Dao

Kapitel 7 – Yin und Yang

Abschnitt 3

Wir hatten ihn zur letzten Ruhe gebettet und jeder von uns beiden sprach leise in seinem Glauben ein Gebet für ihn. Dann wollten wir hinabsteigen und diesen traurigen Ort verlassen, doch als wir an dem Gang vorbeikamen, der zum Fundort der Leiche führte, fiel mein Blick auf ein kleines grünes Amulett aus Jade-Stein. Vermutlich war es beim Transport des Toten heruntergefallen.
Ich ging hin und hob es auf. Das Lederband, an dem es der Einsiedler wahrscheinlich um den Hals getragen hatte, war porös und zerfiel schon bei der leichtesten Berührung, aber der Jade-Anhänger war schön und unversehrt. In dem nun stumpf wirkenden Jade-Stein war eine in meditativer Haltung sitzende Buddha- Figur eingearbeitet. Ich zeigte es Wang Lee und wir berieten, was damit geschehen sollte. Um es dem Toten mit beizulegen, hätten wir die Steine wieder wegräumen müssen, doch das erschien uns zu aufwändig. Einfach obenauf wollten wir es aber auch nicht legen, also entschlossen wir uns es mitzunehmen, denn vielleicht half es ja bei der Identifizierung des Toten. Auf unserem Weg zurück zum Wudang-Kloster zeigte ich vielen dieses Amulett, doch niemand hatte den Träger gekannt oder das Amulett schon einmal gesehen.
An diesem Tag sprachen wir kaum ein Wort. Jeder hing seinen Gedanken nach und diese drehten sich zum großen Teil um den Toten. Was hatte ihn dazu bewogen, sich fern von anderen Menschen in einer Höhle zu verstecken? Hatte er ähnliche Erlebnisse wie Wang Lee oder ich gehabt? Oder war er einfach nur ein sehr spiritueller Mensch gewesen, der Erleuchtung suchte?
Als wir einige Tage später wieder im Wudang-Kloster waren, und ich beim Training oft unkonzentriert war, fragte mich Tiang Li Yang nach dem Grund.
›Gü Man, du bist recht unkonzentriert, was beschäftigt dich denn so sehr?‹
›Wir haben dir doch von dem Einsiedler berichtet. Er geht mir einfach nicht aus den Kopf. Warum ist er so einsam gestorben? Was veranlasst einen Menschen dazu, in die Einsamkeit zu gehen? Was hat er empfunden?‹ Ich sah Tiang Li Yang in die Augen. ›Fragen über Fragen und ich finde keine Antwort.‹
Der Abt schaute sich kurz um und deutete dann auf eine Gruppe niedriger Bäume, die neben der Treppe standen, die zum Haupttempel des Klosters führte.
›Ich denke, es hat heute wenig Zweck, weiter zu üben. Wir müssen erst einmal deinen unruhigen Geist beruhigen. Dort können wir uns in die warme Frühlingssonne setzen und ich werde versuchen, deine vielen Fragen zu beantworten.‹
Ich ging mit dem Abt zu der Baumgruppe und setzte mich. Wang Lee hatte sich von uns verabschiedet, denn da ihn das Thema nicht so beschäftigte, wollte er lieber Shaolin-Boxen trainieren.
›Was weißt du über Einsiedler? Gibt es dort, wo du herkommst, keine?‹
›Es hat früher welche gegeben.‹ Ich stockte kurz. ›Früher … hmm … oder … ? Egal, auf jeden Fall war das lange, bevor ich geboren wurde. Es gibt zwar Klöster bei uns, die den Zweck haben, Mönche zu beherbergen, die nur für ihren Glauben leben möchten. Da sind auch welche dabei, wo die Mönche ein Schweigegelübde ablegen, um die Andacht nicht mit sinnlosen Worten zu stören, doch alle leben sie mehr oder weniger in einer Gemeinschaft. Und, ich muss gestehen, dass ich bisher noch nie darüber nachgedacht habe, warum ein Mensch die Einsamkeit sucht und sich von allem lossagt.‹
›Gut, gut. Erst einmal, das Klosterleben und die Einsiedelei sind zwei grundverschiedene Dinge. Im Kloster leben Mönche und Nonnen, um ihren Göttern zu dienen, aber es ist auch ein Auffangort für Menschen, denen sonst wenige Möglichkeiten bleiben. Dabei spielt Armut eine große Rolle.‹
Ich wollte einen Einwurf machen, doch er unterbrach mich mit einer Handbewegung.
›Es mag sein, dass es dort, wo du herkommst, anders ist, doch hier ist es so.‹ Er machte eine kurze Pause und fuhr dann fort.
›Bei den Einsiedlern verhält es sich da meistens anders. Viele haben den Sinn oder den Halt in ihrem Leben verloren und versuchen dann, in der Einsamkeit wieder einen Weg zu finden, der ihnen erlaubt, weiterzuleben. Dabei spielt der Glaube an einen bestimmten Gott keine große Rolle. Es ist unwichtig, ob dieser Mensch an Buddha, an das Dao oder an etwas anderes glaubt.‹ Ich nickte, denn das leuchtete mir ein.
