Der Entschluss ist gefasst und ich bleibe auch dabei.‹
›Aber du wolltest doch so bald wie möglich wieder zurück und hast es kaum noch ausgehalten.‹
›Wir brauchen nicht weiter darüber zu diskutieren. Mein Entschluss steht fest und ich werde ihn auch nicht mehr ändern. Es ist mir einfach viel wichtiger, dass du gesund wieder bei Han Liang Tian ankommst und dafür bleibe ich gerne noch eine Weile hier.‹
Es hatte keinen Zweck, er ließ sich nicht umstimmen. Mir war es eigentlich auch nicht so wichtig, da es mir in Wudang fast noch besser gefiel als in Shaolin, denn hier hatte ich keinen, der mich als unwillkommenen Eindringling ansah. Ich hatte mich hier immer willkommen gefühlt. Das einzige, was ich vermisste, war der Gedankenaustausch mit Han Liang Tian. Die lautlose Sprache, wie sie von Wang Lee so treffend bezeichnet wurde, hätte ich zu gerne weitergeführt und ausgebaut. Doch wie sollte ich das ohne die Hilfe von Han Liang Tian tun?
Da sie mir das Kraft- und Kampftraining untersagten, hatte ich mehr Zeit zum Meditieren. Ich verbrachte nun einen großen Teil des Tages damit. Es tat mir sehr gut, mein Geist wurde freier und ich konnte mich völlig fallen lassen.
Eines Tages leistete mir Wang Lee dabei Gesellschaft. Nachdem wir schon einige Zeit meditiert hatten, kam ich auf den Gedanken, mit ihm Kontakt aufzunehmen. Ich konzentrierte mich und verhielt mich genau so, wie Han Liang Tian es mich gelehrt hatte. Dann sagte ich in Gedanken zu Wang Lee:
›Wang Lee, darf ich dich mal stören?‹
Er öffnete die Augen und sagte: ›Ja, was ist?‹
Ich riss die Augen auf und starrte ihn an.
›Was ist? Warum starrst du mich so an? Du hast mich doch gerade gefragt, ob du mich mal stören darfst. Oder etwa nicht?‹, fragte er nun unsicher.
›Doch, doch das hab ich schon. Aber nicht laut, sondern nur in Gedanken, so wie ich mich immer mit Han Liang Tian unterhalten habe.‹
Nun war er es, der die Augen aufriss. ›Aber, aber ich hab es doch genau so gehört. Es war, als ob du diese Frage laut gestellt hättest. Bist du dir auch ganz sicher, dass du nicht gesprochen hast?‹
›Ja, ich bin mir ganz sicher. Ich habe dich nur in Gedanken angesprochen.‹
Ich hatte ganz bewusst das letzte wieder nur in Gedanken gesprochen, um sicher zu gehen, dass es nicht nur Zufall gewesen war. Wang Lee hatte mich die ganze Zeit beobachtet und gesehen, dass ich die Lippen nicht bewegt hatte. Da er es jetzt auch bewusst wahrnahm, konnte er diesmal auch unterscheiden, dass die Worte nicht laut gesprochen waren.
›He, ich hätte nie gedacht, dass ich das wahrnehmen kann.‹
›Warum nicht? Du bist doch nicht schlechter als ich. Du hast es bloß noch nie probiert.‹
›Stimmt, aber es ist sehr ungewohnt für mich, deine Worte zu verstehen, aber nicht mit den Ohren zu hören.‹
›Glaub ich gerne. So ging es mir am Anfang auch. Doch ich hab mich schnell dran gewöhnt und empfinde es als entspannend, mich so zu unterhalten.‹ Ich machte eine kurze Pause und dachte nach. ›Warum versuchst du nicht, mir ebenfalls in Gedanken zu antworten. Wenn du meine Gedanken aufnehmen kannst, kannst du das auch, da bin ich mir ganz sicher.‹
›Ich weiß doch nicht, wie ich das machen soll. Ich hab es doch noch nie probiert.‹
›Ist kein Problem, wenn du wirklich willst, dann kannst du das auch. Konzentriere dich darauf, was du sagen willst und dann sprich diese Worte in Gedanken zu mir. Leg all deinen Willen und deine Kraft hinein und es wird funktionieren.‹
Ich sah, wie er sich anstrengte und auf einmal nahm ich seine Gedanken wahr, ohne dass er sie aussprach.
