Dao

Kapitel 4 – Eine neue Freundschaft

Abschnitt 1

»Die Tage, die nun folgten, vergingen wie im Fluge. Ich hatte wieder ein Ziel und ich fühlte mich von Tag zu Tag wohler. Selbst die morgendlichen Tai Chi-Übungen waren nach diesen Erfahrungen ein völlig anderes Erlebnis für mich. Nun fand ich langsam den richtigen Weg, um das Optimum aus den langsamen, ruhigen Bewegungen herauszuholen. Erst jetzt war es mir möglich, Atmung und Bewegung richtig zu koordinieren, sodass ich mich vollkommen dabei entspannen konnte. Es war faszinierend zu erkennen und zu spüren, wie man durch solch einfache, langsame Übungen den Körper entspannen und Energie aufbauen konnte.
Solange die große Hitze anhielt, traf ich mich regelmäßig mit dem Abt in dem kleinen Tempel und das, was er mich da lehrte, verhalf mir endlich zur Ruhe. Die Momente, in denen ich grübelte, wurden immer seltener und das Verständnis für meinen Körper immer besser. Beim Kampftraining machte sich das besonders deutlich bemerkbar. Es gelang mir immer besser, meinem Chi die Führung zu überlassen und so kam es, dass Mao Lu Peng, als der nächste Sommer kam, immer seltener einen Grund fand, an mir herumzunörgeln. Ich gehörte zwar noch lange nicht zu den Besten, doch Wang Lee sagte:
›Wenn man berücksichtigt in welchem Alter du angefangen hast, sind deine Fortschritte schon erstaunlich.‹
Und damit ich nicht übermütig wurde setzte er noch hinzu:
›Solltest du so weitermachen, kann in zehn oder zwölf Jahren noch ein ganz passabler Kämpfer aus dir werden.‹
Solche Zeitangaben holten mich dann immer wieder auf den Boden und waren auch oft der Anlass für erneute Grübeleien. Doch durch das, was mich der Abt lehrte fand ich meistens recht schnell meine innere Ruhe wieder.
So begann der dritte Sommer im Kloster und mit Beginn der großen Hitze wurden meine Treffen mit dem Abt wieder häufiger. In dem vergangenen Jahr hatte ich gelernt, mit meinem Körper zu sprechen und ihn zu verstehen. Ich wurde ausgeglichener und der Gedankenaustausch mit Han Liang Tian machte mir sehr viel Freude. Nach meiner ersten Sitzung im kleinen Tempel hatte es noch mehr als zwei Monate gedauert, bis ich in der Lage war, ohne Hilfe des Abtes die Reise durch meinen Körper anzutreten. Auch die lautlose Unterhaltung mit dem Abt ging am Anfang immer wieder von ihm aus. Erst im Winter war ich so weit, dass ich – aber auch nur, wenn ich Blickkontakt hatte – den Gedankenaustausch beginnen konnte. Dennoch war er sehr zufrieden mit mir, denn er betonte immer wieder, dass es Zeit brauche, um so etwas zu lernen. Ich hatte nun schon zwei Arten der Meditation kennengelernt, das Gespräch mit Gott und das Sprechen mit meinem Körper. Han Liang Tian hatte mir viel von der Mentalität der Mönche, ihrem Glauben und ihrer Geschichte erzählt. Fast alle kamen schon mit weniger als zehn Jahren ins Kloster. Für die Familien war es zum einen eine Ehre, wenn die Kinder im Kloster aufgenommen wurden und zum anderen war es oftmals die einzige Chance für das Kind zu überleben. Viele kamen aus sehr ärmlichen Verhältnissen oder waren Waisenkinder.
Ich hatte die Kinder am Anfang gar nicht richtig wahrgenommen, da sie in einem gesonderten Bereich untergebracht und noch nicht mit in den Klosteralltag eingebunden waren. Doch nachdem der Abt mir von ihnen erzählt hatte schaute ich öfter mal dort vorbei und stellte fest, dass der Alltag der Kinder ebenfalls von früh bis spät mit Training und Andachten ausgefüllt war. Es gab eigentlich keine Zeit für diese Kinder, um zu spielen oder andere Dinge zu tun, und dennoch wirkten sie gelöst, fröhlich und zufrieden. Als ich Han Liang Tian danach fragte erklärte er mir, dass es den meisten hier viel besser ginge, als in ihren Familien, und dass das Training bei ihnen zwar auch hart und anstrengend sei, aber sehr spielerisch abgehalten werde. Das Wichtigste war aber, dass sie immer genug zu essen hatten und sauber gekleidet und gut untergebracht waren.
