Dao

Kapitel 3 – Die Kraft des Geistes

Abschnitt 1

»Ich war nun schon einige Wochen in diesem Kloster, hatte mich langsam an mein neues Leben gewöhnt und fühlte mich wohl in der Gemeinschaft, in die ich nun aufgenommen worden war, als ich mich wieder umstellen musste.
Es war ein schöner, milder Sommerabend und ich befand mich mit dem Abt und Wang Lee auf dem Tempelvorhof. Der Abt versuchte gerade, mir einige Tai Chi-Bewegungsabläufe und deren Sinn zu erklären, als am Klostereingang größere Unruhe entstand. Eine große Gruppe Männer, geführt von dem Mönch, der mich am ersten Tag so abweisend behandelt hatte, betrat das Kloster. Als dieser mich sah stutzte er kurz, bedachte mich mit einem nicht sehr freundlichen Blick und kam dann mit zügigen Schritten auf den Abt zu. Im Vorbeigehen nickte er Wang Lee kurz aber freundlich zu. Mich behandelte er aber wie Luft, verneigte sich kurz vor dem Abt und begann mit einem kurzen Bericht.
Aus dem Wenigen, das ich bisher verstehen konnte, aus dem, was ich sah und aus dem, was mir Wang Lee dann erklärte, konnte ich mir dann Folgendes zusammenreimen:
Das Kloster hatte einen Vertrag oder eine Abmachung mit dem Chinesischen Kaiser. Dieser garantierte dem Kloster relativ viele Freiheiten, großzügige Unterstützungen und das Recht, eine Truppe von Kampfmönchen zu unterhalten. Im Gegenzug war das Kloster verpflichtet, hochrangige Offiziere und die Leibgarde des Kaisers auszubilden. Weiterhin war es dem Kloster auferlegt, in Zeiten, in denen das Reich in Gefahr war, den Kaiser zu unterstützen. Der jetzige Abt, Han Liang Tian, respektierte diesen Vertrag, da dem Kloster viele Vorteile daraus erwuchsen, war aber selbst kein Kampfmönch, sondern ein Betmönch. Er beherrschte die Kampftechniken zwar sehr gut, wandte diese aber nur im äußersten Notfall und nur zur Verteidigung an. Außerdem betrachtete er das Kämpfen um des Kämpfens Willen als Schwäche. Han Liang Tian bedauerte, dass das Kloster seinen Wohlstand nur auf diese Weise erhalten und ausbauen konnte und hätte gerne etwas daran geändert, doch es gab wenige, die so dachten wie er. Der Mönch, der jetzt beim Abt Bericht erstattete, war der Meister der Kampfmönche und hieß Mao Lu Peng.
An dem Tag, als ich hierher verschlagen wurde, war mir auf dem Weg im Flusstal ein Reiter begegnet. Dieser Reiter war ein Bote des Kaisers gewesen, der dem Kloster melden sollte, dass Nomaden aus der Mongolei weit ins Reich vorgedrungen waren und das Land verwüsteten. Der Kaiser forderte das Kloster auf, eine Truppe, die er in Marsch gesetzt hatte, mit Kampfmönchen zu unterstützen.
Diese Truppe war nicht weit vom Kloster vorübergekommen und führte Pferde mit, die die Mönche zum schnelleren Vorankommen nutzen konnten. Der Abt, der mir mit Wang Lee und einem zweiten Mönch gefolgt war, hatte damals den Boten und seinen zweiten Begleiter mit der Anweisung ins Kloster geschickt, dass Mao Lu Peng mit allen zur Verfügung stehenden Männern aufbrechen sollte, um der Verpflichtung gegenüber dem Kaiser nachzukommen. Die Mönche waren sofort aufgebrochen und hatten in Gewaltmärschen und -ritten recht schnell die Krisenregion erreicht. Aber dort brauchten sie sehr lange, um den Gegner zu stellen. Die Nomaden wichen den Kaiserlichen Truppen immer wieder aus und waren schon auf dem Weg aus China heraus, als sie endlich gestellt werden konnten. Mithilfe der Kampfmönche gelang es der Kaiserlichen Truppe, die Nomaden vernichtend zu schlagen und die wenigen Überlebenden flüchteten Hals über Kopf ins Innere der Mongolei. Doch auch die Mönche hatten, wenn auch einen sehr geringen, so doch schmerzlichen Preis zahlen müssen. Zwei der Mönche hatten ihr Leben lassen müssen und fast die Hälfte der knapp einhundertfünfzig Mann starken Truppe war leicht oder auch schwer verletzt.
