Dao

Kapitel 14 – Die Gesandtschaft

Abschnitt 2

In Ruhe begann ich mit den Reisevorbereitungen. Ich suchte alles zusammen, was ich mitnehmen wollte. Es war nicht viel, da ich ja keinerlei Besitz hier im Kloster hatte. Die Kleidung und alle weiteren Dinge, die ich für die Reise benötigte, stellte mir das Kloster zur Verfügung, doch bei diesen Arbeiten fiel mir ein, dass ich immer noch einige Dinge aus meinem alten Leben hatte. Ich holte das sorgsam verschnürte Bündel unter meiner Pritsche hervor und öffnete es. In einer alten Decke eingeschnürt befand sich die Kleidung, das Handy, die Uhr und meine Brieftasche, mit der ich hier angekommen war. Nachdenklich nahm ich eins nach dem anderen in meine Hände.
Bisher hatte Han Liang Tian jedes Mal, wenn ich das Kloster verlassen hatte, dieses Bündel verwahrt, doch diesmal wollte ich für immer von hier fortgehen und brauchen würde ich diese Dinge sicherlich auch nicht mehr. Egal, was mich hierher verschlagen hatte, es würde mich vermutlich nicht wieder von hier wegbringen. Ich war hier gestrandet und hatte das Leben in dieser Umgebung mittlerweile akzeptiert und auch liebgewonnen. Warum sollte ich mich also mit diesen Dingen weiter belasten?
Nachdem ich zu diesem Schluss gekommen war, stahl ich mich unbemerkt mit diesen Gegenständen aus dem Kloster. Ich wanderte in die Berge hinein und suchte eine möglichst abgelegene Stelle aus, dort machte ich ein kleines Feuer und verbrannte die Kleidung, Papiere und Brieftasche. Die Asche verstreute ich in einem größeren Umkreis, dann nahm ich das Handy und die Uhr. Mit Steinen zerschlug ich beides so gut es ging. Die Reste packte ich in einen Stofffetzen, den ich für diesen Zweck aufgehoben hatte und dann begab ich mich zum Latrinengraben. Dort versenkte ich alles und war mir relativ sicher, dass hier niemand diese Dinge finden würde.
Mit dieser Aktion hatte ich mich nun restlos von meiner Vergangenheit verabschiedet. Ich fühlte mich wohl in dem neuen Leben, das ich nun gefunden hatte und versuchte, die Erinnerungen an das alte zu verdrängen, doch es war, als ob ich sie nur in eine der hintersten Schubladen verbannt hatte. Sobald ich an bestimmte Ereignisse dachte, konnte ich diese bildhaft aufrufen. Derartiges war mir früher niemals gelungen und ich war nicht wenig erstaunt, als ich das erste Mal damit konfrontiert wurde.
Ich verabschiedete mich von Lei Cheng. Wir waren, um uns ungestört unterhalten zu können, zu dem Wasserbecken gegangen, in dem ich ihm das Schwimmen beigebracht hatte.
›Musst du wirklich fortgehen, Xu Shen Po?‹
›Ja, Lei Cheng! Ich störe nur das Klosterleben, da ich von einigen hier nicht gerne gesehen werde. Es ist besser für mich und für euch, wenn ich nicht mehr hier bin.‹
›Woher willst du das wissen? Vielleicht ist es auch besser, wenn du da bist und durch dich einiges in Bewegung gesetzt wird.‹
Nachdenklich schaute ich in seine Augen. ›Ich weiß es nicht genau, doch ich denke, dass es besser ist und ich fühle mich auch nicht wohl, wenn ich ständig für Unfrieden sorge.‹
Lei Cheng sah mich fragend an.
