Dao

Kapitel 2 – Erwachen

Abschnitt 1

»Eine angenehme Wärme durchströmte mich und unbekannte Vogelstimmen drangen in mein Bewusstsein. Ich sog die reine klare Luft in meine Lunge und mein Herzschlag beruhigte sich wieder. Was war geschehen? Wo war ich? Vorsichtig öffnete ich die Augen ein wenig und schloss sie im selben Moment, geblendet vom gleißenden Sonnenlicht, wieder. Ich hatte genau in die aufgehende Sonne geschaut.
War ich schon tot? War ich im Himmel? Nach einem Selbstmord? Darüber hatte ich in meiner Verzweiflung gar nicht mehr nachgedacht. Da ich den Glauben sowieso schon vernachlässigt hatte, hatte ich solche Gedanken in den letzten Stunden immer wieder verdrängt. Ein Leben nach dem Tod stand für mich einfach nicht mehr zur Debatte. Aber jetzt? Ich hatte keine Erklärung für das, was geschehen war. War ich wirklich gesprungen? Es war mir zwar noch bewusst, wie sich mein Körper angespannt hatte, um sich vom Ast abzustoßen, doch dann? Was war denn in diesem Augenblick nur geschehen?
Meine Hände fühlten den warmen Boden und die kleinen Steine des Weges, auf dem ich in ähnlicher Haltung wie auf dem Ast saß. Langsam drehte ich mich in dieser Stellung um, sodass ich die Sonne im Rücken hatte. Dann öffnete ich vorsichtig die Augen und riss sie erstaunt ganz weit auf. Ich hatte alles andere erwartet, nur nicht den Anblick, der sich mir jetzt bot. Die Sonne beschien vor einem strahlend blauen Himmel eine Landschaft, wie ich sie höchstens einmal im Fernsehen gesehen hatte. Ich befand mich auf einem Weg, der in einem sanften Bogen in ein schönes, lichtdurchflutetes Flusstal führte. An der Stelle, wo der Weg das Tal erreichte, war es sicherlich vier bis fünf Kilometer breit. Flussabwärts waren rechts und links des Flusses sauber abgetrennte Flächen zu sehen. Diese leuchteten in einem üppigen und gleichmäßigen Grün und ihre geometrischen Formen waren auf keinen Fall natürlichen Ursprungs.
Auf dem Wasser bewegten sich kleine Boote mit höchstens ein oder zwei Ruderern besetzt. Wenn man dem Fluss mit den Augen in die andere Richtung folgte, konnte man sehen, dass flussaufwärts die Berge das Tal weiter einengten. Es wurde enger und nur eine kurze Strecke weiter waren keine Felder mehr zu sehen. Die hohen, teilweise sehr steilen Berge schienen sich flussaufwärts fortzusetzen. Nur in der entgegengesetzten Richtung, wo die Landschaft ebener wurde und in weiter Ferne die Berge ganz verschwanden, schien es ausreichend Fläche zu geben, die urbar gemacht werden konnte.
Einige der Bäume und Pflanzen die am Wegrand standen waren mir unbekannt. Bei anderen dachte ich, dass ich sie schon einmal gesehen hätte. Vielleicht durch Filme, Abbildungen in Büchern oder durch Beschreibungen kamen mir diese bekannt vor. So erkannte ich etwas weiter unten am Wegrand einen kleinen Bambuswald, und das machte alles nur noch unverständlicher, denn wenn es wirklich einer wäre, dann müsste ich ja in Asien sein, dachte ich. Aber wie sollte das möglich sein? Was war denn nur geschehen?
Ohne mir einen Reim auf all das machen zu können, schaute ich mich auf der Suche nach etwas Bekanntem weiter um. Ich hielt Ausschau nach einer Asphaltstraße, modernen Gebäuden oder anderen technischen Bauwerken. Doch die einzigen Gebäude, die ich sah, waren einige kleine Häuser, eher Hütten, am Rande der Felder. Viel weiter flussabwärts war am Talrand eine größere Ortschaft zu sehen. Obwohl es weit weg war, hatte ich doch den Eindruck, dass es auch dort recht einfach aussah.
