Dao

Kapitel 8 – Der lange Aufenthalt

Abschnitt 1

»Nach einem sonnigen Frühling bekamen wir einen ebenso schönen Sommer. Er war nicht ganz so warm wie die letzten, die ich in meiner neuen Heimat erlebt hatte, und es gab nur wenige hitzebedingte Trainingsausfälle.
Das Training mit Tiang Li Yang machte mir sehr viel Freude und selbst Wang Lee war mittlerweile davon überzeugt, dass sich die beiden Kampfarten sinnvoll ergänzten. Mit dem Herbstbeginn sprach Wang Lee aber immer öfter von der Rückreise, da er noch vor dem Wintereinbruch wieder in Shaolin sein wollte. Ich versuchte es hinauszuzögern, denn es gab noch so viel zu lernen und außerdem konnte ich mich mittlerweile kaum noch entscheiden, wo es mir besser gefiel. Doch irgendwann ließ er sich nicht mehr vertrösten und ich beugte mich seinem Wunsch, in der kommenden Woche aufzubrechen. Als wir es Tiang Li Yang mitteilten nickte dieser nur, denn er hatte Wang Lees Drängen auch bemerkt.
Wir machten uns also an die Reisevorbereitungen und Wang Lee wirkte glücklich, wie schon lange nicht mehr. Doch wie so oft im Leben kam es anders, als wir gedacht hatten. Nur zwei Tage vor unserer geplanten Abreise kam eine Nachricht aus Shaolin. Ein Händler hatte sie bei Tiang Li Yang abgegeben und dieser ließ uns sofort rufen.
Han Liang Tian schilderte, dass es in Shaolin immer noch drunter und drüber ging. Viele neue Gebäude waren im Bau und noch viel mehr Kämpfer waren aufgenommen worden. Eine Truppe aus der Leibwache des Kaisers wurde vor Ort ausgebildet und auch einige Beobachter befanden sich immer noch im Kloster. Mao Lu Peng schwelgte in seiner neuen Machtposition und Han Liang Tian hielt es deswegen für besser, dass ich noch nicht zurückkehrte.
Für Wang Lee war das ein herber Schlag und er war für mehrere Tage nicht genießbar. Ich überlegte lange, was ich nun machen sollte und kam zu dem Schluss, dass ich nicht von Wang Lee verlangen konnte, bei mir zu bleiben. Deshalb machte ich ihm den Vorschlag, ohne mich den Rückweg anzutreten. Sobald es möglich wäre, würde ich dann folgen. Im ersten Moment war er Feuer und Flamme für diese Möglichkeit, doch dann wurde er plötzlich stiller und lehnte ab. Ich fragte ihn nach dem Grund.
›Warum möchtest du denn nicht allein zurück, ich bekomme das schon hin mit der Rückreise!‹
›Darum geht es nicht. Ich habe keine Bedenken, dass du auch allein zurückkommst. Du sprichst unsere Sprache ja mittlerweile so gut, dass du dich überall verständlich machen kannst. Aber ich kann dich nicht so einfach alleine lassen. Han Liang Tian hat mich gebeten, dich zu begleiten. Was würde er wohl denken, wenn ich ohne dich wiederkäme. Außerdem kommt es mir wie der Verrat einer Freundschaft vor.‹
Diese Entscheidung war ihm sicherlich nicht leicht gefallen, doch er gab sich alle Mühe, sich das nicht anmerken zu lassen. Tiang Li Yang hatte kein Problem damit, dass wir noch länger dablieben, denn es machte ihm sichtlich Freude, mit uns zu trainieren und sich mit uns auszutauschen.
Und so begannen wir wieder zu üben und der Abt lobte meine Fortschritte sehr, obwohl es immer wieder einmal Kritikpunkte gab. Eines Tages sollte ich mit Wang Lee einen Trainingskampf machen. Tiang Li Yang hatte Wang Lee gebeten, mich im Shaolin-Stil anzugreifen und ich sollte mich im Wudang-Stil verteidigen.
›Nein nicht so! Das hab ich schon viel besser von dir gesehen, Gü Man!‹ Er unterbrach uns und forderte mich auf, darüber nachzudenken, was ich falsch gemacht hatte. Dann gab er den Kampf wieder frei.