›Gü Man, kannst du mich hören?‹
›Nein ich höre dich nicht, aber ich kann deine Gedanken verstehen.‹
›Wirklich, wirklich du kannst mich hören.‹
›Ja, jetzt schreist du ja laut genug. Aber vorhin konnte ich deine Gedanken verstehen. Versuch es weiterhin auf diese Art.‹
Er nickte und sprach wieder in Gedanken zu mir: ›Was wolltest du vorhin eigentlich von mir? Du hattest mich doch gefragt, ob du mich stören darfst.‹
›Genau das, was wir jetzt tun. Ich wollte dich fragen, ob wir versuchen, diese Kräfte weiterzuentwickeln. Da ihr mich nicht mit euch trainieren lasst, habe ich Zeit und mir ist eingefallen, dass Han Liang Tian mich gebeten hat, diese Dinge nicht zu vernachlässigen. Ich sollte weiter daran arbeiten und habe das bis jetzt eigentlich gar nicht mehr geübt.‹
›Aber wie soll ich dir dabei helfen? Ich habe doch von diesen Dingen gar keine Ahnung. Du weißt mehr davon als ich.‹
›Ich glaube nicht, dass das notwendig ist. Wenn ich jemanden habe, mit dem ich üben kann und mit dem ich mich darüber austauschen kann, dann hilft mir das schon sehr. Die Grundgedanken hat mir Han Liang Tian schon beigebracht und ich denke, wenn wir gemeinsam üben, dann entdeckt vielleicht der eine, was dem anderen nicht auffällt.‹
›Vielleicht, ich würde es jedenfalls gerne versuchen. Auch wenn ich dir bestimmt keine große Hilfe bin, aber ich kann in dieser Beziehung sicherlich viel von dir lernen.‹
Es machte mich stolz, dass er dachte, ich könne in diesem Fall sein Lehrer sein. Dass ich etwas konnte oder besser können sollte als er. Beim Kämpfen war er mir immer noch voraus, doch vielleicht hatte er recht, dass ich ihm hier voraus war.
›Denk nicht so was. Wenn du so denkst, verhinderst du nur das, was du erreichen möchtest. Am besten ist es vielleicht, wenn wir uns nun so oft wie möglich nur in Gedanken austauschen. Das wird unsere Konzentration und die inneren Kräfte stärken.‹
›Wenn du meinst. Aber weißt du, was mir Angst macht?‹
›Nein. Was?‹
›Kannst du all unsere Gedanken hören und verstehen? Gibt es keine Geheimnisse vor dir?‹
Ich lachte leise auf, doch in Gedanken antwortete ich ihm:
›Nein, das kann ich nicht. So einfach ist das wiederum auch nicht. Das Beste wird sein, wenn ich dir erst einmal erzähle, was ich von Han Liang Tian über diese Dinge erfahren habe.‹
An den folgenden Tagen übten wir weiter den Gedankenaustausch und ich teilte ihm alles mit, was ich bisher über diese Dinge erfahren hatte. Nach einiger Zeit fragte er mich:
›Ob es Han Liang Tian überhaupt recht ist, dass du mir all das erzählst?‹
Daran hatte ich gar nicht gedacht, doch nach kurzem Überlegen sagte ich:
›Ich denke schon. Er hält sehr viel von dir. Hat großes Vertrauen zu dir und deinem Charakter. Er hätte uns nicht gemeinsam auf diese Reise geschickt und mir aufgetragen, diese Dinge nicht zu vernachlässigen, wenn er sie vor dir geheim halten wollte. Als wir am letzten Tag vor unserer Abreise mit ihm gesprochen haben, hat er dir doch schon von dem Gedankenaustausch erzählt. Ich denke nicht, dass er etwas dagegen hat, wenn du diese Dinge beherrschst. Er hat mir mal erzählt, dass Mao Lu Peng gerne in diesen Künsten unterrichtet werden wollte, er ihn aber niemals dahingehend ausbilden würde, da dessen Charakter nicht dazu geeignet sei. Er hat immer wieder betont, dass ein großes Verantwortungsbewusstsein dazu gehört, wenn man diese Kräfte beherrscht. Mao Lu Peng hat er das nicht zugetraut, doch zu dir hat er großes Vertrauen. Er denkt ja sogar, dass du einmal sein Nachfolger werden könntest.‹