Ich konnte nichts erkennen, was auf fortschrittliche Zivilisation hindeutete. Der Weg, auf dem ich mich befand, führte an den Feldern entlang bis zu dem größeren Ort. Dort verzweigte er sich in verschiedenen Richtungen. Einer schlängelte sich in vielen Windungen den Hang hinauf in die Berge hinein. Ein weiterer folgte dem Tal weiter flussabwärts, bis man ihn in weiter Ferne aus den Augen verlor. Und dann gab es da noch einen, der zu einer kleinen Anlegestelle führte. Von dort aus schien es eine Art Fährbetrieb zu geben. Der Fluss war an dieser Stelle breiter und floss ruhig und gleichmäßig dahin. Auch die Fähre, eher ein größeres Floß, konnte man sehen. Sie hatte eben das andere Ufer erreicht und man sah einige kleine Punkte, die sich in verschiedene Richtungen von der Fähre entfernten.
Die Sonne wärmte nun mit einer Kraft, die mich langsam ins Schwitzen brachte. Ich zog die Jacke aus und wollte mich gerade auf den Weg ins Tal machen, als ich hinter mir leise Männerstimmen hörte. Daraufhin drehte ich mich um und bemerkte nun erst, wie anders die Gebirgslandschaft hinter mir war. In der Nähe des Flusses waren die Berge noch bis zu den Gipfeln bewaldet, doch dann wurden sie höher und schroffer. Ab einer gewissen Höhe waren sie nur noch mit Sträuchern und anderen niedrigen Pflanzen bewachsen und der graubraune Fels dominierte.
Aber was meinen Blick nun fesselte, waren die beiden Männer, die in diesem Moment hinter der Baumgruppe, die den Blick auf den weiteren Weg versperrte, hervor kamen. Sie unterhielten sich halblaut und ihr Schritt stockte kurz, als sie mich sahen, doch ich hatte nicht den Eindruck, dass sie meine Anwesenheit sonderlich überraschte. Ihre Unterhaltung unterbrechend kamen sie dann mit zielsicheren Schritten auf mich zu.
Die beiden hatten asiatische Gesichtszüge und ihr Kopf war kahlgeschoren. Ein weites, locker sitzendes Obergewand reichte fast bis zu den Knien. Es war aus grobem Leinen, an den Seiten bis in Schritthöhe aufgeschlitzt und wurde von einem Stoffgürtel zusammengehalten. Die ebenfalls lockere Beinbekleidung steckte bis zu den Knien in Strümpfen, die mit kreuzweise umwickelten Bändern gehalten wurden. Die Hosen waren aus dem gleichen Stoff wie das Obergewand und nichts behinderte ihre Träger in ihren Bewegungen. Das leichte, geschmeidige Schuhwerk verlieh ihnen einen fast geräuschlosen Gang und ihre Bewegungen waren weich und gleichmäßig. Man sah sofort: sie waren eins mit der Natur.
Der Jüngere der beiden schien etwa Mitte zwanzig zu sein, war bestimmt nicht größer als einen Meter siebzig und hatte ein rundliches Gesicht. Die flache Nase und die leicht abstehenden Ohren verstärkten die jugendliche Wirkung noch. Kräftige, dunkle Augenbrauen überschatteten die schmalen, aber kaum schräggestellten Augen. In den Mundwinkeln hatte er viele, kleine Falten, die dem Gesicht einen schalkhaften Ausdruck verliehen.
Den zweiten schätzte ich auf etwa fünfzig Jahre, und er wirkte würdevoll, bedächtig, aber dennoch aufgeschlossen anderen gegenüber. Er war nur wenig kleiner als sein jüngerer Begleiter, doch das wurde durch sein hageres Erscheinungsbild wieder aufgehoben. Sein Mund war schmal und die schräggestellten Augen nur schmale Schlitze.
