Dao

Kapitel 5 – Erfahrungen

Abschnitt 1

»Mein dritter Winter im Kloster war vorüber. Während der kalten Jahreszeit hatte ich mich oft mit dem Abt getroffen. Jede Stunde mit ihm brachte neue Erkenntnisse und meine Einstellung zum Leben veränderte sich langsam. Ich sah vieles in einem anderen Licht und was mir einmal wichtig gewesen war erschien mir nun unbedeutend und kleinlich.
An einem wunderschönen warmen Frühlingsabend ging ich mit dem Abt zu dem kleinen Bäumchen, dessen Pflege er mir ans Herz gelegt hatte. Er strich über die prallen Knospen, die jeden Augenblick aufplatzen konnten, richtete sich auf und sagte:
›Ohne deine Hilfe hätte er den Winter nicht überstanden, doch jetzt ist er stark und wird ein würdiger Ersatz für den alten an seiner Seite werden.‹
Han Liang Tian setzte sich und bedeutete mir, mich neben ihm niederzulassen. Nach einigen Minuten des Schweigens fuhr er fort:
›Was hast du gespürt, als du mit ihm gesprochen und ihm geholfen hast?‹
›Manchmal hatte ich das Gefühl, ich spüre, wie der Saft unter seiner Rinde fließt. Wie er schneller fließt, wenn ich mit ihm spreche und ihn bitte, Kraft von mir zu nehmen.‹ Ich überlegte einen Augenblick und fügte dann, ohne es laut auszusprechen, hinzu: ›Und manchmal kam es mir dann so vor, als ob er sich bei mir bedankte.‹
›Es ist gut, dass wir uns wieder in Gedanken unterhalten, doch ich hatte den Eindruck, dass es diesmal aus einem anderen Grund geschehen ist!‹
Fragend sah Han Liang Tian mir in die Augen. Beschämt wich ich seinem Blick aus.
›Na ja. Ich … es klingt für mich ungewohnt und auch unmöglich, dass eine Pflanze mit mir spricht.‹
›Ich dachte, du hättest mittlerweile mehr von mir gelernt und würdest das verstehen.‹
Nun wurde ich noch verlegener.
›Es ist manchmal sehr schwierig für mich, so zu denken wie du. Ich wurde ganz anders erzogen und mir wurde vermittelt, dass es solche Dinge nicht gibt. Es musste für alles immer eine logische, wissenschaftliche Erklärung geben. Wenn es eine solche nicht gab, dann war es nicht möglich, war nur Einbildung oder ein Trugschluss. Nun begreife ich langsam, dass es doch Dinge zwischen Himmel und Erde gibt, bei denen man eine andere Sichtweise akzeptieren muss. Aber es gibt Situationen, in denen mir das sehr schwerfällt.‹
Ich hob meinen Kopf und sah in die freundlichen, verstehenden Augen des Abtes.
›Ich verstehe deine Zweifel, Gü Man. Doch wenn du jemals weiterkommen willst, musst du dich freimachen von solchem Denken, denn nur, was du aus ganzem Herzen glaubst und bedingungslos annimmst wird dir offenbart und kann von dir genutzt werden.‹ Er machte eine kurze Pause, in der er die Worte auf mich einwirken ließ. ›Was mich aber viel mehr bedrückt ist deine falsche Scham. Warum verhältst du dich so, mir gegenüber? Warum sprichst du ungern solche Dinge aus? Welchen Grund hast du dazu? Entsteht dir ein Nachteil daraus, selbst wenn deine Gedanken nicht den Tatsachen entsprechen? Kannst du mir sagen, warum das so ist?‹
Ich überlegte einen Augenblick und schämte mich schon wieder dafür, dass ich so gehandelt hatte.
›Nein, ich kann es dir nicht sagen. Es kam einfach so, ohne dass ich lange überlegt habe. Auch jetzt ist es mir schon wieder peinlich, dass ich mich so dumm verhalten habe.‹
Verstehend nickte Han Liang Tian.