Doch schon kurz darauf unterbrach er uns wieder.
›Halt, halt! Du machst es schon wieder!‹
Ich zog die Schultern hoch. ›Was? Was mach ich schon wieder?‹
›Merkst du das gar nicht? Du gehst automatisch in den Shaolin-Stil über und wehrst dich auf die gleiche Art, wie du angegriffen wirst. Es ist nichts weiter, als ein Shaolin-Boxkampf, was ihr hier macht.‹
Verwirrt schaute ich ihn an. Ich hatte es wirklich nicht bemerkt. Er hatte recht, automatisch hatte ich den Stil gewechselt.
›Versuch es noch einmal und achte jetzt auf deinen Stil.‹
Ich kam seinen Anweisungen nach, doch es dauerte nicht lange und er unterbrach mich wieder:
›Schon besser. Doch du bist immer noch viel zu verkrampft. Lass dich von deinem Chi leiten. Bewege dich so, als wenn du Tai Chi ausführtest. Bekämpfe das Harte mit dem Weichen. Nutze die Stärke des Angriffs zu deiner Verteidigung und führe sie zurück zum Ausgangspunkt. Passe dich dem Stil des Gegners an, doch ohne ihn zu kopieren. Nutze seine Art zu kämpfen gegen ihn.‹
Er winkte Wang Lee zu sich heran und bat ihn, ihn auf die gleiche Art wie mich anzugreifen.
›Schau genau her, ich werde dir zeigen, wie ich es meine.‹
Wang Lee griff ihn mit einer schnellen Arm-Fuß-Arm-Kombination an. Der hoch geführte erste Schlag wurde vom Abt gekonnt abgewehrt, indem er in die Knie ging, sich leicht nach vorn beugte, die Arme hob und bei den Unterarmen kreuzte. Dann drückte er mit den gekreuzten Armen Wang Lees Arm nach oben.
Er hatte den hart geführten Schlag nicht abgefangen, sondern ihn nur abgeleitet. Dadurch entging er der Wucht des Schlages und erreichte gleichzeitig, dass Wang Lees Kombination verpuffte. Weil ihm kein Widerstand entgegengesetzt wurde, kam Wang Lee aus dem Gleichgewicht und der halben Drehung, die er ausführte, um dem Tritt, den er in Bauchhöhe ansetzte, mehr Kraft zu geben, fehlte der Schwung. Mühelos konnte Tiang Li Yang den Fuß abfangen und, sich dabei wegdrehend, Wang Lee den Halt rauben. Mit einer schmerzlichen Grätsche krachte mein Freund zu Boden.
Doch das musste er aushalten und es wurde ja oft genug geübt, um solche Situationen zu meistern. Schnell war er wieder auf den Beinen und startete den nächsten Angriff. Doch auch dieser verpuffte und wurde gekonnt vom Abt gegen ihn gewendet. Erst beim dritten Angriff konnte Wang Lee bei einer sehr schnellen Kombination aus Faustschlägen und Tritten einen harten Treffer landen. Doch Tiang Li Yang hatte diesen einen Schlag durchlassen müssen, um dem nächsten ausweichen zu können. Durch die Wucht des Schlages nach vorn gerissen, stolperte Wang Lee an Tiang Li Yang vorbei und über dessen platziertes Bein. Im gleichen Moment traf Wang Lee aus der Drehung heraus der Handballen des Abtes zwischen den Schulterblättern. Geräuschvoll stieß er die Luft aus und krachte zu Boden. Im selben Moment war Tiang Li Yang über ihm und deutete einen letzten Schlag an. Wang Lee war für einen Moment nicht in der Lage, sich zu bewegen und erst, als sich der Abt wieder erhoben hatte, drehte er sich mit einem leichten Stöhnen um.
Tiang Li Yang verneigte sich und bot ihm die Hand als Hilfe, doch mit leicht beleidigtem Stolz lehnte Wang Lee ab und stand allein auf. Der Abt verstand sofort, warum er das tat und sagte:
›Du brauchst dich nicht zu schämen. Es gibt nur wenige Meister wie mich, die diese Angriffe so gut abwehren können.‹ Und mit einem schiefem Lächeln fügte er noch hinzu: ›Doch wenn es dich beruhigt: Der Treffer, den du gelandet hast, wird eine tüchtige Schwellung und einen schönen blauen Fleck abgeben.‹
Dabei deutete er auf seine linke Schulter, die schon jetzt anschwoll und der Arm schien sich auch nicht mehr so leicht bewegen zu lassen.