Trittsicher, ohne auf dem unebenen und steinigen Weg einen Stein anzustoßen oder zu straucheln, legten sie die kurze Strecke bis zu mir zurück. Sie stoppten vor mir, verbeugten sich, die rechte Hand im rechten Winkel vor die Brust haltend, und sprachen mich an. Die ganzen Umstände wurden immer unverständlicher für mich, denn dem Klang der Sprache nach konnte es wirklich nur chinesisch, vietnamesisch oder etwas ähnliches sein.
Ich deutete ebenfalls eine leichte Verbeugung an und schaute unsicher zu ihnen auf. Der ältere der beiden stellte, von Gesten begleitet, offenbar eine Frage an mich. Ich hatte den Eindruck, dass es nur wenig anders klang als ihre ersten Worte, vielleicht ein anderer Dialekt war, doch auch das konnte ich nicht verstehen.
Langsam fasste ich mich.
›Entschuldigung, ich habe Sie leider nicht verstanden. Sprechen Sie auch Deutsch oder Englisch?‹
Nach einer kurzen Pause:
›Do you speak English?‹
Keine Antwort, nur ratlose Blicke.
›Wer sind Sie? Wo bin ich hier? Wie bin ich hierhergekommen?‹
Wieder keine Antwort.
›Das gibt’s doch gar nicht, bin ich denn hier im falschen Film? Wieso versteht mich denn keiner? Was ist denn bloß los hier?‹
Wie so oft in letzter Zeit war ich ratlos, unsicher und zu keiner vernünftigen Handlung fähig, doch die beiden schienen das zu spüren. Sie verständigten sich kurz mit einem Blick und forderten mich dann mit Gesten und beruhigenden Worten auf, ihnen zu folgen. Sie zeigten immer wieder auf den Weg, der in die Berge führte, und der ältere der beiden legte sanft seine Hand auf meine Schulter und drückte mich vorsichtig in diese Richtung.
Was wollten sie bloß von mir? Hatten sie mich etwa gesucht? Was war denn nur geschehen, seit ich mir die Schlinge um den Hals gelegt hatte? Die Schlinge, ja, natürlich! Ich fuhr mir mit der Hand an den Hals und tastete nach Spuren des Seiles, doch ich fühlte nichts als glatte Haut.
Mein Handeln muss für sie völlig unverständlich gewesen sein. Aber was sollte es, sie verstanden mich ja anscheinend sowieso nicht und eigentlich war es auch egal, ob ich ins Tal gehen oder ihnen folgen würde. Vielleicht würde sich ja auch alles aufklären, wenn ich ihnen folgte, denn irgendwie schien meine Anwesenheit nicht ganz unvermutet für sie zu sein. Also setzte ich mich zögernd in Bewegung. Erfreut lächelnd liefen sie neben mir her. Bald hatten sie wieder diesen gleichmäßigen, weit ausgreifenden Schritt erreicht, den ich vorher schon bei ihnen bewundert hatte. Am Anfang konnte ich ihnen noch folgen, obwohl ich schon fast in einen Laufschritt verfallen musste, um mitzuhalten, doch später mussten sie ihren Schritt verlangsamen, da ich auf die Dauer dieses Tempo nicht halten konnte.
Der Weg führte in vielen Windungen stetig bergauf bis er einen Bergsattel erreichte. Von da an ging es wieder abwärts und ich konnte Atem schöpfen. Nun hatte ich auch wieder die Kraft, um mich umzuschauen.
Das Gebirge setzte sich in alle Richtungen, nur unterbrochen von Tälern, Bach- und Flussläufen, fort. In höheren Lagen, weiter weg vom Wasser, wurde die Landschaft karger, die Vegetation weniger üppig als in dem Flusstal, aus dem wir kamen. Der Weg schlängelte sich ins nächste Tal hinab und nachdem wir ihm ein Stück gefolgt waren, wurde der Blick auf ein höher gelegenes Seitental frei. Meine beiden Begleiter blieben stehen und deuteten, begleitet von einigen Worten, auf einen bebauten Bereich, der aber leider noch zu weit weg war, um genaueres zu erkennen.
Wir setzten unseren Weg, der nun in das Seitental hinein führte, fort. Nach einiger Zeit erkannte ich, dass es eine Tempel- oder Klosteranlage sein musste, der wir uns nun näherten.