›Vielleicht hast du recht. Missbrauchen würde ich dieses Wissen bestimmt nicht. Ich könnte niemals einem anderen bewusst Schaden zufügen oder ihn ausnutzen.‹
›Das weiß ich doch. Und ich hab die ganze Zeit versucht, dir zu erklären, dass er das sicherlich auch von dir denkt. Also wollen wir versuchen, diesen Kräften auf den Grund zu gehen?‹
›Gerne. Wenn du glaubst, ich kann dir dabei hilfreich sein.‹
›Also, er hat mir gezeigt, dass in allem um uns herum Kraft, oder besser gesagt Energie steckt und dass wir diese auch nutzen können. Gespürt hab ich sie schon, doch wie ich diese Energie für mich nutzbar machen kann, hab ich noch nicht herausgefunden.‹
›Erklär mir doch erst mal, wie du diese Energie wahrnimmst. Ich bin doch in dieser Beziehung noch ganz unerfahren. Nicht so vertraut damit wie du.‹
›So weit vorgedrungen in diese Kunst bin ich ja auch noch nicht, doch das Erspüren ist recht einfach. Das lernst du schnell.‹
Ich begann genauso wie Han Liang Tian es mir erklärt hatte. Ich machte ihn auf die Kraft aufmerksam, die im Wind steckt. Auf die Energie, die die Sonne abgibt. Ich zeigte ihm die von der Sonne erwärmte Hauswand und die Kraft, die in den Pflanzen steckt. Er hörte aufmerksam zu und unterbrach mich nicht ein einziges Mal. Erst als ich ihm erzählte, wie Han Liang Tian den schweren Stein gestemmt hatte und dabei die Energie genutzt hatte, die durch die Erwärmung der Sonne in ihm steckte, konnte er einen Ausruf des Staunens nicht unterdrücken.
›Das hat er getan? Ich habe niemals ähnliche Dinge von ihm gesehen oder gehört. Wieso zeigt er sie dir und sonst hält er es geheim?‹
›In Gedanken Wang Lee! In Gedanken mit mir reden!‹
›Ja doch, ja. Aber du hast meine Frage nicht beantwortet.‹
›Weil ich es dir auch nicht mit Sicherheit sagen kann. Zum einen wird es daran liegen, dass, wenn du diese Fähigkeiten zeigst, viele kommen werden und es auch lernen wollen. Außerdem wird es Neid, Missgunst und vielleicht auch Angst wecken. Ich denke, es wird mit der Verantwortung zusammenhängen, die du hast, wenn du so etwas kannst. Und dass er es mir gezeigt hat, hängt bestimmt mit seinem Traum zusammen. Er hat immer gesagt, dass er in diesem Traum den Auftrag bekommen hat, mich alles zu lehren was er kann.‹
Ich überlegte einen Augenblick und fügte dann hinzu:
›Und es stimmt auch nicht ganz, wenn du sagst, er habe euch niemals diesen Fähigkeiten offenbart. Mao Lu Peng muss schon früher von diesen Kräften gewusst haben, denn sonst hätte er ihn nicht bedrängt, ihn in diesen Dingen zu unterrichten. Und bei meinem letzten Zusammenstoß mit Mao Lu Peng hat Han Liang Tian, als er uns mitnahm, doch etwas in dieser Richtung gezeigt.‹
›Du meinst das Wegschleudern des Stabes?‹
›Ja, denn er hat ihn ja nicht berührt.‹
›Das stimmt und stimmt auch wieder nicht. Ja, er hat ihn nicht berührt, doch beim Kampf solche Dinge zu tun, können einige der Besten von uns. Auch Tiang Li Yang hat uns gezeigt, dass er dazu fähig ist. Doch es ist etwas völlig anderes, eine fremde Kraft zu nutzen, um ein schweres Gewicht zu heben oder um einen anderen Menschen zu heilen. Das können sicherlich nur ganz wenige und diese halten es nach Möglichkeit geheim.‹
Wir hingen für einen Augenblick unseren Gedanken nach.