›Wenn du wirklich gut werden willst in all den Dingen, die du hier lernst, dann musst du diese Eigenschaften ablegen. Sie werden dich immer am Vorankommen hindern.‹ Wieder sah ich, wie schon so oft, wie er sich nachdenklich mit der Hand über den kahlgeschorenen Schädel fuhr. ›Es ist eine unselige, dumme Eigenschaft der Menschen, sich so zu verhalten. Jeder für sich allein ist schwach und muss sich sein Wissen erst aneignen. Das Können und Wissen jetzt ist die Summe der Erfahrungen und Erkenntnisse der Generationen vor uns. Müsstest du all das, was dir hier vermittelt wird, selbst herausfinden, würde ein Leben nicht ausreichen, um einen Bruchteil davon zu erlernen. In der Gemeinschaft sind die Menschen stark und die Summe ihrer Erfahrungen hat sie zu dem gemacht, was sie jetzt sind.‹
Han Liang Tian lehnte sich zurück an den Stamm seines Baumes und erzählte mir zwei Geschichten, um das eben Gesagte zu verdeutlichen:
›Ein Bauer fertigt sich ein Geschirr für seinen Ochsen an. Er geht auf sein Feld, um zu pflügen, doch ständig geht das Geschirr an einer anderen Stelle kaputt. Sein Feldnachbar, ein erfolgreicher Bauer, ist mit dieser Arbeit schon fertig, doch er hat noch nicht einmal die Hälfte geschafft. Falsche Scham und Ehrgeiz hindern den Bauern aber daran, den anderen um Hilfe zu bitten. Immer und immer wieder versucht er es, erreicht aber nie das Notwendige und über die Jahre zerbricht er an seiner Arbeit. Der Nachbar hat es gesehen, doch auch ihn hat sein eigennütziges, ehrgeiziges Denken daran gehindert, auf den Erfolglosen zuzugehen. Erst als dieser nicht mehr kann und dessen Frau versucht, die Aufgabe zu übernehmen, hat er ein schlechtes Gewissen und bietet seine Hilfe an.
Den Unerfahrenen an seinem Wissen und seinem Können teilhaben zu lassen, hätte nicht viel Mühe gekostet und keinem geschadet. Nun war es viel schwerer, das mittlerweile verwahrloste Feld und die unnützen Arbeitsmittel wieder in Ordnung zu bringen. Hätte der eine dem anderen gleich geholfen, wäre es viel leichter für beide gewesen. Keiner kann sagen, was die Zukunft bringt und vielleicht hätte der Unterstützte bei anderer Gelegenheit ebenso helfen können. Doch falsche Scham, Eitelkeit und Ehrgeiz hinderten sie daran.‹
Wieder fuhr er sich mit der Hand über den Kopf.
›Oder nehmen wir ein anderes Beispiel. Ein sehr erfolgreicher, aber geiziger, eigensinniger und prahlerischer Kaufmann war unterwegs zu einem Markt in einer großen Stadt. Mit seinem Pferdefuhrwerk kam er gut voran und er überholte einen Bauern, der mit einem Teil seiner Ernte auch auf dem Weg in diese Stadt war. Dieser kam mit seinem Ochsenkarren nur langsam voran und hatte auch noch einige Dinge auf seinen Wagen geladen, um sich auf der langen Reise im Notfall selbst helfen zu können. Der Kaufmann lächelte über ihn, machte eine abwertende Bemerkung, und bei einer Übernachtung in einem Rasthof erzählte er seinen Tischnachbarn von dem Bauern und machte sich über diesen lustig. Stolz prahlte mit seinem Erfolg und lachte über die Mühsal und Unzulänglichkeiten der Ärmeren. Am nächsten Morgen setzte er seinen Weg fort, doch dieser war nun nicht mehr so gut instandgehalten und die vielen Löcher und herumliegenden Steine machten dem schwerbeladenen Wagen sehr zu schaffen. Auf einem besonders schlechten Stück brach ein Rad. Er war schon weit entfernt vom Rasthof und bis zum nächsten Ort war es noch viel weiter. Ratlos stand er neben seinem Wagen und wusste sich nicht mehr zu helfen. Reparieren konnte er den Wagen nicht, denn er hatte nichts mitgenommen, um sich selbst helfen zu können und auch sein Können reichte nicht dafür aus. Den Wagen zu verlassen, um Hilfe zu holen getraute er sich nicht, denn er hatte sehr viel seines Vermögens in die Waren gesteckt und hoffte sie mit guten Gewinn zu verkaufen. So spannte er also sein Pferd aus und wartete darauf, dass jemand vorbeikäme, den er um Hilfe bitten konnte. Aber wegen seiner prahlerischen Art hatten ihm die anderen im Rasthof nicht gesagt, dass es mittlerweile einen besser ausgebauten Weg in diese Richtung gab und nur noch wenige den benutzten, den er eingeschlagen hatte. So musste er die kommende Nacht im Freien verbringen. Am nächsten Morgen versuchte er sich doch an der Reparatur des Rades, scheiterte aber an seinem Unvermögen.