Es machte mir sehr viel Freude, diese Kinder zu beobachten. Dabei fiel mir ein kleiner, sehr stiller und immer ein wenig abseits stehender Junge auf. Er war etwa neun bis zehn Jahre alt und schien es besonders schwer zu haben, denn er wurde von fast allen gemieden und ausgelacht. Durch seine geringe Größe und den schmächtigen Körperbau war er den anderen einfach unterlegen und ihm fehlte das Selbstbewusstsein, um sich durchzusetzen. Er erinnerte mich sehr an meinen Sohn und vielleicht war das auch der Grund, warum mich sein Schicksal so sehr beschäftigte.
Es war wieder einmal ein sehr heißer Tag und das Training wurde über die Mittagszeit ausgesetzt. Wie immer an solchen Tagen, hielten sich dann die meisten Mönche im Tempel auf, um zu beten oder zu meditieren und ich ging in den kleinen Tempel, um mich mit Han Liang Tian zu treffen. Nachdem ich schon eine ganze Weile gewartet hatte, trat Wang Lee ein und brachte mir vom Abt die Nachricht, dass eine dringende Angelegenheit dazwischen gekommen sei und er an diesem Tag keine Zeit für mich hätte. Wang Lee war nur gekommen, um das auszurichten und verließ mich gleich wieder. Unschlüssig, was ich nun mit der freien Zeit anfangen sollte, folgte ich ihm ins Freie. Als ich aus dem Tempel trat, drückte mich die große Hitze beinahe wieder hinein, doch ich hatte keine Lust, mich allein im Tempel aufzuhalten und so beschloss ich, erst ein Bad zu nehmen und dann im Schatten einer Pagode des Begräbnisplatzes zu meditieren. Ich hatte diesen Ort schon mehrfach dazu genutzt und mich, angeregt durch die Umgebung, immer besonders gut konzentrieren können.
In Gedanken versunken, wählte ich nicht den direkten Weg, sondern den an der Klostermauer entlang über den Bereich der Kinder. Dort sah ich, wie sechs wesentlich größere und stärkere Kinder den kleinen schmächtigen Jungen traktierten und erniedrigten. Mit wenigen Schritten stand ich zwischen ihnen und dem Kleinen und sah sie aus zornfunkelnden Augen an. Erschrocken wichen diese zurück und verschwanden in verschiedenen Gebäuden.
Da stand ich nun allein mit dem Kleinen auf dem Platz und wusste nicht was ich tun sollte. Fieberhaft überlegte ich, ob ich zu einem der Mönche gehen sollte, die die Kinder unterrichteten, oder gleich zum Abt. Doch was sollte das bringen, bei nächster Gelegenheit würde es dem Kleinen wieder so ergehen wie eben und vielleicht noch schlimmer, da sich die anderen wegen der zu erwartenden Zurechtweisung rächen würden. Einfach so stehen und sich selbst überlassen konnte ich ihn aber auch nicht. Unschlüssig schaute ich zu ihm herunter. Seine traurigen, den Tränen nahen Augen erschreckten mich zutiefst. Ich ging in die Hocke, griff ihn bei den Schultern und fragte:
›Wie heißt du?‹
Zögernd antwortete er:
›Lei Cheng.‹
›Lei Cheng, wann geht dein Unterricht weiter? Oder hast du jetzt noch eine andere Aufgabe?‹
›Nein, unser Training geht erst weiter, wenn es kühler geworden ist und in den Tempel zu den anderen möchte ich jetzt nicht.‹
›Du kannst nicht immer davonlaufen, Lei Cheng. Aber ich kann sehr gut verstehen, warum du jetzt nicht bei den anderen sein möchtest. Ich wollte den Klosterbereich verlassen und zu dem kleinen Wasserbecken gehen. Wenn du willst, kannst du erst mal mit mir kommen.‹
Fragend sah ich ihn an und folgte aus den Augenwinkeln seinem Blick. Er sah zu den Gebäuden, in denen die anderen verschwunden waren. Dort bemerkte ich einige, die um die Ecken spähten und uns beobachteten. Sich abwendend sah er mir in die Augen und nickte. Ich stand auf, legte meine Hand auf seine Schulter, und uns möglichst im Schatten der Mauer und Bäume haltend, gingen wir zu meiner Badestelle. Dort entledigte ich mich meiner Kleidung und sprang ins Wasser. Tauchend und kraulend durchschwamm ich das Becken. Als ich zurückschwamm, sah ich Lei Cheng ratlos am Rand stehen. Ich winkte ihm und sagte er solle mit hereinkommen, doch traurig schüttelte er nur den Kopf.