›Dass er es dir zutraut und du es mit Sicherheit lernen kannst, glaube ich jetzt auch, denn nachdem du dich auf diese Weise selbst geheilt hast, ist es eigentlich recht sicher. Aber ob ich dazu fähig sein werde?‹
›Zweifle nicht an dir! Wenn du an dir und deinen Kräften zweifelst, wirst du es auch nicht können. Als ich zu dir sagte, dass ich nun wüsste, wie ich mich heilen kann, war ich absolut überzeugt davon. Und nur deshalb konnte es auch gelingen. Der Glaube ist das Mächtigste überhaupt. Davon musst du erst einmal überzeugt sein. Da wo ich herkomme, gab es einen Spruch: Der Glaube kann Berge versetzen. Ich habe das immer für eine Floskel gehalten, doch mittlerweile bin ich überzeugt davon, dass dieser Spruch seine Berechtigung hat und auf Tatsachen beruht.‹
›Haben dort wo du herkommst viele Menschen diese Gabe?‹
›Nicht das ich wüsste. Ich denke eher, dass wir weiter davon entfernt sind als ihr. Das Spirituelle spielt in eurem Leben eine viel größere Rolle als in unserem. Ihr sprecht mit eurem Körper, mit eurer Umwelt und schöpft Kraft aus eurem Glauben. Die Menschen dort, wo ich herkomme, haben das verlernt. Sie leben nur noch in Hast. Es bleibt keine Zeit für solche Dinge und der Glaube ist in den meisten Fällen nur noch äußerer Schein.‹
›Das ist traurig. Aber dennoch hast du es sehr schnell begriffen und unsere Lebenseinstellung übernommen. Also scheint es bei euch nur nicht genutzt zu werden und diese Kräfte schlummern unerforscht in euch.‹
›Ich weiß es nicht! Es mag Zufall sein, dass ich so schnell damit klarkam. Es mag auch an den Umständen liegen, die dazu führten, dass ich hier bin. Ich kann es nicht sagen, aber ich bin überzeugt davon, dass es in einer noch sehr fernen Zukunft normal sein wird, solche Kräfte zu nutzen. Aber vorher müssen sich die Menschen wieder auf Dinge besinnen, die ihre Vorfahren schon erkannt hatten. Und vor allen Dingen müssen die Menschen die Hast im Leben wieder ablegen.‹
Ich holte tief Luft.
›Doch bis dahin ist noch ein weiter Weg und sehr viele Generationen werden erstehen und wieder vergehen.‹
Ich schüttelte den Kopf. ›Wang Lee, wir schweifen ab und denken über Dinge nach, die wir doch nicht oder wenn, nur wenig beeinflussen können. Wir sollten uns lieber auf die Aufgabe konzentrieren, die mir Han Tiang Liang gestellt hat. Ich hab nämlich schon ein schlechtes Gewissen, weil ich das so lange vernachlässigt habe.‹
Ich richtete mich auf und schaute mich um. Wir saßen außerhalb des Klosterbereiches am Rande eines Baches, der über vielen Felskanten den steilen Hang hinunterschoss. Neben dem Bach führte eine kleine Treppe nach oben und an einigen Stellen waren Absätze, die zum Verweilen einluden. Am Rande eines dieser Absätze hatten wir uns niedergelassen und vor uns fiel der Bach etwa einen Meter in die Tiefe. In dem kleinen Becken, das sich zu unseren Füßen gebildet hatte, strudelte das Wasser nach dem Fall herum, um dann nach einigen Metern wieder über eine Kante nach unten zu stürzen. In den Strudeln tanzten die Blätter und kleinen Äste, die der starke Herbstwind in der vergangenen Nacht heruntergerissen hatte.
Ich schaute diesem Schauspiel zu und sagte gedankenverloren:
›Ich müsste einfach nur intensiv denken und wollen, dass ich die Blätter und Äste sammle und aus dem Wasser heraushebe und dann müssten sie sich erheben.‹
Bei diesen Gedanken machte ich mit der Hand eine lockere und kreisende Bewegung über den Blättern. Daran schloss ich eine Bewegung an, als ob ich unter die Blätter fassen wollte und sie hochheben würde. Im gleichen Moment riss ich die Augen weit auf und hielt die Luft an. Auch Wang Lee ging es nicht anders.