Die waffentragenden Mönche, die nun das Kloster betraten, sahen so ganz anders aus als die, die ich bisher hier kennengelernt hatte. Ein Blick in die müden und erschöpften Gesichter der Männer sagte mir, dass nicht alle mit dem Verlauf dieser Aktion einverstanden oder zufrieden waren. Auf mehreren Tragen lagen schwerverletzte Mönche und einige der leichter Verletzten stützten sich gegenseitig oder hatten sich Gehhilfen angefertigt. Diese Mönche hatten nichts mehr mit denen gemein, die ich am ersten Tag auf dem Übungsplatz trainieren sehen hatte.
Nachdenklich schaute ich ihnen nach, als sie ihren Unterkünften zustrebten und fragte mich im Stillen:
Warum tun Menschen sich so etwas an? Warum helfen sich Menschen nicht gegenseitig und einer trägt des anderen Last?
Doch eigentlich wusste ich die Antwort ja schon längst, das Streben nach Macht und Reichtum wurde den Menschen immer wieder zum Verhängnis. Der Abt, Han Liang Tian, lauschte traurig den Worten von Mao Lu Peng. Ein Blick in das ebenfalls bekümmerte Gesicht von Wang Lee sagte mir, dass auch dieser Freunde verloren hatte oder sich um andere sorgte.
Als Mao Lu Peng seinen Bericht beendet hatte, wandte er sich um und wollte den anderen folgen, doch dabei fiel sein Blick auf mich und er fragte den Abt ungehalten, warum ich immer noch hier sei. Mit einem Gesichtsausdruck, der Mao Lu Peng ganz kleinlaut werden ließ, wies ihn der Abt zurecht. Dann sagte er ihm, dass er sich auch nicht weiter um mich zu kümmern brauchte, da er und Wang Lee diese Aufgabe übernehmen würden. Beschämt und vielleicht auch ein wenig beleidigt, setzte er dagegen, dass der Abt ja andere Dinge zu tun hätte, Wang Lee kein Meister sei und es eigentlich seine Aufgabe sei, die Leute auszubilden. Han Liang Tian sah ihm tief in die Augen und gab ihm dann zu verstehen, dass er die Ausbildung leiten und überwachen sollte, dass aber Wang Lee weiterhin mit mir zusammen trainieren sollte und dass er jeden Morgen mit mir die Tai Chi- Übungen durchführen wolle. Ebenso wollte er abends, wenn es seine Zeit erlaubte, Gespräche mit mir führen und mich Dinge lehren, die weniger mit dem Kämpfen zu tun hatten. Mao Lu Peng war zwar nicht zufrieden mit dem Ausgang des Gespräches, aber er musste die Anweisungen des Abtes respektieren.
Die nun folgenden Tage verliefen in sehr gedrückter Stimmung und die Ruhe und Besinnlichkeit, die bisher vorgeherrscht hatte, war auf die Andachts- und Ruhezeiten beschränkt. Wang Lee wurde immer bedrückter und als ich ihn dann, einige Tage nach dem Eintreffen der Kampfmönche, nach dem Grund fragte, teilte er mir mit, dass es seinem Freund, dem älteren Mönch, der mich am ersten Tag mit ins Kloster geleitet hatte, aufgrund einer Verwundung sehr schlecht ginge. Mir ging das Schicksal dieses freundlichen älteren Mönches, den ich ja nur ganz kurz kennengelernt hatte, sehr nahe und ich bat Wang Lee, mich zu ihm zu führen, damit ich ihn auch einmal besuchen konnte.
Als wir ans Krankenlager des Mönches traten, kniete dort schon der Abt und sprach Gebete für den Kranken. Leise, um Han Liang Tian nicht zu stören, traten wir hinzu und ich sah auf den ersten Blick, auch ohne viel Erfahrung in dieser Richtung zu haben, dass es tatsächlich sehr schlecht um den Mönch stand. Er hatte offensichtlich sehr starkes Wundfieber. Seine Augen waren glasig und sein Blick ging ins Leere. Am rechten Oberschenkel war eine große, stark entzündete, eiternde Wunde, die Haut war aschfahl und er zitterte am ganzen Körper.
