Dao

Kapitel 6 – Auf Wanderschaft

Abschnitt 2

Als wir beim ersten Tagesgrauen erwachten, hörte ich die Frauen nebenan schon werkeln. Auch wir standen auf und öffneten den Fensterladen, der noch vom abendlichen Gewitter her geschlossen war. Die frische kühle Luft, die uns entgegenschlug, war schwanger von Feuchtigkeit. Draußen triefte alles nur so vor Nässe und große Pfützen hatten sich auf dem Weg gebildet, der durchs Dorf führte. Irgendwo hinter dem Haus krähte ein Hahn und begrüßte den Morgen. Eine Ziege meckerte und ich hörte, wie Wang Lees Onkel leise wegen irgendetwas vor sich hin schimpfte.
Wang Lee hatte sich, mit der Decke vom Vorabend bekleidet, in die Wohnküche begeben und kam nun mit unseren mittlerweile trockenen Kleidungsstücken zurück. Nachdem wir die beiden Frauen begrüßt hatten, gingen wir hinaus und trafen vor der Tür auf Wang Lees Onkel.
›Guten Morgen! Hattet ihr eine angenehme Ruhe?‹
Wang Lee nickte freundlich.
›Natürlich, wir hatten doch auch ein sehr angenehmes Nachtlager!‹
›Sollen die Frauen euch ein Morgenmahl bereiten?‹
›Nein, danke. Unsere erste Mahlzeit nehmen wir erst zur Mittagszeit ein! Eine Schale Tee wäre aber nicht zu verachten.‹
›Gut, gut. Ich werde gleich mit den Frauen reden. Habt ihr sonst noch Wünsche?‹
›Im Augenblick nicht. Aber ich hätte noch einige Fragen an dich.‹
Da Wang Lee einige Jahre nicht bei seinen Verwandten gewesen war, fragte er nun nach Dingen, die ihn sehr interessierten. Es waren Familienangelegenheiten, und diese gingen mich nichts an. Ich wollte sie dabei nicht stören, drehte ich mich um und ging einige Schritte um das Haus herum. Hier bot sich ein guter Blick über das Dorf und die Umgebung.
Wie ich schon am Vorabend im Regen bemerkt hatte, war das Tal hier breiter geworden und die sanft ansteigenden Hügel zu beiden Seiten ließen genug Raum für einige Beete und Felder, die sich gleich an die Häuser anschlossen. Das Dorf bestand aus ungefähr zwanzig Gebäuden, die weit verstreut im Tal standen. Ausnahmslos alle waren niedrig und einfach gebaut. Hier herrschte sicherlich nicht viel Wohlstand. Zwischen den Häusern waren Wiesen und Felder und darauf machten sich auch schon einige Leute zu schaffen. Der Weg, auf dem wir das Dorf betreten hatten, schlängelte sich durch die Felder und verlor sich auf der anderen Seite in einer Biegung des Tales. Alles hier wirkte einfach und ärmlich. Der Boden war auch recht karg, und hier gedieh kein Reis wie am Fluss. In unmittelbarer Nähe der Häuser waren meist kleinere Gemüsebeete. Diese waren durch oft baufällige Zäune vor den vielen frei herumlaufenden Hühnern geschützt. Weiter weg von den Gebäuden waren dann Hirse- und Weizenfelder, doch diese machten nach dem starken Gewitterregen und dem Hagel vom Vortag keinen sehr guten Eindruck. Das Leben hier war sicherlich sehr mühsam.
Ich war immer noch in diesen Betrachtungen versunken, als Wang Lee zu mir trat.
›Weil ich weiß, dass du dich morgens gerne gründlich wäschst, habe ich meinen Onkel nach frischem Wasser gefragt und erfahren, dass die einzige Möglichkeit dazu immer noch in dem kleinen Gebirgsbach besteht, der dort drüben entlangfließt.‹ Er deutete nach rechts zu den sanften Hügeln am Rande des Tales.