Unser Weg führte an einem Gelände vorbei, das nur mit Pagoden in unterschiedlicher Größe bestanden war. Teilweise nahmen diese nicht einmal zwei Quadratmeter Grundfläche ein, waren aber mehrere Meter hoch. Es gab aber auch welche, die schon fast wie ein mehrstöckiges Haus wirkten. Vom Weg aus gelangte man über eine kleine Treppe auf das höher gelegene Terrain. Gleich am Anfang standen kleine, eher säulenähnliche Gebilde, doch ein paar Schritte weiter folgten einige, die sicherlich fünf oder sechs Meter hoch waren. Die Pagoden waren aus flachen Ziegeln erbaut und hatten immer wieder rundum laufende Simse. Diese wirkten wie kleine Vordächer die nach oben hin in immer kürzeren Abständen eingefügt waren. Doch keine Pagode glich der anderen, die eine hatte nur zwei solche Vordächer und die nächste schon fünf. Bei der einen wurde der Umfang nach jeder dieser Unterbrechungen geringer, bei der nächsten blieb der Umfang bis zum Abschluss gleich. Einige waren quadratisch, andere sechseckig oder rund. Die größten hatten meist kleine Türmchen obendrauf und die kleineren, etwa drei Meter hohen, nur eine kleine Platte als Abschluss der Dachspitze. Es gab Bereiche, in denen nur ein bis zwei Meter Abstand zwischen diesen Pagoden war, aber auch immer wieder freiere Flächen, die mit kleinen Bäumen bestanden waren. Es war ein richtiger Wald aus Pagoden.
Ich war immer langsamer geworden, um das alles in mich aufnehmen zu können, doch meine beiden Führer drängten mich weiter. Nach einer kurzen Strecke erreichten wir das Klostergelände.
Wir betraten den inneren Bereich durch ein mit Schnitzereien und vergoldeten Ornamenten verziertes Tor. Überall waren mir unverständliche Symbole, Schriftzeichen und für ein europäisches Auge seltsam anmutende Figuren angebracht. Die vorherrschenden Farben waren rot und blau, und bei einigen Figuren entstand der Eindruck, dass sie jeden Eintretenden ständig im Blick behielten.
Auf dem Klosterhof, den wir jetzt betraten, waren einige Mönche mit Fegen beschäftigt. Sie schauten auf, bekamen bei meinem Anblick große Augen und begannen miteinander zu tuscheln. So, wie sie sich verhielten, hatten sie sicherlich noch keinen Europäer gesehen.
Wir gingen auf ein großes Gebäude zu, das die Front dieses Platzes dominierte. Eine breite Treppe, die von einem mit Ornamenten verzierten steinernen Geländer begrenzt war, führte auf eine rund um das Gebäude laufende Terrasse. Diese wurde ebenfalls von einem hüfthohen, steinernen Geländer begrenzt. Am Ende der Treppe befand sich ein überdachter Durchgang. Von zwei quadratischen, roten Säulen getragen, überspannte ein mit blauen Dachziegeln gedecktes, schön geschwungenes Dach den Durchgang.
Auf den Ecken thronten, wie am Eingangstor, Wächterfiguren. Rechts vorn war ein grimmig aussehender Krieger mit einem erhobenen Schwert in jeder Hand zu sehen. Auf der dahinterliegenden Ecke war ein Drache mit ausgebreiteten Flügeln und weit vorgestrecktem Kopf angebracht. Die gegenüberliegende Ecke wurde von einer Löwenfigur beherrscht und die linke, vordere Ecke zierte ein weiterer Krieger. Die in einem satten Rot gehaltenen Wände des Tempels wurden direkt hinter dem überdachten Durchgang von einem etwa zwei Meter breiten Eingangsportal unterbrochen. Auf beiden Seiten des Eingangs waren auf kleinen Podesten steinerne Löwen postiert.
