Dao

Kapitel 6 – Auf Wanderschaft

Abschnitt 3

Wang Lee hatte das Dach ausgebessert und am Abend das Hühnerfutter wieder aufgeräumt. Die warme Sommersonne hatte es schnell wieder getrocknet. Dann hatte er an den Gemüsebeeten weitergearbeitet und den Frauen noch bei anderen Dingen geholfen.
Unsere Gastgeber waren sehr froh, dass sie dank unserer Hilfe den größten Teil der Unwetterschäden so schnell wieder beseitigen konnten und dankten uns sehr dafür. Wir blieben noch zwei Tage bei ihnen und halfen ihnen bei ihren Arbeiten.
Wann immer wir einen der anderen Dorfbewohner trafen, wurden wir freundlich gegrüßt und mussten, wenn möglich, vom Leben außerhalb des Dorfes berichten. Besonders dem Kloster und dadurch jetzt auch uns in unserer Mönchskleidung waren sie sehr verbunden. Sie hatten die Hilfe der Mönche nicht vergessen und immer, wenn ich in ihre Gesichter sah, sah ich den tiefsitzenden Schmerz, die verborgene Trauer und die heimliche Angst, dass so etwas wieder geschehen könnte.
Als wir am Morgen des vierten Tages das Dorf wieder verließen, um unsere Wanderschaft fortzusetzen, standen nicht nur Wang Lees Verwandte da, um uns zum Abschied zu winken.
Wir verließen das Dorf nicht auf demselben Weg, auf dem wir gekommen waren, sondern in entgegengesetzter Richtung. In einem weiten Bogen, der nach Südosten führte, kamen wir wieder zum Fluss. Dieser schien mir viel schmaler zu sein und auch weniger Wasser zu führen, als an der Stelle, wo wir ihn mit der Fähre überquert hatten. Als ich Wang Lee danach fragte erklärte er mir, dass das hier der Luo He sei und wir den Fluss mit der Fähre an einer Stelle überquert hatten, wo er schon mit dem Yi He zusammengeflossen war und dadurch auch mehr Wasser führte.
So begann unsere Wanderung nach Wudang, bei der wir nicht den kürzesten Weg nahmen, damit ich Land und Leute kennen lernte. Oft übernachteten wir auch im Freien, was bei dem warmen Hochsommerwetter kein Problem war.
Erst folgten wir eine ganze Strecke dem Luo He flussaufwärts, bis dieser immer weiter nach Süden abwich, wir uns aber mehr in südwestlicher Richtung hielten, um bei Guandaokou ein kleines buddhistisches Kloster zu besuchen. Dort hielten wir uns zwei Tage auf, bevor wir uns nach Süden wandten und bei Lushi den Luo He überschritten. Diese kleinen Städte Guandaokou und Lushi waren zwar auch interessant, doch die oft unter primitiven Verhältnissen lebende, arme Landbevölkerung beschäftigte mich viel mehr. Diese Bauern versorgten die Städte mit Nahrung und lebten doch oft unter erbärmlichen Bedingungen. Wenn man sah, wie sie sich abmühten und das wenigste von ihrer Hände Arbeit selbst nutzen konnten, wurde man sehr nachdenklich. Die Last der Abgaben war erdrückend und es war nicht verwunderlich, wenn man hörte, dass die Kindersterblichkeit sehr hoch war. Solche Begegnungen erinnerten mich daran, wie gut es mir doch eigentlich ging und ich haderte nicht mehr so oft mit meinem Schicksal.
Mit seitlichen Abstechern wanderten wir von Lushi aus ständig in Richtung Süden bis wir die Gebirgsregion verließen. Wir kamen durch ein Gebiet, das von vielen kleinen Wasserläufen durchzogen und recht feucht, fast sumpfig war. Einige kleinere und größere Seen gaben mir die Möglichkeit zu ausgiebigen Bädern.