Han Liang Tian beendete seine Gebete und legte seine rechte Hand auf die Stirn und die linke Hand auf die Brust des Mönches, dann schloss er die Augen und ich spürte sofort, wie der Kranke ruhiger wurde. Hu Kang, so hieß der verletzte Mönch, schien in einen ruhigen, erholsamen Schlaf zu fallen. Nach einer Weile, die mir wie eine Ewigkeit vorkam, erhob sich der Abt sichtlich erschöpft und winkte einen im Raum anwesenden Mönch zu sich heran. Diesem gab er einige Anweisungen und wandte sich dann uns zu.
›Jetzt kann ich erst einmal nichts mehr für ihn tun‹, sagte er und schaute dabei Wang Lee in die Augen.
›Seine Wunde muss noch einmal gereinigt und viel von dem entzündeten Fleisch entfernt werden. Vermutlich befinden sich noch Verunreinigungen in der Wunde, die der Körper abstoßen will. Diese müssen wir entfernen und dann können wir ihm nur noch Kraft bei der Selbstheilung geben.‹
Ich muss Han Liang Tian ein wenig ungläubig und verständnislos angeschaut haben, denn er setzte nach und erklärte mir: ›Wir können nur das Äußere einer Wunde behandeln, den Rest muss der Körper selbst erledigen. Wenn der Kranke aber sehr schwach ist und die nötige Energie nicht aufbringen kann, können wir ihn unterstützen, indem wir ihm Energie von uns abgeben.‹
Ich sah ihn noch erstaunter an, denn das, was er sagte, war etwas, womit ich mich in meinem alten Leben nie ernsthaft beschäftigt hatte. Mir waren zwar immer wieder einmal Gerüchte und Berichte zu Ohren gekommen, dass Menschen durch Handauflegen heilen könnten, doch so richtig daran geglaubt hatte ich nie.
Der Abt sah mir an, dass mir für solche Dinge noch das Verständnis fehlte und versuchte es mir anschaulicher zu erläutern.
›Es ist nicht so einfach, wie es sich jetzt vielleicht angehört hat und es gibt auch nur wenige Menschen die es wirklich beherrschen. Es gehört sehr viel Kraft, innere Stärke, Reinheit des Geistes und Konzentration dazu, um so etwas wirklich tun zu können. Wenn du möchtest, kannst du, nachdem die Wunde gereinigt wurde, wieder herkommen und dabei sein, wenn wir ihm helfen wieder Kraft zu schöpfen, um sich selbst zu heilen.‹
Ich wollte auf jeden Fall dabei sein und sehen was dort geschah, denn der Abt hatte meine Neugier geweckt. Nachdem ich mit Wang Lee das Krankenlager seines Freundes verlassen hatte und wir die kühleren Abendstunden für ein weiteres Krafttraining nutzten, versuchte ich von Wang Lee noch mehr über diese Dinge zu erfahren. Doch auch er konnte mir nicht sehr viel darüber erzählen. Er selbst war noch nie bei einer solchen Aktion dabei gewesen und konnte auch nur vom Hörensagen darüber berichten. Aber das, was er gehört hatte war dennoch schon recht interessant.
Im Kloster beherrschten es eigentlich nur der Abt und ein weiterer, älterer Mönch richtig. Nach Wang Lees Aussagen war so etwas auch nur möglich, wenn man ein großes und starkes Chi, also große innere Energie, hatte. Denn es ging darum, dem Bedürftigen ein wenig von dieser abzugeben. Legenden besagten, dass es Männern mit einem großen Chi sogar möglich sei, Energie von anderen und aus der Umwelt mit zu nutzen, um so etwas noch effektiver zu praktizieren. Doch von Wang Lee erfuhr ich, dass ihm niemand bekannt war, der das wirklich schon einmal gesehen, erlebt oder gar praktiziert habe.
Nach einiger Zeit, die Sonne hatte den Horizont schon fast erreicht, wurden wir zum Abt gerufen. Das heißt, ich wurde zum Abt gerufen, aber Wang Lee ging einfach mit. Der Abt hatte vor der Unterkunft auf mich gewartet und als er Wang Lee sah, überlegte er nur einen kurzen Augenblick und nickte ihm dann zu. Sein Gesicht, seine ganze Körperhaltung drückte dabei aus was er dachte: Ich habe zwar nicht damit gerechnet, aber es ist in Ordnung.
Als wir dann den Raum betraten, gab er uns schnell noch einige Verhaltensmaßregeln.