Es war wirklich geschehen, was ich gedacht hatte. Die Blätter und Äste hatten schneller im Wasser gekreist und sich dabei gesammelt. Dann hatten sie einen Klumpen gebildet, der, als ich die unterfassende Bewegung machte, nach oben schwebte. Dort hielt er sich einen Augenblick und klatschte dann zurück ins Wasser.
›Wie hast du das gemacht?‹ rief Wang Lee laut.
›Nicht so laut!‹
Ich schaute mich um, ob jemand in der Nähe gewesen war und gesehen hatte, was ich gerade gemacht hatte. Doch anscheinend waren wir ganz allein hier. Beruhigt wandte ich mich wieder Wang Lee zu.
›Ich weiß es nicht. Keine Ahnung wie das geschehen ist. Ich hab nur intensiv daran gedacht und mir vorgestellt es zu tun. Dann ist es geschehen.‹
Während ich das sagte, versuchte ich das Ganze zu wiederholen. Doch das Ergebnis war nicht wie erhofft. Die Blätter kreisten zwar wieder schneller und sammelten sich zu einem losen Klumpen, doch mehr passierte nicht. Wang Lee drängte mich weiterzumachen und versuchte es auch selbst, doch bei ihm geschah gar nichts und bei mir waren alle weiteren Resultate sehr schwach.
Ermutigt durch diesen einen Erfolg, übte ich ständig weiter. Einige Wochen später war ich dann in der Lage, kleine und leichte Gegenstände durch die Kraft der Gedanken zu bewegen. Doch ich musste mich sehr darauf konzentrieren und auch die Bewegungen mit ausführen, die ich machen würde, wenn ich es per Hand getan hätte.
Wang Lee hatte inzwischen auch einige kleinere Fortschritte gemacht, doch gleichbleibende Leistungen blieben ihm immer noch versagt. Langsam wurde er ungeduldig und auch ein wenig neidisch, dass ich weiter war als er.
Eines Tages schlug er frustriert einen kleinen Schneeklumpen, mit dem er geübt hatte, weg.
›Wang Lee was soll denn das? Warum bist du denn auf einmal so ungeduldig? Das ist doch sonst nicht deine Art.‹
›Arrr, ich kann das einfach nicht! Ich bin eben zu dumm dazu! Und du, du bist nicht von Kind auf mit solchen Dingen in Berührung gekommen und machst das hier aus dem Handgelenk. Das ist einfach … ach, ich weiß nicht. Es ist eben frustrierend für mich.‹
›Ich denke, genau das wird der Grund sein, warum es nicht funktioniert bei dir. Du willst es einfach nur können, weil ich es kann und versuchst, mit Gewalt das Gleiche zu erreichen wie ich. Es ist wie beim Kampftraining, als ich unbedingt einmal Sieger werden wollte. Du verbaust dir selbst den Weg. Du verhinderst selbst, dass du es schaffst.‹
Er holte tief Luft, öffnete den Mund, stockte, schüttelte den Kopf und sagte dann ruhiger:
›Vielleicht hast du ja recht. Vielleicht ist das wirklich der Grund dafür. Aber warum bist du schon so gut darin? Was motiviert dich? Welchen Grund hast du, es zu erlernen?‹
›Gute Fragen. Welchen Grund habe ich? Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht so recht. Warum erlerne ich das alles? Warum bin ich hier? Weshalb hat Han Liang Tian diesen Auftrag bekommen? Nur Fragen und keine Antworten, doch ich bin überzeugt davon, dass nichts ohne Grund geschieht. Ich glaube jetzt fest daran, dass ich irgendwo oder irgendwann eine Aufgabe haben werde, für die ich das alles brauche und deshalb erlerne ich es.‹ Ich sah ihn an und fuhr fort: ›Genauso fest, wie ich daran glaube, glaube ich, dass wir uns nicht ohne Grund begegnet sind. Dass du auch eine Aufgabe hast und vielleicht auch gerade diese Fähigkeiten dazu benötigst. Glaube daran, sei überzeugt davon und habe den festen Willen es zu erlernen und du wirst sehen, es funktioniert.‹
Wang Lee schaute mir mit offenem Mund in die Augen. ›Du überraschst mich immer wieder. Manchmal habe ich das Gefühl, dass Han Liang Tian aus dir spricht. Du hast dich sehr gewandelt seit deiner Ankunft und du hast ja recht mit allem, was du gesagt hast.‹
Er drehte sich um und versuchte, noch einmal einen Schneeklumpen zu bilden und hochzuheben. Es war kaum zu glauben, aber diesmal gelang es ihm spielend. Mit glücklichem Gesicht und lachenden Augen sah er mich an.