Der Tag war schon fast vergangen als er von Weitem das Klappern eines Wagens hörte. Gespannt und froh, dass endlich jemand kam, schaute er den Weg zurück, doch als er erkannte, wer da kam, verschwand die Freude aus seinem Gesicht. Es war der Bauer mit seinem Ochsenkarren. Dieser war nur langsam vorangekommen und hatte, um zu sparen, auch in keinem Rasthof übernachtet. Weshalb auch er nichts von dem neuen Weg wusste und die gleiche Strecke gewählt hatte.‹ Han Liang Tian sah auf und fragte: ›Was denkst du, wie die Geschichte weitergeht?‹
Meiner Ansicht nach gab es viele Möglichkeiten, und ich wählte die für mich wahrscheinlichste davon aus.
›Ich denke, der Bauer wird sich für die abwertende Bemerkung auf die eine oder andere Art gerächt haben.‹
›Ja, die meisten, denen ich diese Geschichte erzählt habe, dachten ebenso, doch der Bauer war ein sanftmütiger, mit seiner Umwelt in Frieden lebender Mann, der nicht gleich etwas übelnahm. Aber dem Kaufmann war es peinlich, gerade diesen um Hilfe bitten zu müssen. Aus Scham und falschem Stolz entschloss er sich, den einzigen, der ihm in diesem Moment hätte helfen können, nicht darum zu bitten. Er lehnte einige Gegenstände an das Rad, um den Schaden zu vertuschen und tat so, als ob er bloß eine Rast machen würde. Der Bauer hielt kurz an und fragte, ob er Hilfe brauche, denn seinem aufmerksamen Blick war der Schaden nicht entgangen. Doch der Kaufmann winkte ab und erzählte ihm, dass sein Pferd nur eine Pause brauche. Kopfschüttelnd fuhr der Bauer weiter. Doch auf dem weiteren Weg machte ihm sein Gewissen sehr zu schaffen. Er entschloss sich zwar nicht zur Umkehr, aber als er am nächsten Tag um die Mittagszeit an einem Rasthof vorüberkam, bat er die Leute dort, dem Kaufmann zu Hilfe zu eilen. Die Betreiber des Rasthofes informierten einen Wagenbauer, doch dieser fuhr erst am nächsten Morgen los, da er vor Einbruch der Dunkelheit nicht mehr weit gekommen wäre. Zwei zwielichtige Gestalten, die sich im Rasthof aufgehalten hatten, brachen aber kurz nach dem Eintreffen des Bauern auf. Sie gehörten zu einer Räuberbande, die in der Umgebung ihr Unwesen trieb. In der kommenden Nacht überfielen sie den Kaufmann, brachten ihn um, nahmen sein Pferd als Packpferd und die wertvollsten Gegenstände der Ladung mit. Als der Wagenbauer die Stelle am anderen Tag erreichte, bot sich ihm ein Bild des Grauens. Er lud den Toten und die restlichen Waren auf und brachte sie zum Rasthof. Doch keiner kannte den Kaufmann oder einen Angehörigen von ihm. Als einige Tage später der Bauer auf dem Rückweg wieder an dem Rasthof vorbeikam, wurde er festgenommen, denn er war als Täter in Verdacht gekommen. Kurz darauf wurden die wahren Täter bei einem anderen Überfall gestellt und der Bauer kam wieder frei, aber sein ganzes restliches Leben lang machte er sich bittere Vorwürfe, weil er dem Kaufmann nicht gleich geholfen hatte.‹
Der Abt nahm seine Meditationshaltung ein und sagte zum Abschluss:
›Denke nun einmal über den Sinn und die Moral der Geschichten nach und ich hoffe, dass du die richtigen Schlüsse daraus ziehen wirst.‹
Mit diesen Worten schloss er die Augen und begann zu meditieren.