›Ich kann es dir nicht besser erklären, Lei Cheng! Vielleicht spielt es auch eine Rolle, dass ich dort, wo ich hingehen möchte, willkommen sein werde. Dort wurde ich von allen immer so akzeptiert, wie ich bin und keiner hat mich schief angesehen. Es ist eben einfach ein schönes Gefühl, wenn man weiß, dass man dazugehört.‹
›Wird es auch noch so sein, wenn du nicht mehr nur der Gast bist? Wenn du auf einmal ständig dazugehören willst?‹
Daran hatte ich noch gar nicht gedacht. Er hatte etwas angesprochen, das mich wieder sehr nachdenklich machte. Es ist schon erstaunlich, wir – ach, so klugen – Erwachsenen denken oft nicht an das Wesentliche und verstricken uns in Wünschen und Hoffnungen.
Die Zweifel, die Lei Cheng in mir geweckt hatte, begannen an meinem Selbstbewusstsein zu nagen und ich fiel in ein tiefes Loch. Erinnerungen an ähnliche Situationen wurden in mir wach und auch Ereignisse aus der Zeit vor meinem Selbstmordversuch kamen wieder hoch. Traurig schloss ich die Augen. War ich nicht vielleicht doch schon immer zu selbstsicher gewesen? Was für ein Ziel, was für eine Aufgabe hätte ich dort? Würde ich nicht vielleicht nur als Schmarotzer unter ihnen leben?
Wieder dachte ich an mein altes Leben und die Aufgabe, die ich dort gehabt hatte. Ja, dort hatte mein Dasein einen Sinn gehabt. Ich hatte Nutzen für mich und andere erwirtschaftet, doch wie war das hier? Die Antwort, die mir Wang Lee einmal auf eine ähnliche Frage gegeben hatte, fiel mir wieder ein:
›Es war so vorbestimmt und es ist dein Weg, den du gehen musst. Hadere nicht mit deinem Schicksal, denn ich denke, dass es einem besonderen Zweck dient. Du magst ihn jetzt noch nicht erkennen und vielleicht wird er dir im Augenblick des Geschehens auch nicht gleich auffallen, doch ohne dich kann es nicht stattfinden.‹
Erstaunt dachte ich über das eben Erlebte nach. Es war richtig plastisch gewesen. Alle Erinnerungen, die ich jetzt hervorgerufen hatte, waren detailreich und wie in einem Film vor meinem inneren Auge abgelaufen. Ich konnte mich an jede Einzelheit genau erinnern, hatte jedes Gefühl noch einmal gehabt. Es war gewesen, als wäre es noch einmal geschehen.
Lei Cheng riss mich aus diesen Gedanken. ›Was ist mit dir? Du sahst erst so traurig und jetzt so verblüfft aus. Ist etwas nicht in Ordnung?‹
›Nein, nein. Ich habe bloß gerade alte Erinnerungen hervorgeholt und war überrascht, wie gut ich mich an alles erinnern konnte. Selbst Dinge, die ich damals nicht so sehr wahrgenommen hatte, konnte ich jetzt miterleben.‹
Lei Cheng sah mich erstaunt an. ›Das kommt von der vielen Meditation und dem körperlich- geistigen Training, das du hier durchführst. Das schult deinen Geist und dein Erinnerungsvermögen. Das weiß doch sogar ich schon. Hat dir das denn noch niemand erzählt?‹
›Doch, doch. Ich hatte es bloß nicht so intensiv erwartet.‹
Ich sagte das, um Lei Cheng zu beruhigen und das Thema nicht weiter auszuführen, doch überzeugt war ich nicht von dieser Erklärung. Han Liang Tian hatte mir zwar erzählt, dass das Gedächtnis durch die Meditation mitgeschult würde, doch was ich eben erlebt hatte, ging über so etwas hinaus. Ich hatte eine Erinnerung hervorgerufen und das damalige Geschehen plastisch, mit allen Details, auch denen, die mir damals nicht so aufgefallen waren, erlebt. Es war unglaublich gewesen, ich hatte an das Gespräch mit Wang Lee gedacht und vor meinem inneren Auge war alles noch einmal abgelaufen. Ich hatte im kleinen Tempel gesessen und war nicht so recht zur Ruhe gekommen. Wang Lee hatte ihn betreten und mit ihm war eine kleine Fliege hereingekommen. Sie hatte sich dann immer wieder auf meine Hand gesetzt und obwohl ich sie ebenso oft verscheuchte, hatte sie erst davon abgelassen, als wir den Tempel verließen. Dieses Detail hatte ich in dem Moment als unwichtig empfunden und sofort wieder vergessen. Doch mein Unterbewusstsein hatte es gespeichert und als ich die Erinnerung jetzt wieder hervorgerufen hatte, war es mir, durch den Abstand, den ich nun zu diesem Ereignis hatte, aufgefallen.