Als Wang Lee das sah, war sein Ärger schnell verflogen und er schämte sich, weil der Schlag bei diesem Übungskampf so hart ausgefallen war. Doch Tiang Li Yang winkte ab.
›Ich verstehe das schon. Wenn zwei gute Angriffe einfach verpuffen, dann werden die nachfolgenden meist um einiges aggressiver.‹
Er rieb sich die Schulter und setzte, lächelnd auf mich deutend, hinzu:
›Doch eins solltet ihr immer bedenken. Ihr seid Freunde und das sind Übungskämpfe! Führt eure Angriffe aus, aber mit Bedacht. Bremst eure Schläge vorher ab. Trefft den Gegner nur leicht oder gar nicht. Bei Übungskämpfen ist das völlig ausreichend.‹
Der Abt drehte sich zu mir um und fragte:
›Ich hoffe, du hast genau zugeschaut und gesehen, was ich meinte?‹
›Ich denke, ja. Doch dass ich das auch so hinbekomme, glaube ich nicht.‹
Er lachte kurz auf. ›Du hast es immer noch nicht verstanden‹, sagte er ungeduldig. ›Es geht doch nicht darum, dass du genauso gut bist wie ich. Du sollst doch nur das Prinzip verstehen und auch anwenden. Das Können kommt dann mit der Zeit von selbst. Und es wäre auch deprimierend, wenn du es gleich so gut könntest wie ich‹, setzte er mit einer aufgesetzt bekümmerten Miene hinzu.
›Also, versucht es noch einmal und du, Gü Man, beherzigst jetzt, was ich dir gesagt und gezeigt habe.‹
Wir übten weiter und ich gab mir alle Mühe, doch Wang Lee war mir immer wieder überlegen. Es stieg schon wieder Frust in mir auf, als der Abt uns unterbrach.
›Was ist, Gü Man? Du scheinst nachzulassen. Bist du nicht zufrieden mit dem, was du erreicht hast?‹
Er hatte erkannt, was mich beschäftigte. ›Ja, ich komme überhaupt nicht zum Zuge. Wenn ich auf Shaolin-Art mit Wang Lee kämpfe, dann kann ich schon hin und wieder einen Treffer landen. Doch jetzt bleibt es mit Ach und Krach immer nur bei der Gegenwehr.‹
Tiang Li Yang schüttelte den Kopf. ›Du bist ja schon wieder so ungeduldig und möchtest alles gleich von Anfang an beherrschen. Doch das ist anderen nicht gelungen und wird dir auch nicht gelingen.‹
Er schaute Wang Lee an und fragte ihn: ›Hast du eben auch nur einen vernünftigen Treffer landen können?‹
Immer noch schwer atmend von der Anstrengung der letzten Minuten, überlegte Wang Lee einen Augenblick und sagte dann:
›Ich denke nicht. Er hat alle Angriffe gut geblockt. Mir ist es im Höchstfall mit ein paar abgelenkten Schlägen gelungen durchzubrechen.‹ Er schaute mich an und setzte hinzu: ›Und wenn ich sehe, wie entspannt er dasteht und wie ruhig er atmet, dann denke ich, dass er mit der Zeit eindeutig in der besseren Position gewesen wäre.‹
So hatte ich das noch gar nicht gesehen. Es stimmte, Wang Lee hatte sich vielmehr anstrengen müssen als ich. Durch die ruhige, entspannte Art des Wudang-Boxstils hatte ich viel weniger Kraft gebraucht als er.