In einer Höhe von etwa drei Metern begann das an den Ecken nach oben geschwungene, wiederum mit blauen Dachziegeln gedeckte Unterdach. Auch hier wurden wieder die Ecken von verschiedenen Figuren beherrscht. Nach ungefähr zweieinhalb Metern wurde das Dach wieder von einer etwa eineinhalb Meter hohen Wand unterbrochen. Soweit man das von hier unten beurteilen konnte, waren dort reich verzierte Lichtdurchlässe eingebaut. Vermutlich versorgten sie den großen Innenraum mit einem diffusen Licht. Nun folgte das eigentliche Dach. Auch das war wieder mit blauen Ziegeln gedeckt und auch hier fehlten die Wächter nicht.
Durch die offene Eingangstür des Tempels konnte man den goldenen Schimmer einiger Figuren wahrnehmen. Gerade als ich die besser zu erkennen versuchte, wurden sie von einigen Mönchen, die aus dem Tempel traten, verdeckt.
Alle trugen gelbe, bis auf den Boden fallende Kutten und bis auf den Mönch in der Mitte waren darüber noch rote Überhänge geschlungen. Der Mönch in der Mitte strahlte etwas aus, das mich sofort in seinen Bann zog. Auch auf alle anderen schien das so zu wirken, denn man ließ einen gewissen freien Raum um ihn herum.
Er schien schon ein recht hohes Alter erreicht zu haben, doch seine Bewegungen waren frisch und kraftvoll. In seiner rechten Hand hielt er eine Perlenkette und während er mich freundlich musterte, glitten die Perlen unablässig durch seine Finger.
Meine beiden Begleiter verneigten sich ehrerbietig vor ihm und auch ich senkte grüßend den Kopf. Es war, wie ich damals schon richtig vermutete, der Abt des Klosters. Mit ruhigen, bedächtigen Schritten kamen er und seine Begleiter die Treppe herunter auf uns zu. Mit seiner warmen und beruhigenden Stimme sprach er mich an, doch leider konnte ich, wie bei meinen beiden Führern, kein Wort verstehen.
›Tut mir leid, aber ich spreche Ihre Sprache leider nicht.‹
Er sah mich kurz prüfend an und stellte dann meinen beiden Führern einige Fragen, die sie, immer wieder auf mich deutend, beantworteten. Verstehend nickend schien er kurz zu überlegen, dann sprach er den Mönch zu seiner Rechten an. Der schien mit dem, was der Abt sagte, nicht einverstanden zu sein, denn es folgte ein kurzer Wortwechsel, an dessen Ende sich der kräftig aussehende, jüngere Mönch zwar vor dem Abt verneigte, aber man konnte seiner Haltung und dem Gesichtsausdruck entnehmen, dass er dem, was der Abt gesagt hatte, nicht zustimmte.
Der Abt nickte mir aufmunternd zu und ging, gefolgt von seinen Begleitern, zurück in den Tempel. Nur der Mönch, mit dem der Abt gesprochen hatte, blieb zurück. Missmutig sah er mich an und gab dann meinen beiden Begleitern einige Anweisungen. Sich ehrerbietig vor ihm verneigend forderten sie mich mit Gesten auf, ihnen zu folgen.
Meine Unsicherheit steigerte sich. Ich sah hinauf zu dem Tempel, denn der Abt hatte mir Vertrauen eingeflößt, doch es war nichts mehr von ihm und seinen Begleitern zu sehen. Als der jüngere meiner beiden Führer mich schließlich am Handgelenk fasste und vorsichtig in die gewünschte Richtung zog, folgte ich ihnen immer noch hoffend, dass sich bald alles aufklären würde.
Wir verließen diesen Teil des Klosters und erreichten kurz darauf einen Bereich, der Ähnlichkeit mit einer Kaserne hatte.
Auf dem großen Hof, an dessen Rand wir entlanggingen, führte eine Gruppe von etwa einhundert Männern, in höchster Konzentration, mit synchronen Bewegungen kraftvolle Schlag- und Trittkombinationen aus. Es erinnerte mich sehr an ein Kung Fu-Training, über das ich einmal einen Bericht im Fernsehen gesehen hatte. Ich wäre gerne stehen geblieben, um zuzuschauen, doch meine beiden Begleiter drängten mich weiter. Wir gingen bis zu einigen einstöckigen Gebäuden im hinteren Teil der Klosteranlage. Sie waren in einer barackenähnlichen Bauweise erstellt, und in ihnen befanden sich anscheinend die Unterkünfte der Mönche.