›Wenn du möchtest können wir ja dorthin gehen und haben dort vielleicht auch die Möglichkeit, ungestört einige Tai Chi-Übungen zu machen.‹
Ich nickte und wir gingen langsam in die angegebene Richtung. Auf unserem Weg zum Bach kamen wir an einigen Gräben vorbei, die Wasser vom Bach zu den Feldern leiteten. Ohne diese Bewässerung würde der Ertrag vermutlich nicht zum Überleben der Dorfgemeinschaft reichen. Doch bei dem starken Gewitterregen vom Vortag war über diese Gräben zu viel Wasser in die Felder geflossen. Nun lagen die Ähren, die Wind und Hagel zu Boden gepeitscht hatte, teilweise im Wasser. An vielen Stellen hatten Erdreich und Steine das Wasser angestaut, sodass es unkontrolliert in die Felder floss und jetzt mehr Schaden anrichtete als es nützte.
Nach einer reichlichen viertel Stunde hörte ich den Bach plätschern und kurz darauf sahen wir ihn. Das Bachbett reichte kaum noch für das, was nun die Hänge herabkam. Viel Erdreich wurde mitgeführt und eilig sprang das Wasser, gurgelnd und schäumend, über die Steine hinweg. Es dauerte eine Weile, bevor wir eine Stelle gefunden hatten, wo wir uns waschen konnten. An dieser Stelle machte der Bach einen Bogen von über neunzig Grad. Das Wasser schoss am äußeren Rand entlang und im inneren Teil hatte sich ein kleines flaches Becken gebildet. Dort war wenig Bewegung und man konnte den sandigen Grund sehen.
Nachdem wir uns so gut es ging gewaschen hatten, überlegten wir uns, dass es vielleicht besser wäre, erst einmal Wang Lees Onkel bei der Beseitigung der Unwetterschäden zu helfen. Wir gingen zurück und begaben uns, da wir den Hausherrn nicht sahen, zu den beiden Frauen. Diesen wollten wir gerade von den Schäden auf den Feldern berichten, als wir es über unseren Köpfen rumoren hörten. Erstaunt sahen wir nach oben. Durch die feinen Ritzen der Bretterdecke rieselte Staub und die jüngere der beiden Frauen brachte schimpfend einige Schalen Tee in Sicherheit.
›Entschuldigt bitte! Trinkt euren Tee lieber gleich, bevor er kalt wird oder Dreck hineinkommt.‹ Ärgerlich schaute sie dabei zur Decke. Ihre Mutter schüttelte den Kopf und sagte:
›Es lässt sich nun mal nicht ändern. Als Wang Meng vorhin Futter für die Hühner herunterholen wollte, hat er gesehen, dass Schindeln auf dem Dach kaputt sind und es hereingeregnet hat. Nun muss er das Hühnerfutter herunterholen und in der Sonne trocknen lassen. Dann muss er das Dach wieder dicht machen.‹ Sie holte tief Luft. ›So viel Arbeit und immer wieder neue und mehr!‹ Nach einem weiteren tiefen Seufzer drehte sie sich um und ging hinaus, um ihrem Mann zu helfen.
Ich sah Wang Lee an und wir waren uns ohne Worte sofort einig. Wir mussten jetzt helfen.
Als wir diesen Entschluss in die Tat umsetzen wollten, protestierte die jüngere Frau heftig.
›Wo wollt ihr denn hin! Euer Tee wird doch kalt!‹
Wang Lee erklärte ihr, dass wir helfen wollten, doch wir mussten erst unseren Tee trinken, bevor wir hinausgehen durften. Als wir seinen Onkel dann fragten, was wir tun könnten, wollte dieser uns erst gar nicht helfen lassen.
