Dao

Kapitel 3 – Die Kraft des Geistes

Abschnitt 2

Als ich sah, dass das Tor von zwei Mönchen geöffnet wurde, erhob ich mich und machte mich auf den Weg, um meine morgendlichen Tai Chi-Übungen mit dem Abt durchzuführen. Als ich das Kloster betrat und den Platz vor dem Tempel einsehen konnte, sah ich, dass Wang Lee ganz aufgeregt mit dem Abt sprach. Han Liang Tian machte eine beruhigende Geste. Dabei fiel sein Blick auf mich, ein Lächeln huschte über sein Gesicht und mit einem Wink seiner Augen bedeutete er Wang Lee sich umzudrehen. Als dieser meiner gewahr wurde, hellte sich sein Gesicht auf und er kam mit schnellen Schritten auf mich zu. Noch bevor er mich erreichte, sprudelte er los:
›Wo warst du? Was hast du draußen gemacht? Ich hab dich schon gesucht und keiner konnte mir sagen, wo du steckst!‹
Ich lächelte ihn an und antwortete:
›Es ist nichts, ich konnte nur nicht mehr schlafen und habe eben den Sonnenaufgang beobachtet und mich gefreut, wie schön doch alles von der Natur eingerichtet ist.‹
Während dieser wenigen Worte hatten wir den Abt erreicht. Mit einem kurzen Kopfnicken begrüßte er mich. Ich sah fragend in seine klugen Augen und dachte dabei: Geht es Hu Kang gut?
Als ob ich diese Frage laut ausgesprochen hätte, sagte er:
›Es geht ihm nicht besser, aber auch nicht schlechter, seitdem du ihn zuletzt gesehen hast.‹
›Aber, ehrwürdiger Abt, ich war, bevor ich hierher, kam bei ihm und hatte den Eindruck, dass es ihm viel besser geht als gestern Abend‹, beeilte sich Wang Lee einzuwerfen. Und wieder erschien dieses hintergründige Lächeln auf dem Gesicht des Abtes.
›Natürlich geht es ihm besser als gestern Abend! Er hat ja auch sehr viel Kraft zur Heilung bekommen und durch die Liebe und Kraft, die ihm entgegengebracht wird, wird er wieder ganz gesund werden.‹
Verständnislos sah ihn Wang Lee an. Seine Worte widersprachen sich, aber er fand keine Gelegenheit, weiter mit ihm darüber zu sprechen. Der Abt begann mit dem morgendlichen Tai Chi und zeigte damit an, dass für ihn das Thema abgeschlossen war. Wir fielen in diese Übungen ein, doch ich kam nicht gleich zur Ruhe und konnte mich nicht richtig konzentrieren.
Was sollten diese Worte bloß bedeuten? Wusste er von meinem nächtlichen Besuch bei Hu Kang? Ich hatte ja irgendwie das Gefühl gehabt, dass mich jemand beobachtete. Doch ich hatte niemanden gesehen. Also, woher sollte er es wissen?
Diese Ungewissheit beschäftigte mich sehr. Wie immer, versuchte ich eine Erklärung zu finden. Denn es musste ja eine geben, alles ließ sich auf irgendeine Art und Weise erklären. Oder doch nicht?
Immer noch versuchte ich, alles rational und wissenschaftlich zu analysieren, doch manchmal, und gerade in dieser Umgebung, gelang mir das nicht. Ich wurde immer unkonzentrierter, meine Bewegungen waren schon ein ganzes Stück nicht mehr gleichmäßig, fließend und synchron mit den anderen, als mein Blick auf das Gesicht des Abtes fiel. Diese Augen, es war als ob sie sprechen könnten, es war als ob sie sagen würden:
›Du musst nicht immer alles gleich verstehen. Die Zeit wird es dich lehren. Wenn der richtige Moment gekommen ist, wirst du auch die Dinge verstehen, die jetzt noch außerhalb deines Verständnisses liegen. Entspanne dich. Lerne Geduld zu haben. Versuche nicht immer in die Zukunft zu blicken. Konzentriere dich auf das Jetzt, auf den Augenblick, in dem du lebst und du wirst Dinge sehen, die du vorher nicht gesehen hast.‹
Diese Worte bildeten sich in meinem Kopf beim Blick in Han Liang Tians Augen. Es war, als ob er sie laut ausgesprochen hätte. Aber anstatt es zu beherzigen, was ich hörte, begann ich sofort über diese Gedanken nachzugrübeln.