Die beiden Geschichten beschäftigten mich wirklich sehr und ich überlegte was geschehen wäre, wenn der eine dies oder der andere das getan hätte. Es gab so viele Möglichkeiten, doch am Ende kam es immer wieder auf das gleiche heraus. Die Menschen stehen sich immer wieder selbst im Wege. In der Gemeinschaft sind sie stark und könnten ein Leben ohne große Not führen, doch allein sind sie oftmals zum Scheitern verurteilt. Aber warum ist das so, warum kann nicht jeder so viel geben, wie er vermag. Der eine mehr, der andere seinen Anlagen entsprechend weniger und am Ende die Früchte gemeinsam nutzen. Oft hat ja auch der, der im Moment weniger geben kann, eine Eigenschaft, die dem ersten auf eine andere Art zugutekommen könnte. Lange wälzte ich diese Gedanken hin und her und als sich der Abt erhob, um den Rückweg anzutreten, war ich noch nicht zu einem befriedigenden Ergebnis gekommen.
Auf halbem Weg fragte er mich dann, ob ich eine Moral in diesen Geschichten gefunden hätte.
Ich blieb stehen.
›Nein, ich kann jeden verstehen, kann jede Reaktion nachvollziehen und doch entzieht sich mir der Sinn des Verhaltens jedes einzelnen.‹
Han Liang Tian, der ebenfalls stehengeblieben war, setzte den Rückweg fort und sagte:
›Rein von der Vernunft her hat keine der beteiligten Personen sinnvoll gehandelt. Doch es liegt in der Natur des Menschen, sich so zu verhalten. Es bedarf einer großen Reife und Kraft, um anders zu leben. Für dich ist eigentlich nur eins wichtig. Du musst nicht verstehen, warum sich der eine so und der andere so verhalten hat. Du musst auch nicht den Sinn dieses Verhaltens verstehen, nur deine Lehren aus den Ergebnissen sollst du ziehen und dich anders verhalten.‹ Han Liang Tian blieb nochmals stehen und schaute mir in die Augen. ›Es hilft auch niemandem, wenn du über irgendeine der beteiligten Personen urteilst. Lebe anders, verhalte dich anders, mache nicht die gleichen Fehler, gehe anderen mit gutem Beispiel voran und zeige ihnen, dass es auch anders geht. Halte dich zurück mit Urteilen über andere, denn oftmals verletzen diese und bewirken nur eine gegenteilige Reaktion. Wenn du anderen mit gutem Beispiel vorangehst und ihnen nur vorsichtige Hinweise gibst, erreichst du mehr, als wenn du dich als ihr Richter aufspielst.‹
Der Abt setzte sich wieder in Bewegung und sagte zum Abschluss:
›Eins solltest du dir noch klarmachen. Wenn du so lebst, wird es oft nicht leicht sein für dich. Auch wird viel Unverständnis dein Lohn sein. Doch wenn du dann zur Ruhe gekommen bist, darüber nachdenkst, was sich aus deinem Verhalten entwickelt hat und was vielleicht geschehen wäre, wenn du dich anders verhalten hättest, wirst du am Ende ein glückliches Leben führen.‹
Beim Haupttempel trennten wir uns und ich begab mich in meine Kammer, doch in dieser Nacht kam ich lange nicht zur Ruhe. Ich dachte immer wieder über die beiden Geschichten nach, stellte Vergleiche zu meinem Leben und stellte dann die Frage: Was wäre geschehen, wenn …?
Unausgeschlafen und unkonzentriert wie ich am folgenden Tag war, hatte Mao Lu Peng endlich wieder einmal Gründe, mich zu schikanieren. Doch ich ließ diesmal den Frust nicht in mir aufsteigen und hatte am Ende des Tages auch mein Gleichgewicht wiedergefunden.