Als das Gelände dann wieder bergiger wurde, erklärte mir Wang Lee, der schon einmal hier gewesen war, dass wir nun im Wudang-Gebirge seien und bald das Kloster erreichen würden. Dieses Massiv, Wudangshan genannt, war so ganz anders, als die Landschaft um Shaolin herum. Hier waren die Gipfel schroffer und steiler. Auch viele Höhlen und Grotten gab es in dieser Region.
An einem schönen Spätsommertag, nach über zwei Monaten Wanderschaft, erreichten wir das Kloster Wudang. Die Sonne hatte ihren Höchststand schon überschritten, als wir am Fuße des Klosterberges ankamen. Ich blieb eine Weile stehen, um das Bild, das sich mir bot, richtig aufzunehmen.
Das Kloster war auf einem Berggipfel erbaut und ein steiler Weg, der oft von Stufen unterbrochen war, führte bis zum Eingang. Majestätisch thronte der Haupttempel auf dem höchsten Punkt und der Westwind trieb Wolkenfetzen an den Berg, die Teile des Klosters immer wieder den Blicken entzogen. Eine Mauer umzog den Hauptteil des Klosters und machte es somit fast uneinnehmbar.
Lange stand ich da und versuchte, alle Details zu erfassen. Als ich dann wieder zu Wang Lee hinsah, lächelte er und sagte:
›Beeindruckend, nicht wahr?‹
›Ja! Es ist so ganz anders, als das Shaolin-Kloster und alles, was ich bisher gesehen habe.‹
›Ich denke, da wirst du hier noch viel mehr zu sehen bekommen, denn es gibt hier in der Umgebung noch viele andere taoistische Klöster und Bauwerke, die sehr imposant sind.‹ Er machte eine auffordernde Geste und sagte:
›Komm, lass uns gehen und uns beim Abt vorstellen.‹
Ich nickte und wir begannen mit dem Aufstieg. Auf halbem Weg machten wir eine kleine Pause und ich musterte einige Wächterfiguren, die den Wegrand säumten. Dabei stellte ich fest, dass diese viel massiver und nicht so detailreich gefertigt waren wie in Shaolin. Diese Betrachtungen wurden von einigen Lastenträgern, die uns nun überholten, unterbrochen. An einer Stange über den Schultern, an deren Enden jeweils ein flacher Korb mit Seilen befestigt war, trugen sie Getreide und Obst nach oben. Mit schnellen, kräftigen Schritten strebten sie dem Gipfel entgegen und streiften uns mit einem kurzen, verwunderten Blick. Wir gehörten eben nicht hierher, denn unsere Kleidung unterschied sich sehr von der Mönchstracht, die hier getragen wurde. Als wir den oberen Tempelbereich betraten, begegnete uns ein jüngerer Mönch, der sofort stehenblieb und uns musterte.
Er war nicht kahlgeschoren wie die Shaolin, sondern hatte lange, tiefschwarze Haare, und diese waren hinten zu einem Knoten zusammengebunden. Auch die Farbe und der Schnitt seiner Kleidung waren anders. Wenn Wang Lee mir nicht schon während unserer Reise einiges über diese Unterschiede erzählt hätte, wäre ich nicht auf den Gedanken gekommen, dass er ein Mönch sein könnte.
Er sprach uns an und unser Erstaunen war groß, als wir feststellten, dass unsere Ankunft schon erwartet wurde. Nachfragen dahingehend ignorierte der junge Mann aber und forderte uns nur auf, ihm zum Abt zu folgen. Auf dem Weg dorthin sah ich Wang Lee fragend an, doch der zuckte nur mit den Schultern. Auch er konnte sich nicht erklären, woher sie von uns wussten. Vor dem Haupttempel bat uns unser Führer einen Moment zu warten, da der Abt gerade eine Zeremonie abhalte und erst ein geeigneter Augenblick abgewartet werden müsse, um ihm unser Kommen zu melden.
Lange mussten wir nicht warten, denn nur wenige Minuten später kam der junge Mönch mit dem Abt wieder heraus. Dieser stellte sich uns als Tiang Li Yang vor.