›Ihr seid unsere Gäste, da können wir euch doch nicht hier arbeiten lassen.‹
›Unsinn Onkel, was soll denn das. Wir sind doch nichts besseres als ihr. Hast du schon vergessen, dass ich hier im Dorf geboren wurde? Bevor ich ins Kloster ging war ich schon alt genug, um mithelfen zu müssen. Ich weiß, dass es jetzt genug Arbeit gibt, die ihr gar nicht schnell genug schaffen könnt.‹
›Doch jetzt lebst du nicht mehr hier und ich muss es sonst auch selbst schaffen.‹
›Jetzt ist es aber gut, Onkel. Wir sind jetzt hier und wir wollen dir helfen. Also sagst du uns nun, was wir machen können. Oder sollen wir uns selbst Arbeit suchen?‹
Er überlegte einen Augenblick und sah uns dabei in die Augen. Schließlich schüttelte er den Kopf und sagte:
›Anscheinend kann ich euch nicht davon abhalten, also sehen wir mal.‹ Er schaute hoch zum Dach und dann seine Frau an. ›Ich würde gerne auf dem Feld nach dem Rechten sehen. Wang Lee, wenn du das restliche Futter herunterholen würdest, könnten die Frauen es zum Trocknen in der Sonne ausbreiten. Hier habe ich schon einige neue Schindeln hingelegt. Die könntest du dann gegen die kaputten tauschen.‹ Wang Lee nickte zur Bestätigung.
›Das kriege ich schon hin. Geht ihr nur aufs Feld und wenn ich schneller fertig bin als ihr, komme ich nach.‹
Wang Meng wollte nicht, dass ich mitarbeitete. Es gefiel ihm schon nicht, dass sein Neffe das tat, umso weniger sollte ich als Fremder Hand mit anlegen. Doch ich ließ mich nicht abweisen, nahm ihm das Werkzeug ab, das er sich gerade geholt hatte und wischte seinen Protest mit einer Handbewegung beiseite.
›Ich schließe mich hier nicht aus. Für mich gilt dasselbe wie für Wang Lee. Also gehen Sie voran, denn ich weiß nicht, wo Ihr Feld liegt.‹
Widerwillig fügte er sich und gemeinsam gingen wir aufs Feld. Als wir dort ankamen, stiegen ihm die Tränen in die Augen.
›Oh Buddha, so viel Schaden. Da bleibt nach den Abgaben nicht mehr viel für uns übrig.‹
Tief gebeugt und verzweifelt stand er da. Die Sorge um die Zukunft drückte schwer auf seine Schultern. Der alte Mann tat mir leid, doch ich wusste nicht, wie ich ihm helfen sollte, außer jetzt hier bei seiner Arbeit. Deshalb legte ich vorsichtig meine Hand auf seine Schulter und fragte:
›Was soll ich tun? Was ist am wichtigsten?‹
Diese Fragen rissen ihn in die Gegenwart zurück. Er richtete sich auf und schaute über das Feld.
›Dort unten führt ein Graben am Rande des Feldes entlang. Er läuft wieder in Richtung Bach und soll eigentlich überschüssiges Wasser ableiten. Doch überall hat es Erde angeschwemmt, sodass das Wasser nicht aus dem Feld abfließen kann.‹ Er schaute mich an. ›Wenn Sie möchten, könnten Sie am Feldrand kleine Rinnen hacken, damit das Wasser wieder abfließen kann. Ich würde dann inzwischen zum Bach gehen und den Zufluss absperren, damit nicht noch mehr Wasser hierher kommt.‹
Ich nickte, legte das Werkzeug ab und suchte mir eine geeignete Hacke heraus. Dann machte ich mich auf den Weg. Das Wasser stand wirklich im Feld, wie in einer seichten Wanne und wenn die Halme nicht verfaulen sollten, musste bald Abhilfe geschaffen werden.
Ich war fast fertig, als Wang Lees Onkel wiederkam, sich meine Arbeit ansah und anerkennend nickte. Gemeinsam säuberten wir dann den Zufluss und beseitigten den Dreck und die Steine, die das Wasser mit angespült hatte. Die Mittagszeit war schon überschritten und ich bekam langsam Hunger, als wir seine Frau kommen sahen. Sie trug einen Korb in der einen und einen Krug in der anderen Hand. Schnell stieß er seine Schaufel in den Boden, lief ihr entgegen und nahm ihr den Korb ab. Als die beiden bei mir ankamen, lachte er mich an und sagte:
›Weil wir nicht zum Essen reingekommen sind, bringt sie es uns heraus.‹ Er nahm sie in den Arm und drückte sie herzlich an sich. ›Selbst das schwerste Leben ist schön, wenn man es mit jemandem so lieben und aufmerksamen teilen kann!‹
Es war ein wunderschönes Bild, wie diese beiden alten, von der Last der schweren Arbeit gebeugten Menschen, sich im Sonnenschein in den Armen lagen.