Da ich mit Lei Cheng nicht weiter darüber diskutieren wollte, nahm ich mir vor, zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal Ähnliches zu versuchen.
Diese Erfahrung hatte mich wieder ein wenig von meinen trübsinnigen Gedanken abgelenkt und so konnte ich mich noch recht gut eine Weile mit Lei Cheng unterhalten. Als wir dann zurück zum Kloster gingen bat ich ihn, schon mal allein hineinzugehen, da ich noch einmal bei dem kleinen Baum vorbeischauen wollte. Lei Cheng verstand, dass ich noch ein wenig allein sein wollte und verließ mich.
Als ich den kleinen Baum erreicht hatte, begrüßte ich ihn liebevoll und hatte auch wieder das Gefühl, dass er sich über mein Kommen freute. Ich sprach mit ihm wie mit einem Freund, und spürte die Trauer über mein Fortgehen in ihm. Doch er schien mich zu verstehen und bedankte sich für die schöne Zeit mit mir.
Wieder einmal schüttelte ich den Kopf. Ich sprach wirklich mit einer Pflanze wie mit einem Menschen und hatte auch noch das Gefühl dabei, dass diese mich verstand und antwortete. Das war vielleicht der beste Augenblick, um das mit den Erinnerungen noch einmal zu versuchen und ich konzentrierte mich auf die ersten Male, die ich bei dem kleinen Bäumchen gesessen und mich krampfhaft darum bemüht hatte, Kontakt mit ihm aufzunehmen.
Wieder gelang es mir ohne große Schwierigkeit, diese Erinnerungen hervorzurufen und wieder erlebte ich es plastisch, mit allen Details, noch einmal. Es war schon erstaunlich, doch ich konnte anscheinend jede beliebige Erinnerung auf diese Art wieder hervorrufen. Selbst Dinge, die ich schon längst vergessen glaubte, tauchten wieder auf.
Sehr nachdenklich geworden, verließ ich Stunden später den Ort und ging zurück ins Kloster. Keiner hatte mich vermisst. Da alle wussten, dass ich nun bald gehen würde und mich nun, so nach und nach, von jedem verabschiedete, war auch niemand auf die Idee gekommen, nach mir zu suchen.
Als ich Wang Lee dann traf, erzählte er mir, dass die japanische Gesandtschaft am nächsten Morgen aufbrechen würde und es anscheinend aufgegeben hatte, näheres über die Kampfkünste der Shaolin herauszufinden.