›Nicht denken! Entspannen sollst du dich, dann wirst du auch verstehen!‹
Ich erstarrte mitten in der Bewegung. Diese letzten Worte waren so laut, so bestimmend in meinem Kopf gewesen, als ob er sie laut ausgesprochen hätte. Doch seine Lippen hatten sich nicht bewegt und die anderen zeigten auch keinerlei Reaktion, bis auf Wang Lee, der mich wegen meiner Unkonzentriertheit kopfschüttelnd anschaute. Ich nahm die Übungen wieder auf, sah den Abt an und dachte:
Kannst du meine Gedanken lesen? Kannst du auf diese Art und Weise mit mir sprechen?
Ein Lächeln erschien auf seinem Gesicht und ein kaum sichtbares Nicken zeigte mir, dass ich richtig lag mit meiner Vermutung.
›Zum Teil, aber ich wende es höchst selten an. Es gehört mit zu den Dingen, die ich dich lehren möchte, doch das braucht Zeit, Ruhe und Geduld. Du musst erst einmal dein inneres Gleichgewicht finden und lernen dich, deine Gedanken und deinen Körper zu beherrschen. Und nun beginne damit, dich darin zu üben.‹
Er schaute mich nicht mehr an und führte seine Tai Chi-Übungen durch, als wäre nichts geschehen. Ich zwang mich zur Ruhe und versuchte alles zu verdrängen was mich daran hinderte. All mein Denken konzentrierte ich nun auf die Übungen und auf meinen Körper. Dabei begann ich das anzuwenden, was der Abt mir schon mehrfach geraten hatte. Beim Ausführen einer Bewegung versuchte ich zu erfassen, welche Körperteile daran beteiligt waren, was für Wirkung das auf andere Körperpartien hatte und wie viel Kraft dazu nötig war.
In diesem Moment begann etwas, das ich mit der Zeit noch verfeinern und später noch viel intensiver und detailreicher wahrnehmen sollte. Ich begann jeden Muskel, jede Sehne und jede Wirkung, die sie aufeinander hatten, wahrzunehmen. Auf einmal konnte ich spüren, wie ich durch bestimmte Bewegungen Energie aufsaugen und durch andere, negative Energie, also Frust, Stress, Wut, Unruhe und Angst aus mir herauslassen konnte. Dies ermöglichte mir ein neues Verständnis für meinen Körper.
Am Ende diese Trainings nickte mir der Abt anerkennend zu. Doch Wang Lee fragte:
›Wieso warst du am Anfang so unkonzentriert?‹
›Ich kann es dir nicht genau erklären. Vielleicht hängt es mit Hu Kang und unserem gestrigen Erlebnis zusammen.‹
›Ach Gü Man, ich bin der Jüngere von uns beiden, und doch fühle ich mich verantwortlich für dich und dein Schicksal. Du bist mir manchmal so fremd, und doch irgendwie so nahe. Ich habe so viele Fragen, Fragen über deine Vergangenheit und über den Ort, wo du herkommst, doch der Abt hat uns verboten, dich nach dem Gestern zu fragen. Weißt du warum er das getan hat?‹
›Vielleicht ist sein Traum oder die Stimme, die ihm mein Kommen angekündigt hat, der Grund dafür. Oder er weiß mehr über mich und den Ort, wo ich herkomme und möchte nicht, dass ihr verunsichert werdet und zu viel über Dinge nachdenkt, die ihr sowieso nicht beeinflussen könnt. Es spielt auch keine Rolle, das Beste ist, du denkst gar nicht mehr darüber nach! Ich versuche auch vieles zu vergessen, obwohl es Dinge gibt, die ich niemals vergessen kann. Hier bei euch habe ich etwas Neues gefunden. Es verändert meine Denkweise und erst jetzt merke ich, was den Menschen dort, wo ich herkomme, eigentlich fehlt. Sie haben einfach das Gefühl der Harmonie verloren.‹
Ich schaute mich um und setzte hinzu: ›Übrigens, ich glaube du musst dich beeilen, wenn du nicht zu spät zur Morgenandacht kommen willst.‹
Er sah zum Tempeleingang, nickte und ging mit schnellen Schritten hinein. Ich überlegte kurz, ob ich diesmal auch mit hineingehen sollte, entschloss mich dann aber, lieber meinen Morgenlauf zu absolvieren.