›Nun, Gü Man, denkst du immer noch, dass du so viel schlechter bist als er? Oder besser gesagt, dass du bei dieser Art zu kämpfen so unterlegen bist?‹
›Nein. Mir war nicht aufgefallen, dass es Wang Lee so viel mehr angestrengt hat. Und es kommt eben immer noch der Wunsch auf, im Shaolin-Stil zu kämpfen.‹
›Es hat ja unter Umständen auch seine Berechtigung‹, stellte Tiang Li Yang klar. ›Doch wenn du einem offensichtlich überlegenen Gegner gegenüberstehst, dann hat der Wudang-Stil deutliche Vorteile. Du kannst deine Gegner ermüden und die Tatsache, dass sie wenig Wirkung mit ihren Angriffen erzielen, wird die meisten frustrieren, so wie dich eben, und dann machen sie Fehler, die du ausnutzen kannst.‹
Er hatte recht und es war mir sehr peinlich, dass ich das nicht erkannt hatte. Doch nun sollte es mir nicht mehr passieren. Diesen Fehler wollte ich nicht noch einmal machen.
Tiang Li Yang gab uns das Zeichen, dass wir wieder beginnen sollten.
Diesmal verlief es anders. Ich hatte zu Beginn des Kampfes wieder keine Chance, einen entscheidenden Gegenangriff auszuführen, doch mit der Zeit ermüdete Wang Lee. Obwohl er sich bemühte, mit seinen Kräften hauszuhalten – denn er wusste ja nun, auf was ich wartete – gelangen mir nach einiger Zeit gute Treffer.
Motiviert durch die Erfolge und Erkenntnisse dieses Tages, gelang es mir immer besser, mich in das Wudang- Boxen hineinzuversetzen. Noch vor dem Winteranfang bekamen wir beide das erste große Lob für unsere Fortschritte. Da wir mittlerweile wussten, dass der Abt damit sehr sparsam umging, waren wir umso stolzer darauf.
Der zweite Winter im Wudang-Kloster war wesentlich milder und erlaubte uns viel mehr Trainingsstunden als der erste. Dennoch nahmen wir die Schreibstunden wieder auf und am Ende des Winters gab es nicht mehr viel, was Wang Lee mir beibringen konnte. Da seine Schreibkünste auch begrenzt waren, baten wir schließlich den Abt, uns beide weiter zu unterrichten. Er sagte gerne zu, denn es war eine willkommene Abwechslung für ihn. Das Wissen von Tiang Li Yang war sehr umfangreich und ich musste bald erkennen, dass ich diese komplexen Zeichen wahrscheinlich nie vollkommen beherrschen würde. Doch auch das Wenige, das ich nun mittlerweile gelernt hatte, gereichte mir in vielen Dingen zum Vorteil. Ich war nun in der Lage, die Inschriften in den Tempeln zu lesen und auch einige Dokumente, die mir der Abt aushändigte, förderten mein Verständnis für diese Art des Schreibens. Gerade bei vielen dieser Aufzeichnungen konnte man sehen, dass diese Schriftzeichen mit Liebe gemalt und nicht geschrieben wurden. Es gab keinen Stress und keine Hektik, wenn jemand so etwas verfasste, denn dafür war diese Art des Schreibens nicht geeignet. Was für mich besonders gewöhnungsbedürftig war, war die Art der Zeichenfolge. Die Zeichen, die zumeist ein ganzes Wort oder zumindest eine Silbe darstellten, waren untereinander gesetzt. Also musste man von oben nach unten lesen. Was das Ganze dann noch verkomplizierte war, dass diese Zeichenkolonnen von rechts nach links zu lesen waren. Das beim Lesen zu beachten, war ja kein Problem, doch beim Verfassen des Textes war ich es gewohnt, die Hand aufzulegen, was hier aber nicht ging. Wenn ich es dennoch tat, konnte ich davon ausgehen, dass ich entweder ein vorher gemaltes Zeichen mit der Hand verwischte oder ständig Farbe an der Hand hatte. Notgedrungen musste ich meine Schreibgewohnheiten umstellen und obwohl mit einem Pinsel gearbeitet wurde, fiel mir das nicht ganz leicht.
Wenn man ein Zeichen malte, musste man sich immer ein Kästchen vorstellen und dieses Kästchen wurde gefüllt mit dem Schriftzeichen. Viele wirkten wie Bilder und manchmal konnte man mit ein wenig Fantasie auch gleich die Bedeutung herauslesen. Doch einige Wörter sind nicht so simpel darzustellen. Zum Beispiel Glück oder Frieden. Man kann aber ein Bild zeichnen und ein Kennzeichen noch dazu, dass es nur symbolisch gemeint ist, dann hat das Zeichen zwei Teile. Es gibt weitere solcher Hilfen und darum Zeichen, die aus eins, zwei, drei oder vier Teilen bestehen. Die Teile können über-, neben- oder untereinander stehen, aber alle Teile müssen zusammen in das gedachte Kästchen passen. Auf diese Art und mit solchen Erklärungen lehrten mich Wang Lee und Tiang Li Yang das Lesen und Schreiben.