›Danke! Danke, dass du mir den Kopf gewaschen hast. Du bist wirklich der beste Freund, den ich mir wünschen kann.‹
Von diesem Moment an ging er anders an die Sache heran und hatte Erfolg damit.
Wir hatten schon tiefsten Winter, als mir Tiang Li Yang endlich gestattete, das Kampftraining wieder aufzunehmen. Meine Wunde war sehr gut verheilt und bis auf die beiden Narben erinnerte nichts mehr an den Unfall. Ich hatte weder Schmerzen noch andere Probleme, die auf diese Verletzung zurückzuführen waren. Nur wenn ich die Brustmuskeln anspannte, zog sich die große Narbe zusammen und bildete ein etwa ein Zentimeter tiefes Loch. Doch das war auch nicht mit irgendwelchen Schmerzen oder anderen Behinderungen verbunden.
Der Abt beteuerte immer wieder, dass dieser Heilungsprozess sehr erstaunlich sei und dass er noch nichts Vergleichbares erlebt hätte. Immer wieder hatte er befürchtet, dass die Narbe aufriss oder die innere Verletzung noch nicht richtig verheilt sei, doch nun war auch er überzeugt von der völligen Genesung.
Auch dieser Winter war nicht so kalt und schneereich wie der erste, den ich in Wudang erlebt hatte. Dadurch konnten wir relativ viel trainieren und ich merkte, dass mir das versäumte Training der letzten Wochen und Monate doch sehr anhing. Es dauerte einige Tage, bis ich wieder zu meiner alten Form zurückfand. Doch keiner hatte etwas anderes erwartet, weswegen wir auch langsam an das Ganze herangingen.
Als sich das Frühjahr näherte, begannen wir wieder mit Waffen zu üben, was dem Abt gar nicht gefiel. Aufmerksam beobachtete er uns, konnte aber nichts finden, weshalb er es uns wieder ausreden konnte. Ich ging nun anders an die Sache heran als vor dem Unfall. Das Siegen stand nicht mehr im Vordergrund für mich. Ich führte die Übungskämpfe hauptsächlich aus, um Perfektion zu erlangen. Erstaunlicherweise – oder vielleicht war es ja auch nicht erstaunlich – war ich jetzt viel besser als vorher. Wang Lee hatte Mühe, mich in Schach zu halten und am Ende des Winters war ich ihm fast ebenbürtig.
Doch auch er verhielt sich nun anders. Es störte ihn nicht mehr, dass ich ihm langsam gewachsen und in gewissen Dingen auch voraus war. Im Gegenteil, er freute sich über jeden Erfolg, als wäre es seiner und unterstützte mich, wo es nur ging.
An einem der ersten warmen Frühlingstage führten wir, wie an jedem anderen Morgen, wieder Tai Chi-Übungen aus. Wir befanden uns auf dem Platz, den wir seit Beginn unseres Trainings in Wudang nutzten. Ich stand genau an der Stelle, die Tiang Li Yang inne gehabt hatte, als er uns erklärte, wie wir Tai Chi richtig ausführen müssten. Während des Trainings fiel mein Blick auf die Säule und die lose auf ihr liegende Kugel. Der Abt hatte sie nach seiner Vorführung wieder an diese Stelle zurückgelegt. Langsam reifte in mir der Wunsch, zu versuchen, ob ich auch zu dieser Leistung fähig sei. In Gedanken setzte ich Wang Lee davon in Kenntnis und dieser wünschte mir viel Erfolg. Da ich an diesem Tag den Bewegungsablauf vorgab, ging ich zu den Bewegungen über, die der Abt zu seiner Vorführung genutzt hatte.
Ich konzentrierte mich voll auf das Ergebnis und legte all meine Kraft, auch meine innere Kraft, mein Chi, in diesen Wunsch. Nun war es soweit, ich ließ meine geöffnete Hand mit angewinkelten Fingern nach vorn schnellen. Dabei dachte ich: Die Luft presst sich zusammen vor der Kugel und je näher ich ihr komme, umso gewaltiger wird der Druck und jetzt ist er ausreichend, um sie hinwegzuschleudern.