›Wir haben einen Gast‹, sagte sie und drückte ihn mit leicht geröteten Wangen von sich.
›Warum soll ich mich denn schämen, wenn ich zeige, dass ich meine herzensgute Frau immer noch liebe?‹ Er schaute sich kurz um, entdeckte eine trockene Stelle, wo wir uns zum Essen niederlassen konnten und stellte dort den Korb ab. Bald saßen wir schweigend da und genossen die gute Mahlzeit. Zufrieden mit der Arbeit, deren Ergebnis ich nun sehen konnte, langte ich tüchtig zu. Ich kann nicht sagen, ob dieses einfache Mahl wirklich so gut schmeckte oder ob es nur daran lag, dass ich wieder einmal etwas mit meinen Händen geschaffen hatte. Auf jeden Fall hatte ich den Eindruck, das beste Essen seit Langem zu mir genommen zu haben und sprach der Köchin mein Lob aus. Diese bedankte sich und fragte, ob Wang Lee dann noch zu uns herauskommen solle oder ob er drinnen am Gemüsebeet weiter machen könne.
›Das Wichtigste ist hier schon geschehen, wenn er möchte, kann er ruhig bei euch weitermachen.‹
›Danke, er ist uns eine große Hilfe‹, sagte sie und packte dabei das Geschirr wieder in den Korb. Nur den Krug und zwei Schalen für den Tee ließ sie uns da, dann winkte sie ihrem Mann noch mal kurz zu und ging zurück ins Dorf.
Ich nahm mir eine Schale Tee und schaute dabei der Frau hinterher. Überall und zu jeder Zeit mussten die Menschen ums Überleben kämpfen. Die einen mehr die anderen weniger, doch am Ende des Lebens werden sich die wenigsten nur an die schlimmen Dinge erinnern. Die meisten werden an solche glücklichen Momente, wie sie mein Gastgeber eben hatte, zurückdenken und wenn sie in der Lage sind, diese Augenblicke zu genießen, die Erfüllung ihres Lebens darin finden. Aus diesen Gedanken heraus stellte ich, ohne dabei zu überlegen, die Frage:
›Warum ist Wang Lee eigentlich ins Kloster gegangen?‹ Wang Meng hatte ebenfalls seiner Frau nachgeschaut, doch bei meiner Frage verschwand das Lächeln aus seinem Gesicht. Er überlegte einen Augenblick, bevor er antwortete und sprach dann mit bedrückter Stimme.
›Es ist keine schöne Erinnerung und wir hier im Dorf verdrängen diese Geschehnisse gern aus unserem Gedächtnis.‹
›Entschuldigung, das wusste ich nicht.‹ Es war mir peinlich, dass ich an Erinnerungen gerührt hatte, über die nicht gern gesprochen wurde, und ich wollte dieses Thema gleich wieder beenden. Deshalb stand ich auf, nahm die Hacke und wollte mich wieder an die Arbeit machen.
Der alte Mann sah mich von unten herauf an und deutete auf die Stelle, wo ich gerade noch gesessen hatte.
›Warten Sie, wir sprechen zwar nicht gerne über diese Ereignisse, doch das heißt nicht, dass wir es gar nicht tun. Außerdem möchte ich noch einen Augenblick ausruhen und Kraft schöpfen.‹ Er lehnte sich zurück, stützte sich mit dem rechten Ellenbogen auf dem Boden ab und nahm so eine bequemere Haltung ein.
›Ihr jungen Leute könnt vielleicht gleich weiterarbeiten, doch wir Alten brauchen manchmal eine kleine Pause.‹ Er schloss kurz die Augen, öffnete sie wieder und sah mit leerem Blick in die Ferne.