›Dann brechen sie ja noch vor mir auf. Ich wollte erst übermorgen gehen und das vereinfacht natürlich meinen Abschied.‹
›Wieso denn das? Was haben die denn damit zu tun?‹
›Naja, ich habe seit dem Zwischenfall, der Mao Lu Pengs Unmut so sehr erregt hatte, jede Begegnung mit ihnen vermieden und da sie sich immer öfter in Hu Kangs Nähe aufhalten, noch keine Gelegenheit gefunden, mich von ihm zu verabschieden.‹
›Ja, das stimmt, von Hu Kang musst du dich unbedingt verabschieden. Er hat dich vom ersten Tag an gemocht, und als du ihm damals mitgeholfen hast, sich von seiner Verwundung zu erholen, ist dieses Band noch stärker geworden.‹
›Ja, damals war ich sehr leichtsinnig und hatte viel Glück, dass es nicht schiefging!‹
›Ich weiß nicht, ob das mit Glück oder ähnlichem zu tun hatte. Ich denke, du hast schon damals unbewusst deine große innere Begabung genutzt. Doch das ist jetzt auch egal, ich denke auf jeden Fall, dass sich Hu Kang sehr freuen wird, wenn er morgen mehr Zeit für dich hat, um sich in Ruhe von dir verabschieden zu können.‹
›Geht mir auch so. Ich hätte es auch sehr bedauert, wenn ich nicht mehr die Gelegenheit dazu gefunden hätte.‹
Der nächste Morgen kam, und Wang Lee und ich beobachteten aus sicherer Entfernung den Aufbruch der Japaner. Wir wollten ihnen nicht noch einmal begegnen, da sie sich dann vielleicht an unser Zusammentreffen erinnert und Mao Lu Peng am Ende doch noch auf die richtige Fährte gebracht hätten. Ich war froh, dass er den Vorgang anscheinend vergessen und Wang Lee keinen Ärger deswegen bekommen hatte. Nach Möglichkeit wollte ich auch Mao Lu Peng nicht mehr begegnen und glücklicherweise gelang mir das auch.
Wie sie gekommen waren, verließen die Japaner das Kloster auch wieder. Der Daimyo und der hochrangige Samurai saßen zu Pferd und der Rest marschierte in geordneten Reihen vor und hinter ihnen. Wieder hinterließen sie einen sehr kriegerischen Eindruck und ich dachte: So wie die auftreten, macht jeder einen großen Bogen um sie.
Als sie zum Klostertor hinausmarschiert waren, gingen wir zum Haupttempel. Ich wollte am letzten Tag, den ich im Shaolin-Kloster verbrachte, noch einmal den gewohnten Tagesablauf durchlaufen. Vorm Tempel trafen wir die anderen und wollten schon wie gewohnt zum Tai Chi Aufstellung nehmen, als Liu Shi Meng noch zu uns stieß. Er war von draußen gekommen und fragte:
›Warum nehmen die denn den Weg in Richtung Dengfeng? Ich dachte, die wollen zum Meer und dann mit ihrem Schiff zurück in ihre Heimat?‹
Erstaunt sahen wir von Liu Shi Meng zu Hu Kang, da wir von dem am ehesten eine Antwort erwarteten. Doch dieser zuckte nur mit den Schultern.
›Ich weiß es auch nicht. Ich hatte ihnen einen Führer angeboten, doch der Gesandte sagte, sie hätten schon einen, der sich hervorragend im Land auskenne.‹
›Schon ein bisschen seltsam. Wenn sie einen so guten Führer haben, warum führt der sie dann die beschwerlichere Strecke durch die Berge und nicht unten am Fluss entlang?‹, warf Wang Lee nachdenklich ein.
›Ich weiß es doch auch nicht, Wang Lee! Sie haben nicht mit mir darüber gesprochen. Außerdem ist Mao Lu Peng in letzter Zeit öfter bei ihnen gewesen. Vielleicht hat der noch ein Treffen mit seinem Vater, dem Gouverneur, arrangiert. Könnte ja sein, dass die das nicht in Zhengzhou abhalten wollen und sich deswegen irgendwo anders, vielleicht sogar in Dengfeng, treffen.‹
Nachdenklich schaute Wang Lee, als erwarte er dort eine Antwort zu finden, zum Klostertor. Dann zuckte er mit den Schultern.
›Egal, das geht uns doch sowieso nichts an. Wer weiß, was denen im Kopf rumschwirrt. Und mit ihren Intrigen will ich auch nichts weiter zu tun haben. Kommt, lasst uns endlich anfangen und nicht weiter über solche Sachen nachdenken.‹
Alle waren der gleichen Meinung, und auch ich fand es nicht ausgeschlossen, dass Hu Kang mit seiner Vermutung richtig lag. Mao Lu Peng hatte schon immer gerne intrigiert und seitdem er längere Zeit am Kaiserhof gewesen war, schien ihm das noch mehr zu gefallen.