Meine beiden Führer geleiteten mich in eines von ihnen und führten mich einen langen Gang entlang bis zu einer einfachen Zelle. Schon auf dem Weg den Gang entlang, hatte ich durch die offenen Türen in einige Räume sehen können. Die ersten waren größer gewesen und es standen immer mehrere Pritschen in diesen Unterkünften. Am Ende des Ganges waren dann einige kleinere Zellen, in denen nur eine oder zwei Pritschen standen.
In die äußerste dieser Unterkünfte wurde ich geführt. Dort lag auf der einzigen Liege, die sich in diesem Raum befand, ordentlich zusammengelegt, Kleidung wie sie meine Führer trugen. Der ältere der beiden sprach mich wieder an und deutete dabei auf die Kleidung, den Raum, die Pritsche und mich. Seinen Gesten entnahm ich, dass dieser Raum sowie die Kleidung für mich bestimmt war und dass ich mich umziehen sollte. Ich schüttelte den Kopf.
›Entschuldigung, ich möchte nicht hierbleiben! Ich weiß ja nicht einmal genau wo ich bin! Führen Sie mich doch bitte einfach zu einem Telefon, dann kann ich versuchen, das alles aufzuklären.‹
Verständnislos sahen die beiden mich an und zuckten nur bedauernd mit den Schultern. Frust stieg in mir auf.
Warum versteht mich denn bloß keiner? Wie soll ich’s ihnen denn nur erklären?
Ich deutete mit Gesten das Telefonieren an, doch die beiden zuckten wieder nur mit den Schultern.
Instinktiv griff ich in meine Jackentasche und berührte meine Brieftasche. Im ersten Moment atmete ich auf, doch die Freude über diesen Fund ebbte sofort wieder ab. Was sollten mir diese Dinge hier auch nützen, da wir uns ja nicht verständigen konnten, würden sie sicherlich auch nichts mit einem Ausweis oder etwas ähnlichem anfangen können.
Da fiel mir mein Handy ein, ich zog es heraus und wollte wählen, doch es war kein Netz vorhanden. Fieberhaft überlegte ich. Gab es bloß hier keins, in diesem Gebirgstal, oder war generell keins vorhanden? Ich musste in einem fremden Land sein, soviel stand fest. Aber war ich überhaupt noch auf der Erde, in meiner Zeit? Oder war ich vielleicht tot? Aber ein Leben nach dem Tod, sollte das so aussehen? Träumte ich vielleicht nur? Aber dann müsste ich ja langsam mal aufwachen. Alles war so primitiv, so einfach. Auf dem ganzen Weg bis hierher hatte ich keinerlei Spuren von irgendwelcher modernen Technik gesehen.
Irgendwie war alles wie im Mittelalter und als ich wieder zu den beiden hinsah, bemerkte ich, wie sie das Handy in meiner Hand fixierten. So ein Gerät hatten sie mit Sicherheit noch nicht gesehen und als das Licht im Display wieder ausging, fuhren sie erschrocken zurück.
Nachdenklich steckte ich es wieder weg. Ich hatte keine Vorstellung, wie ich mich weiter verhalten sollte. Aus irgendeinem Grund schienen sie mich, nach ihrem Verhalten zu urteilen, erwartet zu haben, aber weshalb? Ratlos sah ich sie an, doch der ältere der beiden bedeutete mir nur wieder, dass ich die Kleidung, die auf der Pritsche lag, anziehen sollte.
Verständnislos schüttelte ich den Kopf und zeigte auf meine Kleidung, um ihnen zu zeigen, dass ich ja nicht unbekleidet war. Sie zuckten nur resignierend mit den Schultern, drehten sich um und ließen mich allein in der Mönchszelle zurück.