›Wang Lee war damals sechs Jahre alt und hat an einem Tag alles verloren. Wir hatten ein sehr gutes Jahr gehabt, eine reiche Ernte, und hofften daher, gut über den Winter zu kommen. Die Arbeiten auf den Feldern waren beendet und Wang Lee, der auch schon mithelfen musste, hatte nun Zeit, mit den anderen Kindern zu spielen. Sie trieben sich in den Hügeln herum und waren vergnügt und glücklich. Es ging auf den Abend zu und erschöpft, aber fröhlich strebten sie auf dem Weg dem Dorf zu. Nach einer Weile hörten sie hinter sich Geräusche und drehten sich um. Was sie sahen veranlasste sie, schnell auf das Dorf zuzurennen.‹ Wang Meng holte tief Luft. ›Ach, wären sie doch zur Seite weg in die Hügel verschwunden, vielleicht wäre alles nicht so schlimm geworden. Doch so holte sie die Horde Reiter, die da kam, schnell ein und trieb sie lachend vor sich her. Es waren marodierende Soldaten eines hohen Kaiserlichen Beamten, die Angst und Schrecken in der Umgebung verbreiteten. Ihr ehemaliger Herr hatte lange Zeit die Provinz hier verwaltet, sich aber immer mehr Freiheiten herausgenommen und bereichert. Als der Kaiser davon erfuhr, wollte er ihn entmachten, doch dieser widersetzte sich und versuchte, unter dem Schutz einer kleinen Söldnerarmee zu fliehen. Die Kaiserlichen Truppen stellten sie aber, und nur wenigen seiner Schutztruppe gelang die Flucht. Diese fanden sich dann wieder zusammen und zogen marodierend durchs Land.‹ Ein tiefer Seufzer entrang sich der Brust des alten Mannes. ›Ausgerechnet unser Dorf mussten sie sich vornehmen, bevor sie endgültig zur Strecke gebracht wurden. Sie trieben die Kinder mit ihren Lanzen vor sich her und verlangten, dass sich alle in der Mitte des Dorfes versammelten. Die Eltern schrien und wollten zu ihren Kindern, doch man ließ sie nicht hin, denn die Kinder sollten Druckmittel sein, um alles aus den Leuten herauszupressen. Als alle versammelt waren, begann das große Plündern. Andere fingen an, mit ihren Pferden die Kinder vor sich herzutreiben und aus Spaß mit den Lanzen zu pieken. Mein Bruder, Wang Lees Vater, war ein mutiger Mann und als sie es zu bunt trieben, stellte er sich zwischen einen Jungen und den Reiter.‹ Wang Meng schüttelte traurig den Kopf. ›Er hat es sofort mit dem Leben bezahlt und als seine Frau schreiend zu ihm rannte, wurde auch sie niedergeritten. Das hat wahrscheinlich ihre letzten Hemmungen beseitigt. Sie schlugen uns, vergewaltigten die Frauen und steckten einige Häuser in Brand. Auch Wang Lees Elternhaus war mit dabei.‹ Tränen rannen über das Gesicht des alten Mannes. Die Erinnerungen machten ihm sehr zu schaffen.
›Wang Lee kniete bei seiner blutenden Mutter und musste erleben, wie sie in seinen Armen starb. Aber auch uns erging es nicht viel besser. Die Söldner hatten sich nun meine Tochter vorgeknöpft und ihr Mann – sie hatten erst wenige Wochen zuvor geheiratet – wollte ihr beistehen. Sie … sie haben ihn einfach vor ihren Augen geköpft und sie dann dennoch geschändet. Da sind wir alle zusammengebrochen und willenlos ließen wir alles über uns ergehen.‹ Er vergrub sein Gesicht in den Händen und sprach so leise weiter, dass ich ihn kaum verstehen konnte.
›Keiner kann mehr sagen, wie lange das so ging, doch plötzlich kam Unruhe unter sie und sie sprangen zu ihren Waffen. Aber es half ihnen nichts mehr. Einige Kampfmönche aus eurem Kloster hatten sie schon tagelang verfolgt und nun endlich, für uns aber leider zu spät, erreicht. Die Mönche fuhren unter die Söldner wie die Wölfe und keiner hat überlebt. Es waren nur acht Mönche, aber die Söldner hatten keine Chance. Han Liang Tian, euer jetziger Abt, war ihr Anführer und er allein hat, als er sah, was sie getan hatten, die Hälfte von ihnen ohne Erbarmen niedergestreckt. Soviel ich weiß, hat er seit diesem Tag nie wieder gekämpft.‹ Langsam nahm der alte Mann die Hände vom Gesicht und wischte sich die Tränen ab.