Ich schwamm bis zu ihm heran, stellte mich an der Stelle, wo ich mich immer wusch aufrecht hin und sagte zu ihm:
›Komm, es ist wunderbar erfrischend und wird dir guttun!‹
Er schüttelte wieder mit dem Kopf und sagte:
›Ich … ich kann nicht schwimmen.‹
Niedergeschlagen senkte er den Kopf, und ich sah schon wieder einen feuchten Schimmer in seinen Augen. Ohne lange darüber nachzudenken, fragte ich ihn:
›Möchtest du schwimmen lernen? Ich könnte es dir beibringen.‹
Sein Blick hellte sich auf.
›Wirklich?‹
›Komm rein, hier kannst du noch stehen. Ich werde dir zeigen, was ich weiß.‹
Zögernd streifte er seine Kleidung ab und kam ins Wasser. Fragend sah er mir in die Augen und ich versuchte mich zu erinnern, wie mir das Schwimmen beigebracht worden war.
›Zuerst musst du wissen, dass es verschiedene Arten des Schwimmens gibt. Du kannst so schwimmen, wie ich vorhin und kommst damit sehr schnell vorwärts, doch es ist recht anstrengend und für weniger Geübte auf langen Strecken nicht zu empfehlen. Auf die gleiche Art kann man auch auf dem Rücken liegend schwimmen, das ist für viele weniger anstrengend. Es gibt dann noch verschiedene andere Möglichkeiten, doch ich würde sagen wir fangen mit der einfachsten Art an.‹ Ich überlegte kurz und fuhr dann fort:
›Zuerst einmal musst du darauf vertrauen, dass du nicht untergehst, sondern dass dich das Wasser tragen kann. Du hast eigentlich durch dein Training schon gute Voraussetzungen, denn die Atmung spielt eine große Rolle und auch die ruhigen und gleichmäßigen Bewegungen.‹
Ich drehte ihn seitlich zu mir und breitete meine Arme hinter seinem Rücken aus, sodass ich ihn abfangen konnte.
›Lass dich jetzt fallen. Ich werde dich halten, sodass du nicht untergehen kannst.‹
Er zögerte, da ihm das Wasser schon bis zur Brust ging.
›Warte, ich helfe dir. Hab keine Angst, es wird dir nichts passieren!‹
Ich beugte mich herab und, mit einem Arm unter seinem Rücken und dem anderen in seinen Kniegelenken, hob ihn hoch und hielt ihn lang ausgestreckt an der Wasseroberfläche. Mit schreckensstarrem Blick und völlig verkrampft lag er auf meinen Armen. Ich sah ihm in die Augen, lächelte und sagte:
›Du brauchst keine Angst zu haben. Ich werde auf dich aufpassen und dir wird nichts geschehen.‹
Ein klein wenig lockerte sich seine Haltung, aber sein Vertrauen war immer noch nicht groß.
›Solange du Angst hast zu ertrinken und kein Vertrauen zu dir und mir, kann ich es dir nicht beibringen. Du musst mir schon vertrauen, dass ich dich nicht ertrinken lasse!‹
Er sah mir immer noch in die Augen und konnte sich doch nicht entschließen, mir völlig zu vertrauen.
›Ich weiß ja nicht, ob ich richtig vermute, doch ich denke, dass nicht viele der anderen Jungs schwimmen können. Du würdest dann etwas beherrschen, das die nicht können. Und … und ich bin mir sicher, dass du es gut können wirst, nur Vertrauen zu dir und mir musst du haben!‹
Den letzten Satz hatte ich besonders betont und ihm dabei tief in die Augen gesehen.