Doch dieser Unterricht hatte noch einen weiteren positiven Effekt. Durch die vielen Gespräche mit dem Abt und dem Lesestoff, den er mir gab, konnte ich die Mentalität dieses Volkes immer besser verstehen und meine Achtung vor ihnen und ihrer Lebensweise wuchs ständig.

Mit dem Sommer begann das fünfte Jahr meines neuen Lebens, und während dieser ganzen Zeit hatte ich die Kampfkünste trainiert. Sicherlich war es bedingt durch mein Alter und die schlechte Konstitution, die ich mitbrachte, langsamer gegangen, als bei jungen Menschen, doch mittlerweile hatte ich nach Aussagen meiner Lehrer schon sehr gute Fortschritte gemacht. Deshalb war Tiang Li Yang der Meinung, ich sollte nunmehr auch mit Waffen trainieren.
Wir begannen mit Stöcken zu üben und obwohl auch diese schon sehr gefährlich sein können, wurde mir erst richtig bange, als wir uns an Schwerter wagten. Erst wurde mit stumpfen Attrappen geübt, doch nach einiger Zeit nahmen wir auch scharfe Waffen. Nun war es wirklich wichtig, sich genau unter Kontrolle zu haben, damit keiner verletzt wurde. Doch ohne einige Kratzer und kleinere Schnittwunden ging es nicht ab. Da ich aber mit Wang Lee zusammen ständig an meiner Beweglichkeit weitergearbeitet hatte, gelang es uns mittlerweile recht gut, schwerere Verletzungen zu vermeiden.
Was schon beim Kampf mit den Stöcken eine große Rolle gespielt hatte, war die Körperbeherrschung. Wenn doch einmal ein Treffer gelandet wurde, war es wichtig, dass man den Körper soweit unter Kontrolle hatte, dass dieser keinen größeren Schaden anrichtete. Gerade bei Schlägen mit dem Stock, einem Speer oder einer ähnlichen Waffe konnte man vieles mit der richtigen Technik abschwächen. So gelang es mir nach einiger Zeit recht gut, einem Stoß, der mit dem Stock oder dem stumpfen Ende des Speers geführt wurde, die Wirkung zu nehmen. Doch unverletzlich war man deswegen nicht. Der Hieb, Stoß oder Schlag musste also möglichst rechtzeitig abgebremst werden, da es ja nur Übungskämpfe waren.
Aber im Herbst, kurz bevor wir nach Shaolin aufbrechen wollten, geschah dennoch ein Unfall. Wir hatten an diesem Tag schon längere Zeit mit dem Speer geübt und wurden immer übermütiger. Tiang Li Yang hatte uns schon mehrfach ermahnt, da wir im Begriff waren, die Grenze zu überschreiten.
Wang Lee hatte immer mehr Mühe, die Oberhand zu behalten und meine Angriffe wurden immer aggressiver, da ich die Chance sah, jetzt auch einmal als Sieger dazustehen.
Es geschah, als ich einem Stoß von Wang Lee ausweichen und ihn mit einem Gegenstoß beantworten wollte. In diesem Angriff sah ich die Gelegenheit, den Kampf für mich zu entscheiden und achtete nur auf Wang Lee und den Stoß, den ich führte. Dabei übersah ich, dass sich die Bänder gelöst hatten, die meinen Schuh und Strumpf am rechten Bein hielten. Tiang Li Yang hatte es bemerkt und stieß einen Warnruf aus. Doch es war schon zu spät, ich hatte den Ausweichschritt schon gemacht und hob den rechten Fuß, um ihn nach vorn zu setzen. Der dabei geführte Stoß sollte die Lücke nutzen, die in Wang Lees Verteidigung entstanden war und damit den Kampf entscheiden. Meine Bewegung wurde gebremst, da ich mit dem linken Fuß auf den Bändern stand, und ich kam ins Straucheln. Die Spitze meines Speeres schoss ungebremst auf Wang Lees Brust zu. Mit einer schnellen Bewegung konnte ich das noch verhindern, indem ich den Speer nach rechts wegdrückte. Doch durch diese Aktion änderte sich die Richtung meines Sturzes und ich fiel genau in Wang Lees Waffe.