Als ich mich an diesem Abend wieder mit Han Liang Tian beim Bäumchen traf, ging er nicht mehr auf die beiden Geschichten ein.
›Ich hatte dich gestern gefragt, was du gespürt hast, als du deinem Pflegling geholfen hast. Deine Antwort hat mir gezeigt, dass du das Leben im Baum gefühlt hast. Nun musst du dir bewusst machen, dass alles um dich herum voller Leben und Kraft ist. Selbst die Erde, der Stein unter deinen Füßen ist voller Energie. Diese ist zwar anders, als die in den Pflanzen und Tieren, doch auch dort kannst du sie spüren und nutzen. Du wirst noch einige Zeit brauchen bis du gelernt hast, dir diese Kräfte nutzbar zu machen, doch wenn du begriffen hast wie es funktioniert, wirst du sehen, dass der Energievorrat um dich herum fast unerschöpflich ist.‹
Han Liang Tian stand auf und ging zu einem großen Felsbrocken, der einige Schritte unterhalb von uns lag.
›Berühre ihn und sage mir was du fühlst!‹, sagte er zu mir, als wir daneben standen.
Ich legte meine Hand auf den Stein und versuchte mich zu konzentrieren. Doch es wollte mir nicht so recht gelingen. Han Liang Tian, der das spürte, sagte:
›Versetze dich in diesen Block! Denke du wärst dieser Stein!‹
Ich versuchte es noch einmal und überrascht sah ich in das lächelnde Gesicht des Abtes.
›Ich sehe, du hattest Erfolg.‹ Erwartungsvoll sah er mir in die Augen.
›Ich habe die Wärme des Steins auf meiner Haut gespürt. Hatte das Gefühl, die wärmende Sonne zu spüren, die mich den ganzen Tag aufgeheizt hat. Ich war traurig, dass ich diese Wärme nicht halten kann, dass sie mich, wenn die Sonne weg ist, wieder verlässt. Es kam mir so vor, als hätte ich eine harte Haut wie dieser Stein und nur wenig könnte mir etwas anhaben.‹
›Gut, gut das genügt erst einmal.‹, unterbrach mich der Abt. ›Ich sehe, du hast den Felsbrocken wirklich gespürt. Nun möchte ich dir etwas zeigen, das dich vielleicht noch mehr erstaunen wird, als das Spiel mit der Opferschale im Tempel.‹ Er stellte sich vor den Felsblock. ›Dieser Brocken ist eigentlich viel zu schwer für mich und ich dürfte normalerweise nicht in der Lage sein, ihn ohne Hilfsmittel mit meiner Körperkraft vom Fleck zu bewegen. Doch nun schau genau her!‹
Der Abt spreizte die Beine leicht, holte mehrmals tief Luft, hob die Arme ein wenig und ließ dann die flachen Handflächen zusammenschlagen. Dann rieb er die Hände aneinander und legte sie schließlich auf den Stein. Nach wenigen Augenblicken nahm er die Hände wieder weg und wiederholte die Bewegungen, die er vorher gemacht hatte. Noch einmal tief Luft holend, beugte er sich dann herab, griff den Brocken und hob ihn anscheinend mit Leichtigkeit hoch. Er hielt ihn einige Augenblicke über seinen Kopf und legte ihn dann wieder sacht an der gleichen Stelle ab. Staunend sah ich vom Abt zum Stein und wieder zum Abt. Doch diesen schien das nicht die geringste Anstrengung gekostet zu haben. Ich dachte, dass er doch nicht so schwer gewesen sei, wie ich angenommen hatte und prompt kam vom Abt die Aufforderung:
›Versuche es! Heb ihn an!‹
Ich beugte mich herab und griff den Brocken, doch ich bewegte ihn nicht ein bisschen. Im Gegenteil, ich hatte das Gefühl, dass er fest mit dem Boden verbunden sei.
Wieder, wie so oft in letzter Zeit, kam das hintergründige Lächeln von Han Liang Tian.