Die Aussicht darauf etwas zu können, das die anderen nicht beherrschten, wirkte Wunder. Er wurde lockerer und sah mich erwartungsvoll an.
›Gut, sehr gut! Du wirst sehen, dass das Wasser viel von deinem Gewicht tragen wird und du nur ein wenig nachhelfen musst, um über Wasser zu bleiben.‹
Ich hielt ständig Blickkontakt, um ihm Sicherheit zu geben, und fuhr fort:
›Breite deine Arme aus und drehe die Handflächen nach unten. Mach die Hände so, als würdest du Sand glattstreichen.‹
Ich blickte kurz zu seinen Armen und sagte:
›Ja, genau so! Nun bewege die Arme hin und her und drücke dabei mit den Handflächen das Wasser nach unten.‹
Er fing an, wild mit den Armen zu rudern und verkrampfte sich dabei wieder.
›Nein, nicht so! Langsam, ruhig und gleichmäßig.‹
Sich angestrengt darauf konzentrierend, folgte er meinen Anweisungen. Als ich mit dem Ergebnis zufrieden war, senkte ich vorsichtig meinen Arm unter seinem Oberkörper. Aber sofort fing er wieder an, wild mit seinen Armen zu rudern. Ich hob ihn hoch und schüttelte den Kopf.
›Nein nicht so! Ruhig und gleichmäßig müssen deine Bewegungen sein. Du gehst nicht unter! Zum einen halte ich dich und zum anderen tragen dich das Wasser und deine Bewegungen. Also, noch einmal und keine Angst jetzt! Lass dein Chi deine Arme führen. Dein Chi weiß genau was und wie es nötig ist, um oben zu bleiben. Vertraue einfach deinem Chi, es wird dich führen!‹
Ich senkte langsam meinen Arm und schaute in seine starren Augen.
›Schließ die Augen und vertraue! Vertraue auf dein Chi!‹
Er schloss die Augen und wurde langsam lockerer. Ich senkte den Arm weiter und er passte automatisch seine Bewegungen an. Schließlich hatte ich den Arm so weit gesenkt, dass er seinen Oberkörper selbst mit den Bewegungen seiner Arme über Wasser hielt.
›Ja, gut! Genauso sollst du es machen.‹
Er öffnete die Augen und ich sah das erste Mal ein Lächeln in seinem Gesicht.
›So, und nun die Beine. Überlass am besten auch hier deinem Chi die Führung.‹
Es dauerte nicht lange und ich konnte meine Arme unter ihm wegnehmen. Um ihn sicher zu machen, blieb ich aber ständig dicht bei ihm stehen. Wir versuchten es dann noch mit Hundepaddeln und er lachte und quiekte vor Freude. Diese Übungsstunde beendeten wir mit den ersten Bewegungen im Brustschwimmen. Dabei hielt ich ihn aber noch mit meinen Armen, da es noch eine Weile brauchen würde, bis er sich auf diese Art über Wasser würde halten können.
Nach einem Blick zum Himmel, sagte ich zu ihm:
›Ich denke, wir müssen nun langsam wieder zurück, denn es ist kühler geworden und das Training wird bald wieder beginnen.‹
Sofort verschwand das Lachen aus seinem Gesicht und er stieg aus dem Wasser. Sein trauriges Gesicht beschäftigte mich sehr und ich überlegte, wie ich ihm nur helfen könnte. Doch nach kurzem Überlegen verwarf ich jeden Gedanken wieder. Hilfe von außen würde ihm nicht wirklich helfen. Seine Probleme würden sich dadurch nicht lösen, sie würden vielleicht sogar größer werden, da die anderen denken könnten, dass er sie verpetzt hätte. Ständig eine schützende Hand über ihn zu halten, würde sein Selbstbewusstsein auch nicht stärken. Also beschloss ich, es erst einmal bei den Schwimmübungen zu belassen und zu beobachten, was sich daraus entwickeln würde.