›Ich bitte euch jetzt, bis wir das Krankenlager wieder verlassen, ruhig zu bleiben, keine Fragen zu stellen oder miteinander zu sprechen. Es kann nur gelingen, wenn wir uns voll und ganz darauf konzentrieren und alles was diese Konzentration unterbricht, könnte die Möglichkeit dieser Hilfe verhindern. Seid bitte nur stille Beobachter und richtet eure Gedanken höchstens auf das Ziel aus, uns zu unterstützen, indem ihr dem Kranken alles Gute und viel Kraft zur Genesung wünscht!‹
Wir betraten das Zimmer von Hu Kang und mein erster Blick fiel auf einen alten Mönch, der morgens immer mit dem Abt, den anderen, älteren Mönchen und mir die Tai Chi-Übungen durchführte. Mit einem kaum bemerkbaren Kopfnicken begrüßte er uns, schloss dann aber sofort wieder die Augen und konzentrierte sich auf die bevorstehende Aufgabe.
Der kranke Mönch lag auf seiner Pritsche und erst bei näherem Hinschauen konnte man das kaum merkliche Heben und Senken der Brust sehen. Er hatte einen neuen, aber blutgetränkten Verband am Oberschenkel. Die Reinigung der Wunde schien ihn die letzte Kraft gekostet zu haben. Sein Gesicht war eingefallen, seine Gesichtszüge ohne Ausdruck, jegliche Farbe war daraus gewichen. Bei einem flüchtigen Blick auf dieses aschfahle Gesicht hätte man denken können, das dort ein Toter läge, Ich sah aus den Augenwinkeln, wie Wang Lee erschrak und bedachte ihn mit einem kurzen, aufmunternden Blick. Still stellten wir uns an die Wand und beobachteten, was nun geschah.
Han Liang Tian verharrte kurz mit vor der Brust zusammengelegten Händen, dann trat er zu dem anderen Mönch und beide legten nun ihre Hände auf Stirn und Brust des Kranken. Dann schlossen sie die Augen und ein Blick in ihre Gesichter zeigte, dass sie voll auf ihre Aufgabe konzentriert waren. Im ersten Moment konnte ich nichts Ungewöhnliches feststellen und mein Blick wanderte unaufhörlich von dem Gesicht des Kranken zum Gesicht von Han Liang Tian und dem alten Mönch. So standen wir eine ganze Weile und ich dachte schon, dass ich nun doch nichts Interessantes sehen würde, als ich plötzlich den Eindruck hatte, dass das Gesicht von Hu Kang mehr Farbe hatte und auch entspannter aussah. Ich sah noch einmal und konzentrierter hin. Nein, ich täuschte mich nicht, Hu Kangs Gesicht hatte sich wieder belebt.
Nun musterte ich die Dreiergruppe genauer und versuchte mir vorzustellen, was dort vor sich ging. Das Gesicht des Abtes und des alten Mönches war von den rötlichen Strahlen der untergehenden Sonne, die durch die Fensteröffnung ihre letzten Strahlen hereinsendete, beschienen. Der Abt hatte sein Gesicht mit den geschlossenen Augen der Sonne zugewandt und es schien so, als ob er dieses Licht, die Kraft der Sonne, in sich aufnehmen wollte. Doch im gleichen Moment sah ich auch, dass seine Gesichtszüge eingefallen waren, seine Augen- und Mundwinkel vor Anstrengung immer wieder zuckten. Ein schneller Blick in das Gesicht des alten Mönches zeigte, dass diesen die Anstrengung noch viel mehr zeichnete. Seine Züge sahen aus wie die eines Gewichthebers, der mit letzter Kraft das Gewicht nach oben stemmt. Die Körper der beiden waren angespannt, als ob jeder Muskel, jede Sehne bis zum Zerreißen mit gefordert wäre und doch sah man außer dem Zittern der Hände und dem Zucken im Gesicht keine Bewegung. So standen sie schon eine ganze Weile und die Strahlen der untergehenden Sonne trafen nur noch auf die obere Hälfte der Köpfe. Der Abt schien sich zu strecken, um die letzten Strahlen aufzufangen. Doch ich konnte mich auch täuschen, denn der alte Mönch fiel immer mehr in sich zusammen.
Als ich zu Wang Lee schaute, nahm dieser meinen Blick gar nicht wahr. Auch er hatte die Augen geschlossen und schien sich auf irgendetwas zu konzentrieren.
Was hatte der Abt doch gleich gesagt?