Dieser hatte meinen Speer auf sich zukommen sehen und war nach hinten ausgewichen, hatte dabei aber nicht mehr auf seine Waffe geachtet und stürzte darüber. Bei diesem Fall brach der Schaft und das Bruchende des vorderen Teiles drückte sich in den Boden. Die Spitze ragte senkrecht in die Höhe, drang in meine rechte Brust ein, prallte auf einer Rippe ab und kam unter der Achsel wieder heraus. Benommen stürzte ich nach der Seite weg und blieb liegen. Einen Augenblick herrschte vollkommene Ruhe, dann schrie Wang Lee auf und sprang herbei.
›Gü Man! Was ist … ?‹ Er wollte mich an der Schulter packen und herumreißen, doch Tiang Li Yang hielt ihn davon ab. Er schaute mir in die Augen und sagte relativ ruhig:
›Kannst du mich hören?‹
Ich nickte leicht und sagte leise: ›Ja. Was war denn das?‹ Dabei wollte ich mich wieder aufrichten, doch durch diese Bewegung drang die Spitze des Speeres noch ein klein wenig weiter unter der Achsel heraus. Nun bemerkte ich erst richtig, was geschehen war.
›Uups, was ist denn hier los?‹, entfuhr es mir leise.
›Hast du keine Schmerzen?‹, fragte Wang Lee.
›Nein, ich merke gar nichts‹, sagte ich verwundert und schaute auf die Verletzung.
›Das kommt noch‹, fiel Tiang Li Yang ein. ›Im Moment bist du vermutlich noch zu benommen. Wie ist es beim Atmen? Hast du da Probleme?‹
›Nein gar nicht! Bloß einen dumpfen Druck auf den Rippen spür ich.‹
›Gut! Das ist schon mal gut!‹ Er beugte sich herab und begann, vorsichtig die Wunde abzutasten. Dabei spürte ich das erste Mal einen leichten Schmerz.
›Anscheinend ist der Speer auf den Rippen abgeprallt und hat glücklicherweise die Lunge nicht verletzt.‹
Er überlegte einen Moment und schickte dann Wang Lee schnell los, um Hilfe und Verbandsmaterial zu holen.
›So können wir dich nicht reinschaffen. Wir müssen den Speer erst entfernen. Doch ich möchte ganz sicher sein, dass keine inneren Verletzungen bestehen.‹ Er beugte sich wieder herab und tastete noch einmal die ganze Verletzung vom Eintrittspunkt bis zur Achselhöhle ab.
›Gut, gut! Du hast mehr Glück gehabt, als ich im ersten Moment dachte. Anscheinend ist die Spitze auf der Rippe abgeprallt und auf den anderen nach oben weggeschlittert, bis sie unter der Achsel wieder herauskam. Dadurch hast du eine große Chance, dass es noch einmal glimpflich abgeht.‹
Er drehte sich um und schaute, ob Wang Lee schon zurückkäme, doch so schnell konnte dieser gar nicht wieder da sein. Als er sich mir wieder zuwandte, schüttelte er traurig den Kopf.