Etwa zwei Handbreit vor der Kugel stoppte ich die Bewegung. Trotzdem spürte ich einen Druck, als ob ich die Kugel berühren würde. Wie von einer Sehne geschnellt flog sie davon und vergrößerte das Loch, dass bei der Vorführung des Abtes entstanden war. Ich hatte es tatsächlich geschafft!
Ohne ein Wort unterbrachen wir alle drei die Übungen. Tiang Li Yang lächelte mich an.
›Sehr beeindruckend! Ich habe es geahnt und auch gespürt‹, sagte er anerkennend. ›Wie lange beherrschst du das schon?‹
›Noch nicht lange. Und ich möchte auch nicht behaupten, dass ich es wirklich beherrsche. Ich stehe erst am Anfang und brauche noch viel Übung, um diese Kräfte wirklich kontrollieren zu können.‹
›Ich glaube nicht, dass du erst am Anfang stehst. Wenn du immer mit der Konzentration an die Aufgabe herangehst wie eben, dann beherrschst du es schon perfekt.‹
Ich errötete leicht.
›Zu viel Ehre Meister.‹
›Nein, nicht zu viel Ehre. Und außerdem bin ich der Meinung, dass du langsam auch zu den Meistern gehörst. Deine Einstellung zum Kampf hat sich geändert und deine Resultate sind gewachsen. Es gibt nicht mehr viel, was ich dir noch beibringen kann.‹
Nun war ich ein wenig verlegen aber auch stolz auf das Lob.
›Das glaube ich aber nicht. Wenn ich eins in meinem bisherigen Leben gelernt habe, dann ist es, dass man niemals auslernt. Es gibt immer wieder Neues. Etwas, das man noch nicht wusste, oder das auf eine andere Art besser funktioniert. Immer wird es jemand geben, der in manchen Dingen besser ist, als man selbst und ich bin noch nicht lange hier. Ich denke, ich habe erst an der Oberfläche von dem gekratzt, was ich lernen könnte.‹ Ich machte eine kurze Pause und setzte dann hinzu: ›Aber ich glaube, ich habe den Anfang vom richtigen Weg gefunden und kann nun darauf aufbauen.‹
›Du bist gewachsen, Gü Man. Als du hier ankamst, habe ich noch nicht viel davon gesehen, doch jetzt bin ich überzeugt davon, dass dir noch Großes bevor steht.‹
›Ich weiß es nicht‹, sagte ich der Wahrheit entsprechend. ›Doch den Wunsch, den Grund zu erfahren oder herauszufinden, warum und wie das alles geschehen ist, habe ich nicht mehr. Ich habe hier viel gelernt. Aber vor allen Dingen ist mir bewusst geworden, dass ich meine Zukunft nur wenig und nur mit meinen Taten beeinflussen kann. Also konzentriere ich mich auf das Jetzt und Hier und nicht mehr auf Dinge, die außerhalb meiner Möglichkeiten liegen. Ich denke, dass es das Wichtigste ist, was ich jemals gelernt habe.‹
Anerkennend deutete Tiang Li Yang eine leichte Verbeugung an. ›Du bist wirklich gewachsen in deinem Denken!‹
Das Training war für diesen Tag beendet und bei den Gesprächen, die wir nun führten, kam auch die Rede auf unsere Rückreise. Tiang Li Yang erkundigte sich, ob wir nun gleich im Frühjahr aufbrechen wollten oder noch länger in Wudang bleiben würden. Ich schaute Wang Lee fragend an und in Gedanken teilte ich ihm mit, dass die Entscheidung bei ihm liege, denn ich fühlte mich hier genauso wohl wie in Shaolin.
Wang Lee überlegte nicht lange. ›Ich möchte schon bald zurück, doch bevor wir aufbrechen, möchte ich auch noch ein paar Dinge besser beherrschen, die ich mit Gü Man zusammen übe. Ich denke, in Shaolin wird mir Zeit und Gelegenheit dazu fehlen.‹ Er sah von Tiang Li Yang zu mir und fuhr fort: ›Also, wenn du einverstanden bist, brechen wir jetzt noch nicht auf. Doch ich werde mich bemühen, dass es so bald wie möglich geschieht‹, setzte er lachend hinzu.«
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