›Seid bitte nur stille Beobachter und richtet eure Gedanken höchstens auf das Ziel aus, uns zu unterstützen, indem ihr dem Kranken alles Gute und viel Kraft zur Genesung wünscht!‹
Sicher tat Wang Lee gerade, was der Abt uns aufgetragen hatte. Nun schloss auch ich die Augen und versuchte, mich nur darauf zu konzentrieren, Hu Kang alles Gute zu wünschen. Es dauerte eine Weile, bis mir dieses gelang, doch dann war ich erstaunt, was ich auf einmal wahrnehmen konnte.
Der Raum schien angefüllt zu sein mit der Energie, die von den beiden alten Männern ausging. Jetzt, wo ich mich richtig auf die gleiche Aufgabe wie Han Liang Tian und der alte Mönch konzentrierte, war es, als ob ich ihre Gedanken fühlen oder hören könnte. Immer wieder hörte ich:
›Nimm diese Kraft von uns, Hu Kang, wir geben sie dir gerne! Nimm so viel, wie du brauchst, damit du wieder gesund wirst!‹
Dann kamen noch Gedanken hinzu, die ich noch nicht so ganz verstehen konnte. Es war, als ob sie Hu Kangs Körper befehlen würden sich selbst zu heilen, als ob sie dem Körper genaue Anweisungen geben würden, was er nun zu tun hätte. Das Erstaunlichste dabei war aber, dass sie beide das gleiche dachten, dass ihre Gedanken eins zu sein schienen. Es war ein völliger Gleichklang. Kein Wirrwarr von unterschiedlichen Anweisungen und Befehlen an den Kranken, sondern ein Gedanke von zwei Männern.
Nach einer Weile nahm ich auch Wang Lees Gedanken war. Sie hatten den gleichen Inhalt, waren aber viel schwächer und nicht so im Gleichklang, wie die der beiden alten Mönche und doch hatte ich das Gefühl, dass sie mit dazu beitrugen, den beiden zu helfen. Daraufhin versuchte auch ich mich darauf einzustimmen und die beiden zu unterstützen. Nach einer Weile gelang mir das vielleicht annähernd so wie Wang Lee. Doch ich spürte auch, wie bei dem Abt und dem alten Mönch die Kraft nachließ. Fieberhaft überlegte ich, ob ich sie nicht vielleicht doch noch besser unterstützen könnte und im selben Moment merkte ich, dass meine Verbindung zu ihnen abriss. Genau das ist es, ich muss denken wie sie! Nur so kann es funktionieren! Nur so kann ich ihre Gedanken spüren und ihnen helfen!
Sofort konzentrierte ich mich wieder auf die Hilfe zu Hu Kangs Heilung und es gelang mir auch erneut, die Gedanken der beiden alten Mönche wahrzunehmen. Ich freute mich und überlegte, ob ich Wang Lee mitteilen sollte, was ich herausgefunden hatte, doch im selben Moment spürte ich, wie die Verbindung wieder abriss. Sofort schob ich alles andere wieder zur Seite und konzentrierte mich wieder. Es dauerte nicht lange bis ich merkte, dass sie kurz davor waren aufzuhören. Plötzlich kam mir ein Gedanke.
Wie wäre es, wenn ich Körperkontakt mit ihnen und dem Kranken hätte? Vielleicht wäre es mir dann besser möglich sie zu unterstützen.
Der Abt hatte uns zwar gebeten nur stille Beobachter zu sein, aber diese Bedenken schob ich schnell zur Seite, konzentrierte mich wieder auf sie und versuchte mit ihnen in Gleichklang zu kommen. Langsam ging ich dann zu ihnen hin und legte vorsichtig, immer bestrebt dabei das gleiche wie sie zu denken, meine Hände auf die des Abtes. Beinahe wäre ich zusammengefahren und nur mit äußerster Kraft- und Willensanstrengung konnte ich dem Drang widerstehen, meine Hände sofort wieder herunterzureißen.
Im ersten Moment hatte ich das Gefühl, mein Herz bliebe stehen. Alle Kraft schien aus mir zu weichen. Sie schien regelrecht abgesaugt zu werden. Durch den Schreck und meine Unerfahrenheit wäre der Kontakt beinah abgerissen und nur mit Mühe konnte ich diesen aufrechterhalten. Aber es schien zu funktionieren, die Gedanken Han Liang Tians und des alten Mönches wurden wieder kräftiger und ich hatte auch nicht mehr das Gefühl, dass sie jeden Augenblick abbrechen würden.