›Nun fühle ihn noch einmal und schildere mir dann, was du spürst!‹
Wieder legte ich meine Hände auf die Oberfläche des Brockens und versetzte mich in ihn hinein. Erstaunt hob ich nach kurzer Zeit den Kopf und schaute in die freundlichen Augen des Abtes.
›Er ist leer. Es ist nichts mehr da. Keine Wärme mehr, nichts, keine Kraft, nur die Härte des Gesteins.‹
Ich muss ein recht dummes Gesicht dabei gemacht haben, denn das Lächeln ging bei Han Liang Tian in ein leichtes Grinsen über. Doch gleich wurde er wieder ernst und sagte:
›Es kann auch nichts mehr da sein, denn ich habe diese Energie genutzt, um den Brocken zu heben. Ich wollte dir damit zeigen, was alles möglich ist, wenn du die Kraft deiner Umgebung spürst und zu nutzen weißt. Es ist die höchste Form, die ich beherrsche und es wird noch lange dauern, bis du dazu fähig sein wirst.‹ Er setzte sich wieder an seinen Baum und bedeutete mir, es ihm gleichzutun. Nachdem ich neben ihm saß, fuhr er fort: ›Es gibt nur wenige, die dazu in der Lage sind, doch du bist einer der wenigen, denen ich es zutraue. Aber es ist noch ein weiter Weg bis dahin. Wichtig für die Beherrschung dieser Kräfte ist es, die Energie in allem um dich herum zu spüren. Ich möchte, dass du in den nächsten Tagen bewusst in deiner Umgebung nach diesen Kräften suchst.‹ Er deutete ins Tal zum Bach und fuhr fort: ›Schau dir das Wasser an, erkenne die Kraft, die im fließenden Wasser steckt. Es ist in der Lage, Steinen wie diesem Brocken eine ganz andere Form zu geben. Erforsche die Kraft, die in allem steckt, im Gras, im Wind der die Halme und sogar starke Bäume bewegt.‹ Bei diesen Worten hatte er mit den Händen auf den Felsbrocken, das dünne Gebirgsgras zu unseren Füßen und in die Luft gedeutet. Nun stupste er mit seinem Zeigefinger auf meine Brust und fuhr fort: ›Und nutze dein Chi, um das alles zu erkennen und um einen Weg zu finden, diese Kraft zu nutzen.‹
Han Liang Tian fuhr sich wieder einmal mit seiner Hand über den Kopf. Dabei schaute er gedankenverloren ins Tal.
›Vielleicht hast du ja schon das eine oder andere erkannt wenn ich wieder da bin, denn ich werde jetzt drei bis vier Wochen weg sein.‹
›Du gehst weg?‹, fragte ich erstaunt, denn in der Zeit, die ich nun schon hier war, hatte der Abt das Kloster nie länger als ein oder zwei Tage verlassen.
›Ja, ich muss in die Residenz und dem jungen Kaiser meine Aufwartung machen. Der alte Kaiser ist vor Kurzem gestorben und das junge, neugekrönte Oberhaupt des Landes verlangt mich zu sehen.‹
Ich sah Han Liang Tian an, dass er sich Sorgen machte. Es war anscheinend nicht üblich, dass der Kaiser nach seiner Krönung nach dem Abt des Klosters verlangte. Han Liang Tian wusste nicht, ob es ein gutes oder ein schlechtes Zeichen war, und diese Ungewissheit bereitete ihm Sorgen. Meine Kenntnisse über den Status des Klosters waren begrenzt. Nur so viel hatte ich mitbekommen, dass es gewisse Freiheiten hatte, aber im Gegenzug verpflichtet war, dem Kaiser mit seinen Kampfmönchen zur Verfügung zu stehen.
Schweigend saßen wir da und schauten ins Tal zum Kloster. Jeder hing seinen Gedanken nach und es war schon fast völlig dunkel, als wir zurückgingen. Am Tor begegnete uns Mao Lu Peng. Dieser warf mir einen vernichtenden Blick zu. Wie ich wusste, sah er es als ein großes Privileg an, dass er als Meister der Kampfmönche viel mit dem Abt zu tun hatte und es gefiel ihm überhaupt nicht, dass Han Liang Tian sich so viel mit mir beschäftigte. Wie immer ignorierte der Abt seinen Ärger.