›Ich kann dir nicht versprechen, dass es morgen wieder so klappt. Wenn ja, dann komme ich ungefähr zur gleichen Zeit wie heute dorthin, wo wir uns getroffen haben.‹
Er machte ein sehr enttäuschtes Gesicht und deshalb fügte ich schnell hinzu:
›Auf jeden Fall könnten wir uns abends hier treffen, wenn du da Zeit hast.‹
›Ja, ja!‹, rief er freudig. ›Nach der Abendandacht bin ich fast immer allein irgendwo in einer stillen Ecke, da könnte ich kommen.‹
›Gut, also dann bis morgen!‹
Zügig gingen wir zurück zum Kloster, doch wir waren noch nicht zu spät, denn es waren nur vereinzelte Mönche zu sehen. Die meisten waren noch in den Tempeln und bei den Kindern war noch gar keiner zu sehen. Ich verabschiedete mich von Lei Cheng und ging zurück in Richtung Haupttempel.
Das Zusammensein mit Lei Cheng war, da ich wieder eine Aufgabe und ein Ziel hatte, ein Motivationsschub für mich. So oft es möglich war, traf ich mich mit dem Jungen und er machte gute Fortschritte. Bald traute er sich, mit mir das Becken zu durchschwimmen. Er lernte sehr schnell. Als ich ihm auch noch das Kraulen beigebracht hatte, wurde er immer mutiger und schneller. Auf der kurzen Distanz war ich bald nicht mehr in der Lage ihm davon zu schwimmen. Lei Cheng ging nun auch des Öfteren allein schwimmen wenn ich keine Zeit hatte. Deshalb war es auch nicht mehr so schlimm, als ich ihm nach einiger Zeit mitteilte, dass ich nun nicht mehr so oft mit ihm gehen könne, weil der Abt sich jetzt mehr Zeit für mich nehmen wollte.
Da es mittlerweile nicht mehr so warm war, dass das Training über die Mittagszeit unterbrochen wurde und der Abt nicht wollte, dass ich das Kampftraining vernachlässigte, trafen wir uns meistens nach der Abendandacht für ein, zwei Stunden im kleinen Tempel oder im Pagodenwald.
Gleich beim ersten Treffen wurde mir klar, dass dem Abt nichts entging, was im und um das Kloster vorging. Wie immer seit unserem ersten Treffen fand unser Gedankenaustausch ohne ein gesprochenes Wort statt.
›Ich finde es sehr gut, dass du Lei Cheng hilfst und ich habe bemerkt, dass es euch beiden gutgetan hat und auch hilft, euren Weg zu finden. Du hast dich auch richtig entschieden, als du Lei Cheng auf diese Art geholfen hast. Er hat dadurch sehr viel Selbstbewusstsein bekommen und wird es nun viel leichter haben sich einzugliedern.‹
›Entgeht dir überhaupt etwas, das im Kloster vorgeht?‹, fragte ich ihn lächelnd.
›Wenig! Doch in diesem Fall war es einfach, denn du hast dich so intensiv gefragt, ob ich mit dieser Entscheidung einverstanden wäre, dass ich die Frage deutlich spüren konnte.‹
Er sah mir in die Augen und setzte hinzu:
›Hast du meine Antwort nicht gespürt?‹
›Eigentlich nicht. Jedenfalls nicht als Antwort. Ich hatte zwar das Gefühl, dass du damit einverstanden bist und es gutheißt, doch mir war nicht bewusst, dass es eine Antwort von dir war.‹
›Daran müssen wir noch arbeiten. Du musst lernen zu unterscheiden, was bloß ein Gefühl ist und was eine an dich gerichtete Frage oder Antwort ist. Wenn du das nächste Mal das Gefühl hast, dass ich oder ein anderer dich anspricht, dann konzentriere dich und stelle eine Rückfrage, wenn du dir nicht sicher bist.‹
›Aber, wie soll ich das machen? Ich schaffe es doch gerade mal hier, wenn wir uns gegenüber sitzen, mit dir in Gedanken zu kommunizieren. Geht das denn überhaupt auf größere Entfernungen?‹
›Natürlich, ich dachte, das hättest du schon längst verstanden! Dem Geist, deinem Chi sind keine Grenzen gesetzt. Ich habe dir doch gerade mitgeteilt, dass ich deine Frage deutlich spüren konnte und meine Antwort hast du, wenn auch unbewusst, auch erhalten. Ein starkes Chi ist zu fast allem fähig. Es ist nur eine Frage des Glaubens, der Konzentration und des Wissens über die Macht, die dir innewohnt.‹
Nach einem kurzen Augenblick der Sammlung deutete er zu einer Opferschale vor der Buddhastatue. Die Schale mit den Früchten löste sich vom Boden und schwebte langsam zu uns herüber.