An diesem Tag hatte ich ein völlig neues Laufgefühl. Ich konzentrierte mich einfach auf meinen Körper und auf das, was bei jeder Bewegung in ihm vorging. Dadurch wurden Gedanken und Bewegung eins und das Laufen ging wie von selbst. Ich lief die längste und anstrengendste Strecke und doch fühlte ich mich am Ende nicht so erschöpft wie sonst.
Von nun an änderte sich einiges bei mir. Ich nahm alles viel bewusster wahr, das Verständnis für meinen Körper und die Bewegungsabläufe war gewachsen und ich wurde ruhiger. Auch Mao Lu Peng verhielt sich von diesem Tag an nicht mehr ganz so abweisend. Er gab mir zwar immer noch deutlich zu verstehen, dass er es nicht für richtig hielt, dass ich im Kloster war, aber er fand nicht mehr so oft einen Grund, sich über mangelnde Konzentration oder schlecht ausgeführte Übungen zu beklagen.
Hu Kang ging es nun auch von Tag zu Tag besser und nach drei weiteren Sitzungen hatte er vom Abt und dem alten Mönch genug Energie erhalten, um sich selbst zu heilen. Nun hoffte ich jeden Tag darauf, dass der Abt sein Versprechen wahrmachte. Jeden Tag erwartete ich, dass er damit begänne, mich in diesen besonderen Dingen zu unterrichten. Doch ich musste meine Ungeduld noch lange zügeln, bevor Han Liang Tian auf sein Versprechen zurückkam. Vorläufig lief erst einmal alles so weiter, wie in den letzten Tagen.
Der Sommer war fast unmerklich in den Herbst übergegangen und die Tage wurden kürzer und kühler. Nach den ersten Nachtfrösten kostete es mich schon große Überwindung, morgens in dem nun schon empfindlich kalten Wasser zu baden. Doch das Reinigungsbedürfnis war stärker als die Kälte.
Das Training wurde bei Wind und Wetter im Freien durchgeführt. Nur in wenigen Ausnahmen, bei besonders starkem Regen oder im nun folgenden Winter bei besonders starkem Frost, wurde das Training unterbrochen. Einige trainierten dann in einer tempelartigen Halle weiter, in der aber nicht genügend Raum für alle war. Die meisten nutzten jedoch die Zeit zum Meditieren und für andere religiöse Zeremonien. Doch es gab nur wenige Tage, die wirklich trainingsfrei waren. Ich nutzte zum größten Teil die wenige freie Zeit, um mit Wang Lees Hilfe, durch zusätzliche Übungsstunden, mein Chinesisch zu verbessern. Am Ende des Winters konnte ich mich schon recht gut in dem in diesem Gebiet gebräuchlichen Dialekt verständigen. Doch diese Sprache ist so facettenreich und von Wortbetonungen abhängig, dass ich immer wieder für Heiterkeit sorgte, wenn ich bestimmte Worte falsch betonte oder im falschen Zusammenhang benutzte.