Er sammelte sich kurz und fuhr dann fort: ›Es gibt aber auch noch eine andere Art der Einsiedler. Das sind oft Mönche oder andere sehr gläubige Menschen, denen es nicht reicht, was zur Verehrung ihres Gottes im Kloster oder in der Gemeinschaft getan wird. Sie möchten ihrem Gott ganz nah sein. Sie versuchen, alles Denken und Handeln auf ihren Glauben auszurichten, um völlige Erleuchtung zu erlangen und da sie sich dabei von allen Nebensächlichkeiten gestört fühlen, wählen sie die Einsamkeit. Manchmal kehren diese Menschen nach einer Weile wieder zurück ins Leben, doch meist können sie sich nicht mehr so richtig in die Gesellschaft eingliedern und bleiben Außenseiter.‹
›Ja, ähnliche Gedanken hatte ich auch schon. Doch warum gehen diese Menschen so weit in ihrem Wunsch sich auszugrenzen, dass sie ihr Leben aufs Spiel setzen, wie der, den wir gefunden haben?‹
Tiang Li Yang dachte einen Moment nach. ›Das ist eine Frage, die dir wahrscheinlich keiner beantworten kann. Vermutlich nicht einmal der Einsiedler selbst. Es ist fast das gleiche, als wenn du einen Selbstmörder fragen würdest, warum er sich umbringen möchte. Für ihn ist es in diesem Moment die schlüssige Antwort auf verschiedene oder eine bedeutende Begebenheit. Für andere wird sich der Sinn immer verschließen.‹
Mit diesen Worten hatte er einen wunden Punkt bei mir getroffen und vermutlich sah er das auch, denn er schwieg erst einmal und ließ mich in Ruhe über seine Worte nachdenken.
Ja, warum hatte ich denn damals versucht, mir das Leben zu nehmen? War es eine logische, schlüssige Handlung auf alles oder war es nur eine Flucht?
Es war das erste Mal seit Langem, dass ich mich wieder mit dieser Situation auseinandersetzte und ich fühlte mich gar nicht wohl dabei.
›Wie ist das eigentlich in eurem Glauben? Werden Selbstmörder da verdammt? Erreichen sie das Himmelreich oder eine höhere Ebene, oder haben sie, wie in manchen anderen Glaubensrichtungen, kein Recht darauf?‹
›Oh, schon wieder so viele Fragen auf einmal‹, lachte er. Doch sofort wieder ernst werdend, antwortete er: ›Nein, das würde unserem ganzen Glauben widersprechen. Doch ich möchte deine Fragen der Reihe nach beantworten. Also, in unserem Glauben gibt es viele Götter und Geister. Dir jetzt hier alle aufzuzählen und deren Bedeutung zu erklären, würde zu weit führen. Doch alle haben eins gemeinsam, das sie eint, nämlich den Grundgedanken unseres Glaubens, das Dao. Das Dao ist die Urkraft des Seins, es ist der Weg, die stille Kraft, das Dao ist das natürliche Gleichgewicht. In unserem Glauben gibt es keinen Druck von Verboten und Strafen. Wenn du dem Dao folgst, den natürlichen Weg des Gleichgewichts beschreitest, kannst du nichts falsch machen, denn alles gleicht sich in irgendeiner Form aus. Es gibt nichts, was nur böse oder nur gut ist. Alles hat zwei Seiten, Yin und Yang.‹ Er schaute mir in die Augen, um zu sehen, ob ich alles verstanden hatte und fuhr dann fort: ›Deine anderen Fragen wurden zum Teil durch meine Erklärung schon beantwortet. Doch zum Selbstmord als solchem kann ich dir wenig sagen, denn ich habe zwar schon gehört, dass sich Menschen das Leben genommen haben, doch ich bin mit solchen noch nicht in Berührung gekommen. Wenn jemand den Weg geht, also das Dao lebt, dann kommt das gar nicht in Frage, denn alles gleicht sich irgendwie aus. Hat jemand einen großen Verlust hinnehmen müssen, dann hatte er zu viel oder der Verlust wird durch etwas anderes ausgeglichen. Insofern gibt es gar keinen Grund für ihn, das Leben wegzuwerfen.‹
Er machte eine kurze Pause und fuhr dann fort: ›Das bringt uns wieder zu den Einsiedlern. Einige dieser Menschen haben eine solche Erfahrung gemacht und nicht verstanden, warum es geschehen ist. Nun suchen sie die Einsamkeit und wollen mit Askese und Meditation den Weg erkennen und verstehen. Ich persönlich halte das nicht für richtig, doch für diese Menschen ist es in diesem Moment der richtige Weg und deshalb ist es richtig. Jeder soll seinen Glauben so leben können, wie er ihn versteht und kennt. Keiner hat das Recht, einem anderen diesen Glauben zu verbieten oder zu sagen, das ist richtig und das ist falsch. Druck auszuüben ist der falsche Weg, denn Druck erzeugt Gegendruck und verhindert die Vollkommenheit.‹