›Weshalb suchst du mich, Mao Lu Peng?‹ Der Meister hatte sich schon lange abgewöhnt den Abt zu fragen, woher er wusste, was er von ihm wollte.
›Ich wollte die Einzelheiten der Reise noch einmal mit dir besprechen. Willst du wirklich nur zehn Mönche als Begleitung mitnehmen? Vielleicht sollten wir mit einer größeren Truppe auf die Reise gehen, um dem Kaiser unsere Kampfbereitschaft zu zeigen.‹
›Nein, auf gar keinen Fall! Ich denke, dass sogar zehn schon zu viel sein könnten. Der Kaiser könnte es falsch verstehen und wir müssten dann mit seinem Argwohn leben.‹ Er strich sich mit der Hand über den Kopf. ›Nur zehn, und auch diese ohne Waffen und nur in einfacher Mönchskleidung.‹
Aufbrausend widersprach Mao Lu Peng und ich machte mich unauffällig aus dem Staub. Um ihn nicht noch mehr gegen mich aufzubringen, wollte ich nicht bei einem Streitgespräch mit dem Abt dabei sein. Wie ich am nächsten Morgen von Wang Lee erfuhr, hatte ich recht daran getan, denn Mao Lu Peng hatte seinen Ärger und Frust die halbe Nacht lang an einem jungen, unerfahrenen Kampfmönch, der ihm anschließend über den Weg gelaufen war, ausgelassen.
Han Liang Tian hatte am Morgen mit Mao Lu Peng und zehn weiteren Mönchen das Kloster verlassen. Während meiner Laufrunde hatte ich sie auf dem Weg gesehen, der über den Bergrücken ins Flusstal führte. Der alte Mönch, den ich bei Hu Kangs Heilung kennengelernt hatte, leitete bei Abwesenheit des Abtes das Kloster und ein sympathischer Kampfmönch, der eine Art Hauptmann der Truppe war, hatte das Kampftraining übernommen. Dieser war mir sehr gewogen, und gleich am ersten Tag zeigte er allen, dass man das Training genauso hart, aber ohne Schikanen durchführen kann. Als mir wieder einmal eine Übung nicht so recht gelingen wollte, sah ich ihn nach einer Weile auf mich zukommen. Er blieb vor mir stehen, lächelte und sagte: ›Ich denke ich weiß, wo dein Problem liegt.‹ Bei diesen Worten nahm er mein rechtes Bein und führte es mit einer schnellen Bewegung in die Kampfposition, die mir nicht gelingen wollte. Es knackte leicht und ich verlor das Gleichgewicht. Mit einem dumpfen Krachen fiel ich auf den Rücken und schämte mich wegen des Gelächters ringsum. Eine energische Armbewegung von Chen Shi Mal sorgte sofort wieder für Ruhe. Er half mir auf und sagte: ›Ich wollte dich nicht lächerlich machen, ich wollte nur sehen, ob meine Vermutung richtig ist.‹ Er klopfte mir den Staub von der Schulter und fuhr fort: ›Dir fehlt immer noch der Gleichgewichtssinn und die Beweglichkeit. Es wäre wichtig, dass du erst einmal diese Grundlagen beherrschst. Leider kann ich das mit dir nicht gesondert üben, doch vielleicht ist Wang Lee bereit, mit dir einige Übungen zu machen, die ich euch zeige.‹
Wang Lee, der neben mir stand, nickte zustimmend. Chen Shi Mal gab den anderen noch einige Anweisungen, damit sie in der Zwischenzeit weiterüben konnten und ging dann mit uns zu einem abseits gelegenen Platz. Dort waren auf einer Fläche von vielleicht zehn mal fünfzehn Metern in unregelmäßigen Abständen Pfähle in den Boden gerammt. Diese hatten einen unterschiedlichen Durchmesser. Manche boten gerade der Fußspitze Platz, andere dem ganzen Fuß und wieder andere beiden Füßen. Auch hatten sie nicht alle die gleiche Oberfläche. Einige waren glatt und man konnte gut auf ihnen stehen. Andere waren nach oben oder unten gewölbt. Und einige fielen auch schräg nach einer Seite ab.