Ich brachte meine Gedanken wieder in Gleichklang mit den anderen und dachte dabei nur noch:
Nehmt von mir was ihr braucht und gebt es Hu Kang! Nehmt, so viel wie ihr bekommen könnt!
Wang Lee nahm ich nur noch im Hintergrund wahr. Es war, als ob er ganz weit weg wäre und nur eine ganz schwache Stimme bis zu mir dränge, aber die Gedanken der beiden anderen waren stark und laut. Der physische Kontakt schien das alles zu begünstigen. Ich spürte, wie die Energie regelrecht aus mir herausgezogen wurde und nach einer Weile merkte ich, wie ich immer schwächer wurde. Meine Hände und Knie begannen zu zittern und es fiel mir immer schwerer mich zu konzentrieren. Ich weiß nicht, wie lange wir so standen, da ich jedes Zeitgefühl verloren hatte, doch in dem Moment, als ich das Gefühl hatte, ich würde zusammenbrechen, unterbrach der Abt die Verbindung.
Ich taumelte zurück und wenn Wang Lee mich nicht aufgefangen hätte, wäre ich sicher gestürzt. Er schob mich auf einen Hocker, der an der Wand stand. Erschöpft atmete ich tief durch, wollte die Augen öffnen, um zu sehen was im Raum vor sich ging und merkte im gleichen Moment, dass sie schon offen waren. Da fuhr mir der Schreck in die Glieder, denn es war, bis auf einige bunte, flimmernde Ringe, völlig dunkel um mich herum. Ich strengte mich an und langsam, wie durch einen dicken Nebel, kamen die schemenhaften Umrisse des Raumes und der Anwesenden zum Vorschein.
Wang Lee stand neben mir und schaute mich erschrocken an. Auch der Abt und der alte Mönch, die noch am Krankenlager standen, schauten zu mir her. Doch die Blicke dieser beiden waren nicht so besorgt wie die von Wang Lee. Im Gegenteil, das Gesicht des alten Mönches zeigte eine gewisse Anerkennung und mit einem freundlichen Lächeln nickte er mir zu. Der Gesichtsausdruck des Abtes war unergründlich. Er schien zu schwanken zwischen Anerkennung und Missbilligung.
Nach einer Weile konnte ich wieder klar sehen und stellte fest, dass die Sonne in der Zwischenzeit untergegangen war. Nur das spärliche Dämmerlicht, das durch die Fensteröffnung hereindrang, ermöglichte die Orientierung im Raum. Langsam hatte sich mein Körper wieder erholt und ich stand auf, um damit zu zeigen, dass es mir wieder gut ging. Doch meine Knie waren immer noch ganz weich und es sah bestimmt nicht ganz so forsch und kraftvoll aus, wie ich es gehofft hatte. Wang Lees Hände schossen schon nach vorn, um mir zu helfen, doch energisch wies ich diese zurück. Han Liang Tian sah mir in die Augen und sagte:
›Es war leichtsinnig und nicht ungefährlich, was du getan hast. Ich hatte euch nicht ohne Grund gebeten, nur stille Zuschauer zu sein. Du hättest durch dein unbeherrschtes Handeln mehr Schaden anrichten können, als du dir vorstellen kannst! Du, nein wir haben Glück gehabt, denn du scheinst etwas an oder in dir zu haben, das diese Kraft zwar nutzen, aber noch nicht kontrollieren kann. Wir müssen uns unbedingt darüber unterhalten! Ich möchte gerne mit dir daran arbeiten, diese Kraft zu kontrollieren und zu nutzen.‹
Zuerst war ich erschrocken gewesen, denn der Vorwurf in den ersten Sätzen des Abtes traf mich doch sehr. Dieser gütige Mann tolerierte vieles, bevor er so reagierte. Doch das Letzte, was er gesagt hatte, machte mich schon wieder stolz. Han Liang Tian merkte das und fügte schnell hinzu:
›Das soll nicht heißen, dass dein Handeln damit gerechtfertigt ist. Es war sehr gefährlich, was du getan hast und du hättest damit alles zunichtemachen können, was wir bis dahin erreicht hatten.‹
Eine Bewegung des alten Mönches veranlasste Han Liang Tian dazu, in dessen Augen zu blicken. Milder gestimmt fügte er dann hinzu.