›Ich hätte früher abbrechen sollen. Ich hatte doch gemerkt, dass ihr euch nicht mehr so gut beherrscht. Warum musstet ihr nur so übertreiben?‹
Er hatte mehr zu sich selbst gesprochen, doch sein trauriger Blick ging mir sehr nahe und ich sagte:
›Dich trifft keine Schuld, Tiang Li Yang. Du hattest uns doch schon mehrfach ermahnt. Es ist allein unsere …‹, ich stockte, ›allein meine Schuld, dass es so weit kam. Ich konnte mich doch nicht beherrschen und wollte unbedingt einmal Sieger sein.‹
›Deine Schuld?‹ Ich hatte das Gefühl, meine Worte hatten es nur noch schlimmer gemacht. ›Das, was du jetzt eben gesagt hast, zeigt mir doch, dass ich versagt habe. Du hast es doch immer noch nicht verstanden, um was es hier eigentlich geht.‹ Er sank in sich zusammen. ›Es geht doch nicht darum, dass du der Bessere bist. Oder darum, einen perfekten Kämpfer auszubilden. Doch nicht hier bei uns! Es mag vielleicht sein, dass es bei den Shaolin-Kampfmönchen darum geht, doch hier soll es dir nur zur Verteidigung dienen und vorrangig dazu, dein inneres Gleichgewicht zu finden. Eigentlich solltest du lernen, dich und deinen Körper zu beherrschen und nicht danach streben, ein Sieger zu sein.‹
Er schüttelte wieder den Kopf und schaute betreten zu Boden. Seine Worte hatten mich tief getroffen. Sicherlich hatte er recht und ich hatte am Anfang der Ausbildung auch niemals daran gedacht, zu den Besten zu gehören, doch als ich immer besser wurde, war der Ehrgeiz in mir erwacht und hatte mich fehlgeleitet.
Unser kurzes Gespräch wurde unterbrochen, denn Wang Lee war wieder da. Er hatte einen älteren Mönch mitgebracht, der als Arzt des Klosters bezeichnet werden konnte. Dieser legte einen Packen ab, in dem vermutlich Verbandsmaterial war und kniete dann neben mir nieder. Nachdem er die Verletzung begutachtet hatte, äußerte er dieselbe Vermutung wie Tiang Li Yang. Auch er nahm an, dass nichts Inneres verletzt wäre und bat nun Tiang Li Yang, den Speer zu entfernen.
›Gü Man, das wird nun sicherlich wehtun. Stelle dich darauf ein!‹ Dann sah er kurz hoch und fuhr fort: ›Wang Lee, halte ihn an den Schultern fest, damit er sich nicht bewegt und ich es vielleicht noch schlimmer mache.‹
Wang Lee kniete bei meinem Kopf nieder und legte schnell eine Hand auf meine linke Schulter. Auf der anderen Seite gestaltete es sich dann schwieriger, denn er wusste nicht so recht, wo er mich halten sollte. Schließlich fasste er mich beim Schlüsselbein und versuchte, mit dem Daumen über die Schulter hinweg mich zu halten.
Tiang Li Yang hatte in der Zwischenzeit den Speer gefasst und bei dieser Berührung verspürte ich zum ersten Mal einen stechenden Schmerz. Ich musste die Zähne zusammenbeißen, um nicht laut aufzuschreien. Der Abt hatte das bemerkt, nickte und sagte:
›Jetzt schnell, bevor der Schmerz voll durchdringt.‹
Bei diesen Worten hatte er mit einem Ruck den Speer herausgezogen. Wenn Wang Lee mich nicht wie mit Eisenklammern festgehalten hätte, wäre ich hochgeschnellt. Der Schmerz in diesem Moment war unbeschreiblich. Es war, als ob einer mit einem glühenden Dorn von der Brust in mein Hirn stieße. Das Letzte, was ich sah, war ein vielleicht fingerdicker Blutstrahl, der etwa zehn Zentimeter hoch aus der Wunde schoss und gleich wieder versiegte. Dann wurde mir schwarz vor Augen. Wie im Nebel hörte ich noch ein paar Stimmen und fiel dann in Ohnmacht.
Als ich wieder erwachte, lag ich auf meiner Pritsche und Wang Lee saß neben mir und beobachtete mich. Ich wollte mich umschauen, automatisch versuchte ich, mich dabei aufzurichten, doch sofort fiel ich wieder zurück.
›Halt, halt!‹, rief Wang Lee, ›nicht aufrichten! Das könnte sehr wehtun!‹
›Hmmmpf, hab ich auch gerade gemerkt!‹, presste ich zwischen den Zähnen hervor.