Chen Shi Mal zeigte auf diesen Platz und sagte zu mir: ›Du wirst von einer Seite zur anderen auf den Pfählen laufen. Wählt die längere Strecke. Erst wirst du diese ohne etwas zu transportieren zurücklegen, dann mit einem randvollen Wassereimer und wenn du das geschafft hast, mit zweien. Und um das Ganze noch ein wenig zu würzen, wird dich Wang Lee mit dieser Stange behindern.‹ Er zeigte auf eine lange Bambusstange, die neben den Pfählen lag, dann schaute er Wang Lee an und schärfte diesem ein: ›Du wirst ihn nach Kräften stören, ihm den Weg verbauen, ihn schubsen, mit einem Wort, alles tun, um ihn zu behindern.‹ Er schaute wieder zu mir und lächelte mich an.
›Das ist keine Schikane! Ich möchte damit deinen Gleichgewichtssinn schärfen. Du musst lernen, deinem Chi zu vertrauen. Es wird dich trotz aller Behinderungen ohne Fehlschritt von einer zur anderen Seite geleiten. Wenn du das hier geschafft hast, wirst du auch in jeder anderen Situation dein Gleichgewicht halten können.‹
Er bedeutete uns, ihm weiter zu folgen, und wir gingen einige Schritte bis zu einer Stelle, wo wieder andere Hilfsmittel aufgebaut waren. Eine Konstruktion sah aus wie ein zu groß geratener Barren, eine wie ein Schwebebalken und dann waren da noch in verschiedenen Anordnungen Seile und Ringe angebracht.
›Hier wirst du deine Beweglichkeit verbessern.‹ Chen Shi Mal deutete auf die verschiedenen Gegenstände. ›Wang Lee wird dir zeigen wie das hier geht.‹ Chen Shi Mal drehte sich um und begab sich auf den Rückweg zu den anderen. Nach einigen Schritten blieb er noch einmal stehen, drehte sich um und sagte:
›Konzentriert euch nicht nur auf die eine oder andere Aufgabe. Übt immer beides, und auch nur die halbe Trainingszeit. Den Rest der Zeit trainiert ihr mit uns zusammen weiter.‹ Ein leichtes Grinsen erschien auf seinem Gesicht als er zum Abschluss sagte:
›Ich hoffe doch, dass ihr das hinbekommt bevor Mao Lu Peng wieder da ist!‹
Mit diesen Worten verschwand er hinter der Baumgruppe, die uns vom großen Übungsplatz trennte.
›Er mag dich‹, sagte Wang Lee und drehte sich zu mir hin.
›Bist du dir da ganz sicher?‹, fragte ich mit einem Blick auf die Pfähle.
›Na klar, sonst würde er dich nicht unterstützen.‹ Nach einer kleinen Pause fügte er dann noch hinzu: ›Ich denke auch, dass es Mao Lu Peng gar nicht gefallen wird, wenn er davon erfährt. Ich hoffe es wird ihm keiner stecken.‹
Mit wenigen Schritten ging er zu der Bambusstange und nahm sie auf.
›Also los, rauf mit dir! Lauf erst mal rüber und zurück, ohne dass ich dich störe, damit du ein Gefühl für die Pfähle bekommst.‹
Nachdem ich schwankend und haltsuchend die andere Seite erreicht hatte stöhnte Wang Lee.
›Puuh, das wird ein hartes Stück Arbeit!‹
Und das wurde es auch. Am Abend tat mir jeder Knochen weh und ich hatte unzählige blaue Flecken sowie Schürfwunden am ganzen Körper. Glücklicherweise waren die Pfähle nur kniehoch, sonst hätte ich mir bei den vielen Abstürzen sicherlich noch schwerere Verletzungen zugezogen.
Auch jeder Muskel und jede Sehne schmerzte, denn die Dehnungsübungen waren auch nicht ohne. Meine Schmerzgrenze wurde voll ausgereizt, doch mein Ehrgeiz war geweckt. Ich wollte es auf jeden Fall schaffen bevor Mao Lu Peng wieder da sein würde.

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