›Und doch haben wir mit deiner Hilfe Hu Kang mehr geben können, als wir zu hoffen wagten. Ich bin nun zuversichtlich, dass er genügend Kraft aufbringt, um sich selbst zu heilen. Wir werden, um ganz sicher zu gehen, diese Prozedur in den nächsten Tagen noch einige Male durchführen.‹
Nach einem Blick zu mir fügte er schnell hinzu:
›Doch ohne euch, ohne deine Anwesenheit wird dies geschehen! Bevor du jemals wieder so etwas durchführst, solltest du diese Kraft beherrschen und kontrollieren können!‹
Man merkte, dass es ihm ernst war mit diesen Worten und ich war mir nicht sicher, ob ich nun stolz oder beschämt sein sollte. Ich musste auch noch eine Weile mit dieser Unsicherheit leben, denn der Abt ließ sich Zeit, bis er mit mir über dieses Thema sprach.
Wir verließen den Raum und ich merkte beim Hinausgehen, dass es die beiden alten Männer auch viel Kraft gekostet hatte. Sie schienen zwar nicht so weiche Knie zu haben wie ich, doch auch ihnen merkte man die Erschöpfung an. Wang Lee begleitete mich in meine Mönchszelle. Dort ließ ich mich auf meine Pritsche fallen. Er sah mich an, getraute sich aber anscheinend nicht zu fragen, was ihm auf den Herzen lag und ließ mich mit meinen wild durcheinander jagenden Gedanken allein.
Es war mir recht, da ich das alles selbst erst einmal verarbeiten musste, obwohl ich andererseits auch gerne mit ihm darüber gesprochen hätte. Er hatte mir diese Entscheidung abgenommen und ich konnte mich gerade noch überwinden, meine Kleidung auszuziehen, dann fiel ich in einen tiefen Schlaf.
Irgendwann, mitten in der Nacht, schreckte ich aus einem Albtraum hoch. Schweißgebadet saß ich auf meiner Pritsche und versuchte mich zu beruhigen. Ich hatte geträumt, dass Hu Kang durch mein unbedachtes Handeln plötzlich in Krämpfe gefallen war und keine Luft mehr bekommen hatte. Dann war da auch noch der Abt gewesen und hat mir schwere Vorwürfe gemacht, weil durch meine Schuld Hu Kang nun sterben musste. Immer wieder musste ich an Hu Kangs bleiches, lebloses Gesicht und die vorwurfsvollen Augen des Abtes denken.
Die Bilder des Traumes wollten nicht weichen und alles erschien mir so realistisch. Bald war ich mir nicht mehr sicher, ob es wirklich ein Traum gewesen war oder ob durch meine Schuld nicht vielleicht doch Hu Kang zu Schaden gekommen war. Die kühle Nachtluft, die durch die Fensteröffnung hereinstrich, trocknete den Schweiß auf meinem Rücken. Fröstelnd schüttelte ich mich und fasste den Entschluss nachzusehen, wie es Hu Kang ging. Leise, um möglichst kein Geräusch zu machen, das jemanden stören könnte, stand ich auf und machte mich auf den Weg zu seinem Krankenlager.
Vorsichtig trat ich an seine Pritsche. Meine Augen hatten sich inzwischen an das Halbdunkel im Raum gewöhnt. Durch den Vollmond, der zur Fensteröffnung hereinschien, konnte ich das Gesicht des Verletzten recht gut erkennen. Seine Züge waren entspannt und sein Gesicht wirkte nicht mehr so leblos wie bei meinem ersten Eintreten an diesem Abend. Er schien tief und fest zu schlafen. Die Beklemmung wich langsam von mir. Es war also doch nur ein Traum gewesen. Gott sei Dank, es ging ihm gut. Beruhigt wollte ich mich umdrehen und den Raum verlassen, doch plötzlich hatte ich das Gefühl, dass mich jemand beobachtet. Schnell wandte ich mich wieder um, doch ich konnte in dem durchs Mondlicht nur schwach erhellten Raum niemanden sehen. Hu Kangs Augen waren noch geschlossen und seine gleichmäßigen Atemzüge zeigten, dass er immer noch schlief. Kopfschüttelnd drehte ich mich um und verließ das Gebäude.
Ich bin ja schon paranoid und seh überall Gespenster, sagte ich leise zu mir. Doch das Gefühl war so stark, so intensiv gewesen und immer noch hatte ich das Gefühl, dass mich jemand beobachtete.