Mehr in Gedanken äußerte ich:
›Wenn doch in anderen Glaubensanschauungen auch ein wenig von diesem Denken vorhanden wäre!‹
›Hüte dich vor solchem Denken!‹, ermahnte mich Tiang Li Yang. ›Werte niemals eine Religion, denn du möchtest auch nicht, dass andere deinen Glauben werten. Wähle deine Worte sorgsam, denn sie könnten von anderen falsch verstanden werden. Halte dich zurück mit Kritik. Gib höchstens Hinweise, dass du es anders siehst und nach deinem Verständnis anders machen würdest, denn schnell denken andere, du willst dich über sie stellen oder du hältst dich für besser. Tue nur das anderen, was du selbst auch von anderen getan haben möchtest. Du möchtest nicht, dass ein anderer deine Religion schmäht, dann schmähe auch nicht die seine. Wir achten zum Beispiel Wang Lees Glauben an Buddha und auch deinen, obwohl ich noch nicht viel davon gesehen oder verstanden habe. Keinem von uns würde es einfallen, diesen Glauben zu werten oder in Zweifel zu ziehen, dass er für euch richtig ist. Es ist euer Weg, also euer Dao.‹
Meine Achtung zu dieser Lebenseinstellung wuchs immer mehr. Wenn dieser Glaube wirklich so gelebt wurde, dann konnte echte Harmonie entstehen. Doch eins wurde mir auch klar, das Grundprinzip dieses Glaubens steckte auch in fast jeder anderen Religion, nur umgesetzt wurde es von den wenigsten.
›Gab es bei euch niemals Glaubenskriege?‹
Er überlegte einen Augenblick und schüttelte dann den Kopf.
›Soweit ich weiß, nicht. Es ging in Kriegen immer nur um Macht- und Besitzansprüche. Warum sollte aus Glaubensgründen ein Krieg geführt werden?‹
›Da gibt es weit entfernte Länder, in denen das so geschieht‹, sagte ich und erzählte ihm von dem Konflikt zwischen katholischen und protestantischen Einflussgebieten, ohne ins Detail zu gehen und Namen zu nennen.
›In diesen Ländern gibt es zwei Hauptrichtungen eines Glaubens und jeder ist davon überzeugt, dass seine Anschauung richtig ist. Die Anhänger der älteren Glaubensrichtung versuchen, die neue auszumerzen und das mit Waffengewalt. Während die Anhänger des neueren Glaubens ihre Anschauung durchsetzen möchten und auch das mit Waffengewalt.‹
›Das verstehe ich nicht. Erzähle mir bitte mehr davon.‹
Ich versuchte, so allgemein wie möglich zu beschreiben, wie sich diese Auseinandersetzungen zugetragen hatten und erwähnte auch die Kreuzzüge, doch nicht namentlich, sondern nur als Religionskriege.
Aufmerksam hatte Tiang Li Yang mir zugehört. ›Alles, was du mir geschildert hast, deutet doch nur auf Machtkämpfe hin, in denen der Glaube als Vorwand genutzt wird. Die einen wie die anderen haben ihre Untertanen durch den Glauben motiviert, um sich größere Einflussgebiete zu sichern. Der Glaube spielt dabei nur eine untergeordnete Rolle und wird von den Machthabern nur genutzt, um ihre Ziele durchzusetzen. Das ist bei unserer Religion schlecht möglich, weshalb es wahrscheinlich auch nie dazu kam. Sicherlich gibt es überall und in jedem Glauben fanatische Menschen, die jeden anderen von der Richtigkeit ihres Denkens überzeugen wollen. Doch es sind meist nur Ausnahmen und sie haben für sich alleine wenig Macht. Kommt aber dann ein Mächtiger mit ins Spiel, der diese Menschen für seine Ziele nutzt, kann er mit deren Hilfe sicherlich viel erreichen. Doch bei all diesen Beispielen sind es immer Machtkämpfe, und der Glaube ist nur Mittel zum Zweck.‹
So hatte ich das bis jetzt noch gar nicht gesehen und ich hatte nun viel Stoff zum Nachdenken, aber auch viel Klarheit erlangt. Die wichtigste Erkenntnis aus diesem Gespräch war aber, dass man seinen Glauben wirklich leben sollte, denn dann würde sich vieles von selbst erledigen. Doch so einfach war das ja auch nicht und da der Mensch immer dazu neigt, den Weg des geringsten Widerstandes zu gehen, bleibt es oft nur beim Wollen.«

Es gibt noch keine Bewertungen. Schreibe selbst die erste Bewertung!



zurück zur Kapitelauswahl