Ich hatte nun schon alle vier Jahreszeiten in diesem Land und Kloster erlebt und mit Beginn des Sommers näherte sich der Jahrestag meiner Ankunft. Aus diesem Grund begann ich wieder einmal darüber nachzugrübeln, warum ich an diesen Ort verschlagen wurde. Das Vormittagstraining war noch nicht beendet, und doch lief uns der Schweiß schon in Strömen herunter. Es gab keine Thermometer hier und ich musste mich auf mein Gefühl verlassen, doch ich schätzte, dass es sicherlich schon weit über dreißig Grad im Schatten waren. Mein Kampftraining mit Wang Lee verlief nicht so gut wie an anderen Tagen. Ich war unaufmerksam, unbeherrscht und es schien so, als hätte ich noch nicht viel gelernt. Wang Lee schüttelte nur den Kopf, aber Mao Lu Peng hatte wieder einmal einen Grund, mich zu schikanieren und mir zu beweisen, dass ich nicht zu ihnen gehörte. Kurz vor Mittag trieb er es dann auf die Spitze, indem er selbst mit mir trainierte. Ich sah ganz schön alt aus gegen ihn. Doch Mao Lu Peng hatte sichtlich seine Freude daran und am Ende verließ ich nicht nur mit blauen Flecken den Platz. Ich hinkte, mir das Blut von den aufgeplatzten, geschwollenen Lippen wischend, neben Wang Lee zum Essen und Wang Lee warf immer wieder bedauernde Blicke auf mich. Wir hatten die Küche schon fast erreicht, als er stehen blieb und mich fragte:
›Was war denn heute mit dir los? So schlecht, so unkonzentriert bist du doch sonst nicht!‹
Ich sah ihn von der Seite an, überlegte einen Augenblick und antwortete:
›Ich weiß auch nicht. Manchmal ist es eben nicht so einfach für mich. Ich bin nun schon fast ein Jahr hier, und doch gehöre ich nicht zu euch. Ich bin und bleibe eben ein Fremder. Meine Anwesenheit hier ist für einige wie ein Dorn im Finger, den man gerne los wäre. Es ist schön hier, ich fühle mich auch sehr wohl bei euch, und doch fehlt mir etwas.‹
Ich machte eine kleine Pause, um wieder einmal das Blut mit dem Handrücken vom Mund abzuwischen. Doch Wang Lee dachte, ich wollte es dabei bewenden lassen und hakte nach.
›Warum denkst du das? Außer dem Meister mag dich doch jeder hier und selbst der hat schon eine bessere Einstellung zu dir als am Anfang.‹
›Nein, das meine ich nicht! Das Leben hier bei euch ist schon in Ordnung, so wie es ist. Auch wenn Mao Lu Peng, aus irgendwelchen Gründen ein Problem mit mir hat, kann ich damit leben. Denn es gibt überall Licht und Schatten. Was mir fehlt, ist ein Ziel, eine Aufgabe, für die ich lebe und weswegen ich das hier lerne. Ich weiß nicht, wie ich hierhergekommen bin, warum ich hier bin, warum Han Liang Tian die Aufgabe bekommen hat mich auszubilden! Ich weiß eigentlich gar nichts über mein neues Leben. Ich bin es gewohnt ein Ziel zu haben, darauf hinzuarbeiten und mich dann über das Erreichte zu freuen. Ich lebe zwar, trainiere mit euch und denke mittlerweile, dass ich mit der Zeit auch recht gut werden könnte, doch mir fehlt die Motivation, mir fehlt ein Ziel, für das ich das alles tue.‹
Ich hatte mich richtig in Fahrt geredet und war froh, dass ich meine Probleme endlich einmal jemandem mitgeteilt hatte. Nun fühlte ich mich, obwohl sie nicht beseitigt waren, viel wohler. Mich zur Seite drehend spuckte ich wieder Blut aus, das sich beim Reden im Mund gesammelt hatte. Als ich mich dann wieder zu Wang Lee umdrehte, fiel mein Blick auf Hu Kang, der uns mit seiner gefüllten Essenschale entgegenkam. Wang Lee hatte nachdenklich geschwiegen, doch jetzt, als Hu Kang freundlich lächelnd und grüßend an uns vorbeiging, hellte sich sein Gesicht auf. Er sah mir wieder in die Augen und sagte:
›Was wissen wir schon, welchen Grund die Götter haben, das Leben des einen oder anderen auf diese oder die andere Art und Weise zu lenken. Doch einen Sinn und Zweck hat es immer, man kann ihn bloß nicht immer gleich erkennen. Vielleicht war es eine deiner Aufgaben hier, Hu Kang am Leben zu erhalten!‹
›Wann sollte ich das denn getan haben?‹
›An jenem Abend, als wir nur Zuschauer sein sollten, hast du …‹
›Habe ich durch meine Unbeherrschtheit beinah viel Schaden angerichtet!‹
›Nein, es war sicherlich unbeherrscht und unbesonnen von dir, doch ich weiß mittlerweile, dass sich der Abt hinterher sicher war, das Hu Kang nur durch deine Hilfe genügend Kraft bekommen hat, um wieder gesund zu werden.‹
Abrupt wendete ich mich ab und sah Hu Kang hinterher. Ich wusste, dass er ein Betmönch geworden war und nun auch, in relativ kurzer Zeit, in die obere Riege der Mönche, die mit dem Abt zusammen das Kloster leiteten, aufgenommen worden war, doch Wang Lees Worte wollten mir nicht so recht einleuchten. Nachdenklich drehte ich mich wieder um.