Auf dem Weg nach draußen schaute ich mich noch mehrfach um, doch ich konnte nichts Auffälliges entdecken. Mittlerweile war ich so aufgewühlt, dass ich mir sicher war, nicht gleich wieder einschlafen zu können. Ich hatte aber auch keinerlei Vorstellung, wie spät es war und ohne darüber nachzudenken was ich tat, lief ich in Richtung Klostertor, doch dieses war, wie immer nachts, verschlossen.
Automatisch wandte ich mich nach rechts und ging die knapp hundert Meter bis zu der kleinen Pforte, die versteckt in die Mauer eingelassen war. Diese wurde hauptsächlich genutzt, wenn nachts jemand seine Notdurft verrichten musste, um schneller in das kleine Wäldchen zu gelangen, ohne dass das Tor geöffnet werden musste.
Außerhalb der Klostermauer lief ich an der Mauer zurück, ging am Tor vorbei und zu meiner Badestelle. Dort entkleidete ich mich und stieg in das kleine Wasserbecken. Da das Becken durch den kalten, schnell fließenden Gebirgsbach gespeist wurde, war die Wassertemperatur nicht sehr hoch. Die Luft hatte sich in dieser Nacht kaum abgekühlt und so war der Temperaturunterschied zwischen Luft und Wasser immer noch recht groß, weshalb sich beim Eintauchen ins Wasser meine Haut sofort zusammenzog. Doch nachdem ich ein wenig geschwommen und einige Male untergetaucht war, hatte sich mein Körper darauf eingestellt. Ich genoss das erfrischende Bad und reinigte mich anschließend noch gründlich. Dann streifte ich so gut wie es eben ging mit den Händen das Wasser vom Körper ab. Dabei vermisste ich die Sonne, die mich sonst immer getrocknet hatte. Wenn ich auf diese Art und Weise meine Körperhygiene auch in der kalten Jahreszeit durchführen wollte, musste ich mich um etwas Handtuchähnliches kümmern. Ich nahm mir vor, das gleich im Laufe des Tages zu tun. Als ich mir dann einen kleinen Zweig zum Zähneputzen suchte, bemerkte ich, dass es langsam hell wurde. Am Horizont wurde ein heller Streifen sichtbar, der den nahenden Morgen ankündigte.
Ich kleidete mich an und lief zurück zum Kloster. Als ich den Weg erreichte, der zum Eingangstor führte, war der helle Streifen am Himmel schon so groß geworden, dass die Sonne jeden Augenblick aufgehen musste. Da es nun mittlerweile keinen Zweck mehr hatte, sich noch einmal hinzulegen, entschloss ich mich, den Sonnenaufgang hier außerhalb des Klosters zu beobachten. Ich ging die wenigen Stufen zu dem Pagodenwald, der eigentlich eine Grabstätte des Klosters war, hoch und setzte mich am Rande dieses Geländes nieder.
Mein Blick wanderte zu dem Bergkamm, über den sich im nächsten Augenblick die Sonne erheben musste. Langsam wurde ein kleiner, rötlicher Fleck sichtbar. Er wuchs zu einer Scheibe, deren Farbe sich in ein sattes Rotgold wandelte. Ich schaute rundum und konnte mich nicht satt sehen an dem Farbspiel, das die Sonne mit der Landschaft trieb.
Die Baumwipfel glühten im Licht der aufgehenden Sonne und die Tautropfen auf den Blättern blinkten auf, wie kleine Sterne. Die Pagoden warfen ihre ersten, langen, undeutlichen Schatten. Alles um mich herum schien sich zu strecken, sich zu recken, um dem Sonnenlicht näher zu kommen. Eine Amsel begann ihr Lied zu trällern und hoch oben, im klaren Blau des Morgenhimmels, stimmte ein anderer Vogel ein. Auf dem steinernen Absatz vor einer der Pagoden hatte sich eine kleine Eidechse in die Sonne gelegt, um sich von deren Strahlen aufwärmen zu lassen. Eine graue Feldmaus huschte auf der Suche nach Futter über die Steine, erschreckt durch diese Bewegung suchte die Eidechse Schutz in einer Spalte zwischen den Steinen. Majestätisch lag das Kloster im Tal und als die Sonnenstrahlen die Mauern und Gebäude berührten, erwachte auch dieses langsam zum Leben. Aber ruhig, ohne Hektik und Stress war dieses Erwachen.
Wann in meinem früheren Leben hatte ich jemals so etwas bewusst erlebt? Ich konnte mich an kein einziges Mal erinnern, aber ich war mir sicher, dass es meiner Seele gutgetan hätte.

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