Erstaunt sah ich von der Schale zum Abt.
›Warst du das? Wie hast du das gemacht? Wo nimmst du die Kraft her?‹
›Was hast du denn soeben erfahren? Oder hast du mir nicht zugehört?‹
Ich schaute ihm in die Augen und schämte mich.
›Entschuldige, ich war nur sehr überrascht und habe bisher immer gedacht, dass es nur Wunschdenken der Menschen ist, wenn sie glauben, dass man so etwas machen kann.‹
Nach einer kurzen Pause fügte ich noch hinzu:
›Doch wo nimmst du die Kraft, die Energie dazu her? Es ist doch sicherlich wahnsinnig anstrengend.‹
›Nicht so anstrengend wie du glaubst. Jedenfalls das hier nicht. Es war nicht viel anstrengender, als unsere gedankliche Unterhaltung, und mit etwas Konzentration und Übung kannst du das auch bald.‹
Er sah mir wieder tief in die Augen und setzte hinzu:
›Wo ich die Kraft hernehme, müsstest du eigentlich wissen! Das Chi ist diese Kraft und wenn diese Kraft nicht ausreicht, steht dir fast immer Energie im Überfluss zur Verfügung. Erinnere dich an den Abend, als wir Hu Kang die Kraft zur Genesung gegeben haben. Was hast du wahrgenommen? Schildere mir bitte, was du gesehen und gespürt hast.‹
Ich rief mir jenen Abend ins Gedächtnis. Vor meinem geistigen Auge sah ich die Ereignisse am Krankenlager von Hu Kang.
›Ihr habt eure Hände auf die Stirn und Brust von Hu Kang gelegt, habt die Augen geschlossen und euch auf seine Heilung konzentriert.‹
›Weiter, was ist dir noch aufgefallen?‹
›Die Luft schien zu flimmern. Der ganze Raum war voller Energie, voller Kraft. Ich konnte eure Gedanken hören und die Energie im Raum spüren.‹
Ich sah ihm in die Augen und wusste sogleich, dass es nicht das war, was er hören wollte. Dass da noch mehr gewesen war, was ich hätte sehen müssen. Ich überlegte fieberhaft und sah wieder Han Liang Tians von der Sonne beschienenes, von der Anstrengung gezeichnetes Gesicht, vor mir. Wie sich sein ganzer Körper streckte, damit auch die letzten Strahlen sein Gesicht erreichten. Plötzlich durchzuckte mich ein Gedanke. Sollte es das sein? Hatte er sich gestreckt, um die Sonnenstrahlen aufzufangen und diese Energie zu nutzen? Fragend sah ich ihn an und wusste im gleichen Augenblick, noch bevor er es mir erklärte, dass es so gewesen war.
›Ja, du hast es bemerkt und richtig gedeutet. Ich habe damals die Wärme der Sonne in mich aufgenommen und an Hu Kang weitergegeben. Ich kann es leider auch nur unvollkommen. Der Meister, bei dem ich gelernt habe, war viel besser in der Lage, diese Kraft zu nutzen. Er konnte so viel Energie in sich aufnehmen, dass ihm fast alles möglich war.‹
Er machte eine kurze Pause, um sich zu sammeln.
›Alles um uns herum ist voller Kraft und Energie. Manchmal kannst du sie, auch als Ungeübter, spüren und erkennen. Genauso wie du die Kraft von einem anderen empfangen oder an ihn weitergeben kannst, kannst du auch Kraft von deiner Umwelt bekommen oder an sie weitergeben. Die Sonne, der Wind, die Erde, jedes Lebewesen, jede Pflanze ist voller Energie und kann von uns genutzt werden.‹
Er stand auf und bat mich, ihm zu folgen. Gemeinsam verließen wir das Kloster und gingen hinter dem Pagodenwald den Hang hinauf. Nach einer kurzen Strecke blieb er stehen und deutete auf eine kleine Eidechse.