›Ihr habt eine Nachricht vom Abt des Shaolin-Klosters für mich?‹, fragte er.
Wang Lee nickte und holte das versiegelte Schreiben aus seinem Bündel. Der Abt sah sich das Siegel an, brach es und las sich die Zeilen schnell durch. Anscheinend zufrieden mit dem Inhalt, sah er uns an und lachte leise auf.
›Ihr macht ja köstliche Gesichter‹, stellte er schmunzelnd fest. ›Wundert ihr euch, dass ihr schon erwartet wurdet?‹ Wir nickten und sahen ihn fragend an. Da lachte er noch mehr.
›Ihr braucht euch eigentlich nicht zu wundern, denn ihr habt sehr lange gebraucht, um hierher zu kommen. In der Zwischenzeit hat euer Abt schon eine weitere Nachricht zu uns gesandt.‹
In diesem Moment wehte ein guter Duft in unsere Nasen.
›Ah, das erinnert mich daran, dass ich noch nicht gegessen habe. Wenn ihr auch noch nichts zu euch genommen habt, würde ich euch gerne zu einer Mahlzeit einladen und euch dabei alles erklären.‹
Dankbar nahmen wir dieses Angebot an und folgten Tiang Li Yang zu seinem Wohnbereich. Eine Frau von etwa vierzig Jahren hatte gerade den Tisch für zwei Personen gedeckt und als sie sah, dass zwei Gäste mitkamen, legte sie schnell noch zwei Gedecke dazu. Wie ich nun erfuhr, war es den Taoistischen Mönchen erlaubt eine Familie zu gründen, und diese Frau war die Gemahlin des Abtes. Sie stellte das Essen auf den Tisch und ging in die Küche, um noch mehr zuzubereiten.
Wir setzten uns an den gedeckten Tisch und mir war es sehr peinlich, dass wir für zusätzlichen Aufwand sorgten. Doch den Abt und seine Frau schien es überhaupt nicht zu stören, im Gegenteil, sie schienen sich über den Besuch zu freuen.
Während des Essens erzählte uns Tiang Li Yang, dass schon vor zwei Wochen ein Bote mit der Nachricht von Han Liang Tian gekommen sei und dass er uns mitteilen lasse, dass wir frühestens in einem Jahr zurückkommen sollten.
›Wenn ich das richtig verstanden habe, ist in Shaolin im Moment sehr viel los und die Boten des Kaisers gehen ein und aus. Auch scheint dieser General Mao Lu Peng nicht gut auf euch zu sprechen zu sein, weshalb Han Liang Tian euch bittet, länger hier zu verweilen.‹
Wang Lee sah mich an. Wir hatten eigentlich vorgehabt, hier nur wenige Tage zu bleiben, um vor Wintereinbruch wieder in Shaolin zu sein, doch nun wurde alles anders. Inzwischen sprach der Abt weiter.
›Es scheint Han Liang Tian überhaupt nicht zu gefallen, dass das Kloster nun so eine große Truppe ausbilden soll.‹ Er steckte sich wieder einen Bissen in den Mund, kaute sorgfältig und sagte dann: ›Mir würde es auch nicht gefallen. Das Kloster sollte eine Stätte des Glaubens und der Meditation sein und kein Heerlager. Gut, dass wir nicht so im Blick des Kaisers sind.‹
›Es gibt viele in Shaolin, die so denken, doch auch einige, die Macht und Einfluss erlangen möchten‹, warf Wang Lee ein.
›Ja ja, es ist immer wieder dasselbe und gereicht den Menschen nicht zum Vorteil.‹
Unser größter Hunger war gestillt und der Abt stand auf, holte das Schreiben von Han Liang Tian und überreichte es Wang Lee. Dieser las mir den Brief vor, denn ich hatte immer noch nicht gelernt, wie die Schriftzeichen zu entziffern waren.