›Wie kommst du auf den Gedanken, dass ich zu seiner Genesung beigetragen habe?‹
Ich erwartete keine Antwort von Wang Lee und sprach mehr zu mir selbst weiter:
›Im ersten Moment habe ich auch gedacht, dass ich einen Beitrag zu seiner Genesung geleistet hätte. Vor allen Dingen nachdem Han Liang Tian mit mir gesprochen hatte.‹
Ich stockte kurz.
›Nein, stimmt ja gar nicht! Er hat ja gar nicht mit mir gesprochen! Ich habe ja nur gedacht, dass ich seine Stimme gehört hätte, dass ich seine Gedanken hören könnte! Richtig gesprochen darüber habe ich aber nicht mit ihm. Und doch war ich mir sicher, dass er noch mit mir darüber reden wollte, dass er mich auch in diesen Dingen unterrichten würde und ich dann vieles besser verstehen würde. Aber mittlerweile denke ich, dass ich mir das nur eingebildet habe, denn bisher hat er nichts dergleichen unternommen.‹
›Vielleicht hatte das auch seinen Grund.‹
Erschrocken fuhr ich herum und schaute in das lächelnde Gesicht des Abtes. Mit seiner Reisschale in der Hand stand er vor mir und schaute mir, als er weitersprach, offen in die Augen.
›Du bist immer noch sehr ungeduldig und es ist eigentlich immer noch viel zu früh, um mit dir über solche Dinge zu sprechen. Doch ich weiß nicht, wie viel Zeit mir noch bleibt, um dich zu unterrichten, deswegen werde ich heute damit anfangen. Da es so warm ist, wird am Nachmittag nicht trainiert und ich erwarte dich nach der Andacht im kleinen Tempel an der hinteren Mauer.‹
Verblüfft schaute ich dem ruhig und würdevoll davongehenden Abt hinterher.
›Wo kam denn Han Liang Tian auf einmal her?‹, fragte ich Wang Lee.
›Na von der Küche und wenn wir nicht langsam weitergehen, bekommen wir nur noch die Reste oder gar nichts mehr.‹
Mit diesen Worten setzte er sich in Bewegung und wir erreichten als einige der letzten die Küche. Der Koch sah mich, als er mir die Reisschale gab, mit einem schiefen Gesicht an. Er verkniff sich jede laute Äußerung, ich konnte aber nicht erkennen, ob mehr Bedauern oder Spott in seinen Augen lag.