›Der Tag geht zur Neige und die Hitze lässt nach. Schau dir diese Eidechse an. Früh hat sie sich in der Sonne aufgewärmt und deren Kraft in sich aufgenommen. Dann war sie auf Nahrungssuche und die Wärme hat sie schnell und geschmeidig gemacht. Ihre Beute konnte ihr nicht entwischen. Doch jetzt wird es kühler und sie kann die wärmende Kraft der Sonne nicht mehr in sich aufnehmen. Sie wird langsamer und träger. Deshalb muss sie sich, um nicht selbst zur Beute zu werden, in ein Versteck zurückziehen.‹
Während dieser Worte verschwand die Eidechse in einer Felsspalte und wir gingen weiter zu einem großen Stein. Er legte seine Hand auf diesen und forderte mich auf, es ihm gleichzutun.
›Das ist nach unserem Ermessen eigentlich ein toter Gegenstand. Doch alles um uns herum lebt auf die eine oder andere Art und Weise. Dieser Brocken hat den ganzen Tag die Wärme der Sonne in sich aufgenommen und gibt sie nun wieder ab. Die Blume hier an seinem Fuß lebt davon. Sie ist zur größten Hitze, durch seinen Schatten vor den austrocknenden Strahlen der Sonne geschützt. Die Erde am Fuß und unter dem Stein trocknet nicht so stark aus und gibt ihr die nötige Feuchtigkeit und nachts nimmt diese Pflanze die Wärme des Steines in sich auf. So ist in der Natur ein unbewusstes Geben und Nehmen. Doch wir mit unserem Chi sind in der Lage, das auch bewusst zu nutzen.‹
Wieder einige Schritte weiter stand ein alter Baum, der sich an dem kargen Hang erstaunlich lange gehalten hatte.
›Lege deine Hände an den Stamm und fühle dich in den Baum hinein. Fühle die Kraft in ihm. Fühle wie der Saft unter der Rinde nach oben in die Äste und Blätter steigt. Auch diese Kraft kannst du nutzen und durch dein Chi verstärken. Genauso, wie du diesem kleinen Bäumchen Kraft zum Leben geben kannst.‹
Er zeigte auf einen kleinen Sprössling neben dem alten Baum. Dieser sah kümmerlich aus und hatte sicherlich keine Chance zu überleben, wenn ihm nicht geholfen wurde. Er musste im Winter durch einen herabrollenden Stein geknickt und verletzt worden sein und das hatte an diesem kargen Ort fatale Folgen. Er war nicht in der Lage genug Energie aufzubringen, um sich zu heilen und zu wachsen.
Der Abt deutete auf ihn und sagte:
›Du sollst ihm helfen, wie ich diesem Baum geholfen habe als er verletzt war.‹
Er wendete sich dem großen zu und fuhr fort:
›Er war schon größer, als sein Sprössling hier und bei einem Gewitter hat der Blitz bei ihm eingeschlagen und es war nur noch ein kleiner Ast mit Blättern übrig. Ich habe seine Wunden versorgt, mit ihm geredet und ihm Kraft von mir gegeben. Nun komme ich manchmal hierher und hole mir wieder ein wenig Kraft von ihm. Und er gibt sie mir gerne, das kann ich spüren.‹
Han Liang Tian wandte sich wieder dem kleinen Bäumchen zu und sagte:
›Übernimm du es nun, diesen Kleinen zu retten. Er wird sein Nachfolger werden und du wirst spüren, wie gut es dir und dem Bäumchen tut.‹
›Aber wie, wie soll ich das denn machen?‹
Nach einem Blick in Han Liang Tians Augen, fügte ich schnell hinzu:
›Ich meine nicht, wie ich seine Verletzung behandeln soll, sondern wie ich ihm Kraft geben soll? Ich hab …‹
Mit einer Handbewegung unterbrach mich der Abt.
›Du wirst einen Weg finden. Denk nach, fühle ihn und lass dich von ihm führen. Er wird es dir danken, glaube mir.‹

Es gibt noch keine Bewertungen. Schreibe selbst die erste Bewertung!



zurück zur Kapitelauswahl