›Warte, ich hole den Abt. Er hat mich gebeten, ihn sofort zu holen, wenn du wieder zu dir kommst.‹
Er stand auf und wollte losrennen, doch ich fragte noch schnell:
›Wie lange war ich denn weg? Hab ich lange …‹, ich überlegte, wie ich es ausdrücken sollte, ›geschlafen?‹
Wang Lee lachte kurz auf. ›Wenn du dir nur darum Sorgen machst, scheint’s dir ja schon wieder recht gut zu gehen. Nein, du warst nicht lange weggetreten. Es war gerade genug Zeit, deine Wunde zu versorgen und dich hierher zu bringen. Tiang Li Yang hat nicht erwartet, dass du so schnell wieder zu dir kommen würdest, denn er ist noch gar nicht lange weg.‹
Er drehte sich wieder um und rief beim Weggehen noch über die Schulter:
›Doch nun muss ich ihn holen, sonst wird er ärgerlich.‹
Ich blieb für ein paar Minuten alleine und hatte Zeit, über das Geschehene nachzudenken. Dabei kamen mir Tiang Li Yangs letzte Worte wieder in den Sinn. Er machte sich Vorwürfe, da er dachte, mich nicht richtig unterwiesen zu haben. Doch er hatte immer wieder betont, um was es den Mönchen im Wudang-Kloster ging, nur ich mit meiner dummen Denkweise hatte wieder nicht alles beherzigt. Sein trauriger, enttäuschter Blick war mir sehr nahegegangen und ich nahm mir fest vor, meine Einstellung zu ändern.
Es dauerte nur wenige Minuten, bis Wang Lee mit dem Abt und dem älteren Mönch wiederkam. Zuerst begutachtete mich der Arzt.
›Er hat es erstaunlich gut verkraftet. Wenn sich nichts entzündet, dann sehe ich keine Schwierigkeiten.‹
Mir freundlich zunickend, verließ er den Raum. Tiang Li Yang stellte sich nun neben mich und sah mir in die Augen.
›Das hätte schiefgehen können und ich hätte mir das niemals verziehen. Du hast sehr viel Glück gehabt, dass die Spitze auf den Rippen abgeprallt ist. Wenn sie in die Lunge eingedrungen wäre, hätte dir niemand mehr helfen können.‹
›Dich trifft keine Schuld. Du hättest es nicht verhindern können. Wenn hier jemand schuld ist, dann bin ich das.‹
Der Abt machte eine wegwischende Bewegung mit der Hand.
›Es geht hier nicht darum, einen Schuldigen zu finden. Das einzig Wichtige ist, dass du wieder vollkommen gesund wirst und dass es bei diesem einen Unfall bleibt.‹
›Ich möchte das ja auch! Und deswegen habe ich mir auch Gedanken darüber gemacht, warum das geschehen konnte.‹
Der Abt wollte mich unterbrechen, doch ich sprach weiter, ohne darauf einzugehen.
›Ich weiß nun, dass ich mich zu sehr von dem Wunsch habe leiten lassen, als Sieger aus diesem Kampf hervorzugehen. Es war falsch, denn es geht ja nicht darum, der Beste zu sein, sondern darum, Perfektion zu erlangen.‹ Ich sah Tiang Li Yang in die Augen. ›Ich werde meinen Gefühlen nicht mehr erlauben, mein Handeln zu bestimmen!‹
Der Abt lächelte. ›Das ist sehr lobenswert von dir, doch nun musst du erst einmal gesund werden und dazu brauchst du viel Ruhe, denn die Wunde ist, auch wenn sie nur über den Rippen ist, nicht ganz ungefährlich. Außerdem hast du nicht gerade wenig Blut verloren.‹
Ich nickte, denn ich fühlte mich auch sehr matt.
›Gut‹, sagte er abschließend, ›Ruhe viel und unterstütze die Heilung durch Meditation. Wir werden dich jetzt alleine lassen, es wird aber so oft wie möglich jemand nach dir schauen.‹
Wang Lee ging als letzter aus dem Raum. In der Tür drehte er sich noch einmal um und sagte:
›Es tut mir leid! Das wollte ich nicht! Lieber wäre ich …‹
Ich unterbrach ihn: ›Wang Lee, lass gut sein. Du kannst das wenigste dafür. Wenn sich hier einer entschuldigen müsste, dann bin ich das.‹
Ich schloss die Augen und gab damit das Zeichen, dass das Gespräch für mich beendet sei.
Er ließ mich allein und ich schlief schnell ein.

Es gibt noch keine Bewertungen. Schreibe selbst die erste Bewertung!



zurück zur Kapitelauswahl