Wir suchten uns einen schattigen Platz an einer der Tempelwände und setzten uns abgesondert von einer Gruppe essender Mönche, den Rücken an die kühle Wand lehnend, hin. Nachdem wir schweigend unsere Mahlzeit zum großen Teil vertilgt hatten, begann Wang Lee, ohne mich dabei anzusehen, zu sprechen:
›Han Liang Tian muss sehr viel von dir und deinen Fähigkeiten halten, wenn er dich in diesen Dingen unterrichten will. Es gibt Wenige, die in den Genuss einer solchen Ausbildung kommen und wenn Mao Lu Peng davon erfährt, wird ihn das sehr verärgern.‹
Neugierig geworden sah ich Wang Lee an und fragte:
›Wieso denn das?‹
›Weil er schon immer der Meinung war, dass er aufgrund seines Kampfkönnens in diesen Dingen unterrichtet werden sollte, doch der Abt hat es immer wieder abgelehnt.‹
›Hmmm! Mao Lu Peng ist doch ein hervorragender und disziplinierter Kämpfer. Es gibt keinen hier im Kloster, der ihm ebenbürtig wäre.‹
›Ja, im Kampf ist ihm keiner gewachsen, doch es gibt auch noch anderes, das genauso wichtig ist, um verantwortungsvoll mit solchen Kräften umzugehen.‹
›Was sollte ich haben, was Mao Lu Peng nicht hat?‹
›Oh, da gibt es Einiges. Zu Beispiel Mao Lu Pengs Herrschsucht, und das ist eine Eigenschaft, das du auf keinen Fall hast. Doch ich denke nicht, dass diese Tatsache oder andere deiner Eigenschaften, der Hauptgrund dafür sind. In dem Traum, den Han Liang Tian vor deiner Ankunft hatte, bekam er die Aufgabe, dir alles beizubringen, was er kann und ich denke, sein Wissen über die Macht des Geistes oder besser gesagt über die Kraft eines starken Chi gehört mit dazu.‹
Schweigend hatte ich zugehört und nun schaute ich, ohne mein Umfeld wahrzunehmen, auf die Gebäude vor mir. Da waren sie wieder, die Gedanken an das Leben vor meiner Ankunft hier.
Warum war ich hier? Was war damals geschehen? Von wem hatte der Abt diesen Auftrag bekommen? Wie lange sollte ich noch hier bleiben? Welche Aufgabe hatte ich nun? Hatte ich überhaupt eine Aufgabe?
Die Hände mit der Reisschale und den Stäbchen waren mir in den Schoß gesunken. Bei meinen Grübeleien nahm ich nicht einmal wahr, dass Wang Lee mit dem Essen schon lange fertig war und mich beobachtete. Erst als er mich fragte, ob ich nicht langsam aufessen wolle, fand ich wieder in die Gegenwart zurück.
Verwirrt schaute ich mich um. Wie lange hatte ich denn so gesessen und gegrübelt? Von den anderen war keiner mehr zu sehen und mein Essen war auch kalt geworden. Hastig schaufelte ich den Rest in mich hinein und stand auf. Wir gingen zur Küche, spülten noch unsere Reisschalen und Essstäbchen mit dem dafür bereitstehenden Wasser ab und gingen dann mit schnellen Schritten zum Tempel.
Ich brauchte an diesem Tag besonders lange, um meine Gedanken zu ordnen und zur Ruhe zu kommen. Als einer der Letzten verließ ich dann den großen Tempel und ging zu meiner Verabredung mit Han Liang Tian. Als ich den kleinen Tempel betrat, war der Abt noch nicht da. Ich hatte also Zeit, mich in Ruhe umzuschauen. Es war angenehm kühl in diesem Gebäude. Durch seine Lage an der Mauer und im Schatten von großen, dichtbelaubten Bäumen, war es hier noch angenehmer als bei der Andacht. Das Innere dieses Tempels war nicht so reich ausgestattet wie der Haupttempel, doch alles war gepflegt und frische Opfergaben standen vor dem Altar. Räucherstäbchen waren angebrannt und ihr Duft wirkte angenehm beruhigend auf mich. Ich setzte mich, in der Nähe des Eingangs im Schneidersitz nieder und das erste Mal seit sehr langer Zeit konnte ich mich wieder zu einem Gebet durchringen. Es war schon eine seltsame Situation: Ich saß in einem Tempel mit fremdartigen Götterfiguren und betete zu meinem christlichen Gott. Doch ich dachte mir, dass es nicht darauf ankam, ob ich in einem christlich geweihten Raum saß, sondern dass es wichtig war, dass ich wieder mit Gott sprach. Dieses Gebet war sicherlich recht verworren und beantwortete auch nicht meine vielen Fragen. Dennoch fühlte ich mich am Ende erleichtert und war froh, mit Gott gesprochen zu haben.

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