Unsere Hoffnungen auf eine baldige Rückkehr waren nun zunichte gemacht und wir überlegten, was wir weiter tun sollten.
›Da braucht ihr gar nicht lange darüber nachzudenken‹, unterbrach uns Tiang Li Yang, ›ihr seid Gäste unseres Klosters und Han Liang Tian hat mich ja auch gebeten, dich, Gü Man, in unserer Kunst zu unterrichten. Er scheint sehr viel von dir zu halten und großen Wert auf deine Ausbildung zu legen.‹
Eindringlich musterte er mich, dann schüttelte er den Kopf und sprach weiter:
›Du scheinst nicht von hier zu sein, aber ich respektiere den Wunsch eures Abtes, dich nach nichts zu fragen.‹ Noch einmal schaute er mich intensiv an und es fiel ihm sichtlich schwer, keine Fragen zu stellen.
›Es ist schon verwunderlich, dass du in deinem Alter noch die Shaolin-Kampfkunst lernen sollst. Es ist eine körperlich sehr anstrengende Art der Verteidigung und erfordert ständiges hartes Training. Ich habe noch nie gehört, dass ein Mann in diesem Alter erst damit begonnen hat. Wenn es dir recht ist, würde ich morgen gerne einmal sehen, wie weit und gut du schon bist. Vielleicht kannst du mir mit Wang Lee zusammen eine Probe deines Könnens geben?‹
Wir sahen uns kurz an und Wang Lee nickte mir zu.
›Wir werden Ihren Wunsch gerne erfüllen, Meister.‹
Dieser lachte kurz und herzlich auf. ›Lassen wir diese Höflichkeiten. Ich heiße Tiang Li Yang und ihr könnt mich auch so ansprechen. Ich bin nichts besseres und werde euch gerne lehren, was ich weiß und kann.‹ Er stand auf und wir erhoben uns ebenfalls. ›Ich werde euch nun zeigen, wo ihr schlafen könnt. Den Rest des Tages könntet ihr ja dann nutzen, um euch mit unserem Kloster vertraut zu machen, und morgen sehen wir dann weiter.‹
Wir wollten gerade den Raum verlassen, als seine Frau wieder herein kam. Sie hatte mehre Schalen mit Essen in den Händen und blieb mit enttäuschtem Gesicht in der Tür stehen.
›Nun habe ich noch so viel gekocht und ihr wollt schon gehen. Jetzt, wo ich euch gerade Gesellschaft leisten wollte. Habt ihr denn gar keinen Hunger mehr?‹
Wir sahen uns an und konnten nicht ganz verbergen, dass wir noch Appetit hatten. In den letzten Tagen war unsere Kost recht schmal gewesen und so gut wie eben hatten wir schon lange nicht mehr gespeist. Tiang Li Yang, der das bemerkte bat uns, wieder Platz zu nehmen. Fröhlich stellte unsere Gastgeberin alles auf den Tisch.
›Wir waren nicht auf Gäste eingestellt und ich hatte nur für mich und Tiang Li Yang gekocht, deshalb hat es so lange gedauert, bis ich noch mehr zubereitet hatte‹, sagte sie entschuldigend. ›Nun langt zu und lasst es euch schmecken.‹
Wir ließen uns das nicht zweimal sagen und am Ende dieses ausgiebigen Mahls drückte mir seit Langem wieder einmal der Magen. Anschließend zeigte uns der Abt unser Quartier. Es war nicht im Inneren Klosterbereich und wir mussten wieder so weit absteigen, bis wir außerhalb der Mauern waren, die den oberen Teil umschlossen. Auf einem ebeneren Bereich unterhalb des Berggipfels standen einige Gebäude, die von Mönchen bewohnt waren.
Nachdem wir unsere Unterkunft in Augenschein genommen hatten, bedankten wir uns beim Abt. Dieser verabschiedete sich dann von uns, da ihn für den Rest des Tages noch verschiedene Pflichten in Anspruch nehmen würden.«

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