Zu keiner vernünftigen Handlung fähig, setzte ich mich auf die Pritsche und begann zu grübeln. War das die Strafe dafür, dass ich Selbstmord begangen hatte? War ich überhaupt tot, oder war das alles nur ein Traum?
Nach einer Weile stand plötzlich der Mönch, mit dem der Abt diskutiert hatte, im Raum. Immer noch oder schon wieder wütend sah er mich an. Er kam auf mich zu und ich sprang erschrocken hoch, denn ich hatte das Gefühl, dass er mich jeden Augenblick packen und durchschütteln würde. Doch er griff nur nach der Kleidung auf der Pritsche und drückte sie mir energisch in die Arme. Dabei schimpfte er die ganze Zeit vor sich hin. Er besah sich meine Hände, betastete meine Oberarme, sah mir ins Gesicht, schüttelte den Kopf und bedeutete mir wieder, dass ich mich umziehen solle. Ich konnte keinen Grund erkennen, warum ich das tun sollte, wollte ihn andererseits aber auch nicht noch mehr verärgern. Mit dankenden Worten legte ich die Kleidung wieder auf die Pritsche, doch er verstand mich ja nicht. Energisch und mit wütendem Gesichtsausdruck drückte er sie mir zum wiederholten Male in die Arme und als ich daraufhin erneut abwehrte, sah er mir kurz in die Augen und verließ mich dann mit einer wegwerfenden Geste.
Ich hatte gehofft, Aufklärung über meine Anwesenheit an diesem Ort zu erhalten, doch irgendwie wurde hier alles nur noch verworrener. Auch die Abneigung, die ich bei diesem Mönch gespürt hatte, machte es noch schwerer, etwas Positives hier zu sehen.
Aus diesen Gründen entschloss ich mich, das Kloster gleich wieder zu verlassen. Der größere Ort am Fluss schien im Augenblick das sinnvollste Ziel zu sein. Vielleicht konnte ich dort Aufklärung erhalten, oder ich fände einen Weg zurück in meine Welt.
Nachdenklich ging ich über den Hof, auf dem die Männer immer noch synchrone Übungen durchführten. Konzentriert, ruhig und gleichmäßig bewegten sie sich wie ein einziger Mann. Auch meine beiden Führer hatten sich eingereiht und nichts deutete darauf hin, dass sie oder die anderen mich bemerkten.
Ohne aufgehalten zu werden erreichte ich das Eingangstor. Die wenigen, die mich gesehen hatten, schauten mir verwundert nach, doch es schien keinen weiter zu interessieren, was ich tat. Langsam ging ich unter der brennenden Sonne den Weg hinauf zum Bergkamm. Dort drehte ich mich um und schaute zurück.
Weit hinter mir, sodass man gerade noch erkennen konnte was es war, sah ich drei Gestalten auf dem Weg hinter mir herkommen. Ich hatte nicht den Eindruck, dass sie sich besonders beeilen würden um mich noch einzuholen, und im gleichen, ruhigen Tempo wie bisher setzte ich meinen Weg fort. Bald hatte ich auch die Stelle erreicht, an der ich wieder zu mir gekommen war. Nachdem ich mich einen Augenblick umgeschaut hatte, ging ich weiter in Richtung Fluss.
Die Sonne hatte nun schon fast ihren höchsten Punkt erreicht und die feuchtwarme Luft machte mir langsam zu schaffen. Ich schätzte, dass es bestimmt schon um die dreißig Grad warm war und es herrschte eine hohe Luftfeuchtigkeit, als wenn es eben stark geregnet hätte und die Sonne nun das Wasser wieder aufsaugte.
Als ich das Flusstal erreichte, folgte ich dem Weg, der parallel dazu flussabwärts verlief. Hier begegneten mir jetzt mehr Menschen, aber keiner konnte mich verstehen, wenn ich eine Frage an sie richtete. Sie waren fast alle barfuß, im Höchstfall trugen sie leichte, dünnsohlige Sandalen. Die Hosen gingen nur wenig über die Knie herab und ein leichtes, weitgeschnittenes Obergewand sowie ein Hut aus Reisstroh vervollständigte bei den meisten die Kleidung.