Der restliche Tag verlief wieder im gleichen Trott, wie vor der Ankunft der Gesandtschaft. Nur zu Mittag, als ich mir mein Essen holte, wurde ich aus dem gewohnten Tagesablauf herausgerissen. Der Koch hatte mich schon erwartet und bat mich, einen Augenblick länger zu bleiben, bis er die anderen abgefertigt hatte. Als die meisten ihre Mahlzeit abgeholt hatten, rief er einen seiner Gehilfen heran, damit dieser weitermachte und ging mit mir einige Schritte zur Seite.
›Du willst uns also wirklich für immer verlassen?‹
›Ja, ich denke, es ist am besten so.‹
›Wieso glaubst du das bloß? Du gehörst doch mittlerweile zum Kloster wie jeder andere, und nur weil es einen gibt, der mit dir nicht klarkommen will, musst du doch nicht flüchten.‹
›Das ist keine Flucht!‹, sagte ich bestimmt, doch im Innersten dachte ich, dass er vielleicht gar nicht mal so falsch lag. ›Ich möchte bloß nicht ständig für Ärger verantwortlich sein und Hu Kang noch mehr Sorgen machen, als er schon hat. Außerdem bin ich auch kein Mönch und gehöre deshalb auch nicht ständig hierher. Ich war lange Gast bei euch und bin euch sehr dankbar für alles, was ihr für mich getan habt, doch nun muss ich langsam einen Weg finden, wo ich nicht ständig von anderen, von euch, abhängig bin.‹
›Ich merk schon, es hat keinen Zweck, dich vom Gegenteil zu überzeugen.‹ Anscheinend hatte er wirklich gehofft, mich noch umstimmen zu können, denn es klang ehrlich enttäuscht.
›Aber du wolltest doch nicht etwa ohne Reiseproviant aufbrechen?‹ Fragend schaute er mich an.
›Nein, natürlich nicht. Ich hatte eigentlich vorgehabt, dich jetzt darum zu bitten, doch nun bist du mir zuvorgekommen.‹
›Das hätte ich dir auch geraten!‹, sagte er lachend und hob drohend den Finger. ›Also, heute Abend kannst du dir die Wegzehrung abholen.‹
›Danke! Also, bis später.‹ Zum Gruß die Hand hebend, ging ich davon.
Ich wollte das Kloster verlassen, um noch eine Weile bei dem kleinen Baum zu meditieren, als mir Wang Lee über den Weg lief.
›Xu Shen Po! Schön, dass ich dich treffe. Hu Kang hat mich gerade gebeten, dir auszurichten, dass er heute Abend gerne noch einmal mit dir sprechen möchte. Wenn es dir recht ist, sollst du nach der Abendandacht in sein Quartier kommen.‹
›Sehr gut, ich wollte auch noch mit ihm sprechen und wusste nur nicht, wann es am besten passt. Auch von dir, Chen Shi Mal und Liu Shi Meng wollte ich mich gerne noch richtig verabschieden. Ist es euch recht, wenn wir uns nach dem Gespräch mit Hu Kang noch mal sehen?‹
›Wir hatten eigentlich was anderes vor. Da du die Strecke über Dengfeng gewählt hast, wollten wir drei dich bis dorthin begleiten. Es ist nicht sehr weit und wir könnten am selben Tag wieder zurückkehren.‹
Fragend schaute er mir in die Augen. ›Wäre dir das recht?‹
›Warum sollte mir das nicht recht sein? Ihr drei seid mir am meisten ans Herz gewachsen und es fällt mir sowieso schwer, euch zu verlassen! Also, wenn ich euch noch länger um mich habe, kann ich mich doch nur glücklich schätzen.‹
›Gut, die beiden werden sich freuen, wenn sie das hören‹, sagte er fröhlich. ›Ich muss jetzt zu meinen Schülern, vergiss Hu Kang heute Abend nicht.‹