›Die Mönche machten sich bittere Vorwürfe, weil sie nicht schneller gewesen waren und verhindert hatten, dass unser Dorf überfallen wurde. Doch als ich erfuhr, wo sie herkamen und wie lange sie schon hinter dieser Truppe her waren, wusste ich, dass sie diese berittenen Söldner niemals erreicht hätten, wenn diese sich nicht bei uns aufgehalten hätten.‹ Wang Lees Onkel sah mir in die Augen und ich konnte den tiefen Schmerz darin sehen.
›Nun, seit diesem Tag war Wang Lee nicht mehr derselbe. Er sprach nicht mehr, konnte aber auch nicht weinen. Er hatte niemanden mehr und wir nahmen ihn, wie auch meine Tochter, bei uns auf. Doch er wollte nicht essen und wir wussten nicht mehr, was wir mit ihm tun sollten. Han Liang Tian hat sich dann seiner angenommen und bot an, ihn ins Kloster aufzunehmen. Da wir nicht mehr weiterwussten und er dort auch ein besseres Leben haben würde, willigten wir ein und Wang Lee ging mit den Mönchen, als diese einige Tage später das Dorf wieder verließen.‹
Wang Meng lehnte sich zurück und schwieg. Die plötzliche Stille um mich herum schien mich zu erdrücken. Selbst die Vögel schienen verstummt zu sein bei dieser Geschichte. Bilder formten sich in meinem Geist und ich sah das Leid und Elend, das diese Menschen erduldet hatten. Hatte ich nicht vorhin noch gedacht, dass sie hier ein glücklicheres Leben führten als andere? Nun sah ich das anders. Was mussten sie über sich ergehen lassen und dennoch weitermachen. Warum nur waren Menschen so grausam? Warum taten sie sich gegenseitig so etwas an?
Viele hatten darauf schon eine Antwort gesucht und nicht gefunden. Aber eins stand fest: Krieg und Gewalt brachten immer das Schlechte im Menschen zum Vorschein. Vielleicht hatte der Abt deshalb zu den Betmönchen gewechselt.
Ich erinnerte mich daran, was er mir über das Kämpfen gesagt hatte:
›Gü Man, wir lehren dich alles, was wir können und wissen, aber sei dir stets bewusst, dass es nur das letzte Mittel ist, das man einsetzen sollte. Kämpfe nur, um dich zu verteidigen und niemals um des Kampfes willen! Du wirst eine große Macht besitzen, wenn du es richtig beherrschst, doch setze sie nur im Notfall und mit Bedacht ein!‹
Ich hatte diese Worte noch nie so gut verstanden wie jetzt.
Als Wang Meng geendet hatte, wagte ich nichts mehr zu sagen. Erst nach einer ganzen Weile erhoben wir uns wieder und arbeiteten dann schweigend bis zum Abend weiter. Als wir dann in der Dämmerung dem Dorf entgegenstrebten, brach ich das Schweigen:
›Es tut mir leid. Ich wollte nicht …‹
Der alte Mann machte eine wegwischende Handbewegung und unterbrach mich:
›Ist schon gut. Diese Erinnerung ist ständig da. Wir verdrängen sie nur und werden aber dennoch ständig durch irgendetwas daran erinnert. Sie konnten das nicht wissen und ich hätte es nicht erzählen müssen.‹
Er blieb kurz stehen und sah mich an.
›Aber eine Bitte hab ich noch, lassen sie sich möglichst nichts anmerken, wenn wir jetzt zu den Frauen kommen. Sie tragen noch schwerer an diesen Erinnerungen und ich habe auch noch niemals mit Wang Lee über diese Ereignisse gesprochen.‹
Ich nickte und wir setzten unseren Weg fort.
Die anderen empfingen uns fröhlich und ich hatte große Mühe mich ganz normal zu geben. Wang Meng fiel es viel leichter. Da sie schon viele Jahre damit lebten und diese Geschehnisse verdrängten, hatte er sich viel besser im Griff.

Es gibt noch keine Bewertungen. Schreibe selbst die erste Bewertung!



zurück zur Kapitelauswahl