Verwundert sahen sie mich an, wenn ich sie ansprach oder an ihnen vorbeiging. Bald war ich mir ganz sicher, dass sie noch nie einen Europäer gesehen hatten. Ich war dem größeren Ort schon sehr nahe gekommen, als mir ein Reiter in vollem Galopp entgegenkam.
Mit einem Satz in die Büsche musste ich mich in Sicherheit bringen, damit er mich nicht umritt. Ich hatte beim Sprung noch sein Gesicht gesehen, war mir aber sicher, dass ich wenigstens genauso verblüfft dreingeschaut hatte wie er.
Der Anblick dieses Reiters bestätigte einmal mehr meine Vermutung, dass ich mich in einer anderen Zeit befand. Er war gekleidet und gerüstet wie einer dieser Krieger, die ich einmal in einer Terrakotta-Ausstellung gesehen hatte.
Ich schaute hoch und konnte sehen, dass der Reiter sein Pferd herumgerissen hatte. Es tänzelte und bäumte sich auf, während er zu mir herunterschaute. Doch bald drehte er sich um, blickte in die Richtung, aus der ich gekommen war und anscheinend war ihm wichtiger, was er dort sah, denn er setzte seinen eiligen Ritt fort. Als ich seinem Blick folgte, sah ich, dass die drei Wanderer, die ich schon vom Bergkamm aus gesehen hatte, mir mittlerweile sehr viel näher gekommen waren. Ich konnte die Gesichter noch nicht erkennen, aber einer der drei hatte diese Mönchskleidung an, die ich schon bei dem Abt im Kloster gesehen hatte.
Der Krieger unterbrach seinen Ritt bei den drei Wanderern, stieg ab und verbeugte sich mehrfach vor dem Mönch. Dann überreichte er ihm etwas und versuchte anschließend sein Pferd zu beruhigen. Es schien ein Schriftstück zu sein, denn der Mönch begutachtete es ausgiebig und gab es dem Krieger dann zurück. Anschließend sprach der Mönch kurz mit einem seiner Begleiter und der schickte sich an, gemeinsam mit dem Reiter aufs Pferd zu steigen und den Ritt fortzusetzen. In meine Richtung deutend, sagte der Reiter noch etwas zu dem Mönch, doch dieser machte nur eine abwehrende Handbewegung und setzte mit dem verbliebenen Begleiter seinen Weg fort.
Nun wurde mir das Ganze doch unheimlich. Folgten mir diese Leute etwa und wenn ja, was wollten sie von mir? Und wieso ritt hier eigentlich einer herum, der gerade einem Filmset entstiegen zu sein schien? Es wurde immer dubioser.
In der Zwischenzeit hatte ich mich aus der Umklammerung der Büsche befreit und strebte nachdenklich weiter meinem Ziel entgegen. Automatisch hatte ich meinen Schritt beschleunigt, um den Wanderern hinter mir zu entgehen. Doch es hatte keinen Zweck, die Entfernung zwischen mir und ihnen wurde trotz all meiner Bemühungen immer kleiner. Das Hemd klebte mir inzwischen klatschnass vor Schweiß am Körper und mein Schritt verlangsamte sich wieder. Dem größeren Ort war ich nun schon so nahe gekommen, dass ich erkennen konnte, dass auch hier nichts von moderner Technik, die mir vertraut erschien, zu sehen war. Resignierend hielt ich bei einem Baum an, der mit seiner großen Krone Schatten spendete, und ließ mich an seinem Stamm nieder.
Es dauerte nicht lange bis der Mönch und sein Begleiter mich erreichten. Nun erkannte ich, dass es der Abt und der jüngere meiner beiden Führer von heute Morgen waren. Ich wollte mich erheben, um sie zu begrüßen, denn in ihrer Gegenwart hatte man das Gefühl willkommen und geachtet zu sein, doch der Abt bedeutete mir, sitzen zu bleiben. Dann nahm er mir gegenüber Platz und schaute mir tief in die Augen.

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