Ich versprach es Wang Lee und ging zu meinem ursprünglichen Ziel. Dort brauchte ich erst einmal ein Stück, bevor ich wieder zur Ruhe kam. Als es mir schließlich gelang, ließ ich die Jahre, die ich im Shaolin-Kloster zugebracht hatte, noch einmal im Gedächtnis ablaufen. Dabei wurde mir so richtig bewusst, wie sehr ich mich doch verändert hatte. Nicht nur mein Körper, der durch das ständige Training gestählt und gesund war, wie nie zuvor, auch mein Geist, mein Denken hatte sich sehr verändert. Ich war viel ruhiger, gelassener und ausgeglichener geworden. Der Blick für viele Dinge hatte sich verändert. Vieles, was ich in meinem alten Leben gemacht und gedacht hatte, würde mir heute nicht mehr in den Sinn kommen. Schade, dass es nur wenigen vergönnt sein würde, diese Erfahrungen zu machen. Vielen würde es gut tun, und sehr viele könnten vielleicht von ihren seelischen Krankheiten geheilt werden. Doch wenn ich mir die Entwicklung der Menschen ins Gedächtnis rief, dann war offensichtlich, dass sich die Menschheit immer weiter von diesen Erkenntnissen entfernte. Eine große Kraft, eine wertvolle Gabe, war uns allen in die Wiege gelegt worden, doch durch das Streben nach Fortschritt, Macht und Reichtum entfernten wir uns immer weiter von diesen Erkenntnissen.
Schneller als mir lieb war, kam die Zeit der Abendandacht. Der Abschied von geliebten Dingen fiel mir schwerer als ich gedacht hatte! Widerwillig erhob ich mich und ging zurück ins Kloster. Ich kam gerade zur rechten Zeit an, denn ich traf Hu Kang auf dem Weg zu seinem Quartier. Gemeinsam gingen wir die kurze Strecke bis dorthin und ich bemerkte, dass die Last des Amtes ihm ganz schön zu schaffen machte. Er ging leicht gebeugt, als würden ihn die Sorgen nach unten drücken und ich hatte den Eindruck, dass er schon bereute, die Wahl angenommen zu haben.
Als wir das Quartier des Abtes erreichten, überflog ich mit einem kurzen Blick den gesamten Raum. Es hatte sich nicht sehr viel verändert. Hu Kang hatte das meiste so gelassen, wie er es von Han Liang Tian übernommen hatte. Nur auf einem kleinen Schränkchen neben seiner Pritsche lagen einige persönliche Gegenstände, die ich nicht von Han Liang Tian her kannte.
Hu Kang bat mich Platz zu nehmen und ließ sich dann mir gegenüber nieder.
›Es ist schade, dass du uns verlässt. Ich weiß, dass ich nicht viel getan habe, um dich umzustimmen und du wirst sicherlich denken, dass es mir ganz recht ist, wenn du nicht mehr da bist.‹
Ich wollte widersprechen, doch er ließ mich nicht zu Wort kommen.
›Lass gut sein, ich an deiner Stelle hätte jedenfalls solche Gedanken gehabt und so ganz aus der Luft gegriffen sind sie ja auch nicht. Ich muss gestehen, dass es mir eine Sorge abnimmt und dass ich deswegen im ersten Augenblick recht froh über deine Entscheidung war. Nach einigem Nachdenken habe ich mich aber dafür geschämt und hätte am liebsten versucht, dich wieder umzustimmen. Aber als ich mich mit Wang Lee darüber unterhalten habe und er mir sagte, dass dein Entschluss feststeht, hab ich’s dann doch sein lassen.‹
Bisher hatte er verlegen auf seine Hände geschaut, nun schaute er hoch und mir in die Augen.
›Ich hoffe, du bist mir nicht böse und denkst nicht gar so schlecht über mich. Ich bin leider nicht so eine große Persönlichkeit wie Han Liang Tian es war, und mittlerweile wäre es mir lieber, wenn ich nicht der Abt dieses Klosters geworden wäre.‹
›Hu Kang, du bist einer meiner besten Freunde hier. Vom ersten Tag an hast du mir Vertrauen eingeflößt und mir das Gefühl gegeben, eine neue Heimat gefunden zu haben. Dass dich die Sorgen und Nöte dieses Amtes fast erdrücken, weiß ich und ich nehme dir gerne diese eine ab. Es ist jedoch nicht so, dass ich das nur deswegen tue. Durch diesen ständigen Widerstreit mit Mao Lu Peng fühle mich selbst nicht mehr wohl hier, und deshalb habe ich den Entschluss gefasst, das Kloster zu verlassen. Es ist mir zurzeit einfach unmöglich Ruhe zu finden, wenn ich ständig für Konflikte sorge, unter denen dann oft auch noch andere zu leiden haben. Also mach dir weiter keine Sorgen. Es ist mein eigener Entschluss und auch du hättest mich nicht umstimmen können.‹
Ich sah wie bei diesen Worten die Spannung von ihm abfiel und mit ruhigerer Stimme antwortete er:
›Ich bin froh, dass es so ist! Ich konnte schon nicht mehr ruhig schlafen, weil ich ein schlechtes Gewissen hatte. Du hast mir das Leben gerettet und ich vertreibe dich von hier. Dieser Gedanke war mir unerträglich.‹
›Nun ist es aber gut! Wie kommst du denn auf so eine Idee? Zum einen hab ich dir nicht das Leben gerettet, sondern im Gegenteil, ich habe mit meiner unbedachten Handlung damals den Erfolg beinahe in Gefahr gebracht. Und zum anderen, der einzige, der mich von hier vertreibt, ist Mao Lu Peng und das auch nicht direkt, sondern nur, weil dieses Verhältnis das ganze Klosterleben stört.‹
Ruhig hatte er mich zu Ende reden lassen, doch nun widersprach er mir.
›Auch wenn du es immer noch nicht wahrhaben willst, du hast mir damals das Leben gerettet. Han Liang Tian hat mir später einmal erzählt, dass sie ohne deine Hilfe nicht genügend Kraft gehabt hätten, um mich zu retten. Du hast im richtigen Moment das, was noch gefehlt hat, beigetragen und ich kann dir gar nicht genug dafür danken.‹
›Du brauchst mir nicht zu danken, ich habe es gerne getan und wenn es denn wirklich so war, dann bin ich froh, dass ich es getan habe. Dem Kloster würde etwas fehlen, wenn du nicht mehr da wärst. Doch nun lassen wir diese Geschichte ruhen. Ich möchte lieber über andere Dinge mit dir sprechen.‹
›Und was liegt dir auf dem Herzen?‹
›Hat dir Han Liang Tian jemals mehr von seinem Traum erzählt?‹
Hu Kang sah mich verständnislos an und ich beeilte mich hinzuzufügen:
›Ich meine den Auftrag, mich zu unterrichten, den er bekommen hat.‹
›Ach so, jetzt weiß ich erst, was du meinst.‹ Sein Gesicht hellte sich wieder auf. ›Nur wenig, und das auch erst in den letzten Wochen und Monaten. Was möchtest du denn wissen?‹
›Naja, er hat zwar immer davon gesprochen, dass er mich unterrichten sollte und als ich ihn das letzte Mal gesprochen habe, hat er dann gesagt, dass seiner Meinung nach meine Ausbildung abgeschlossen sei und nun frage ich mich, warum ich das alles lernen sollte. Ich wüsste eben gerne, ob er in seinem Traum auch erfahren hat, was weiter mit mir geschehen soll.‹
›Nein ich glaube nicht, dass er das erfahren hat. Jedenfalls hat er niemals derartiges erwähnt. Ich denke auch nicht, dass ich jemals mehr über diesen Traum erfahren habe als du.‹
Wieder keine Antworten! Die kleine Hoffnung, doch mehr zu erfahren, war zunichte und obwohl ich es geahnt hatte, drückte es auf mein Gemüt.
Noch lange sprach ich mit Hu Kang darüber, doch zu einem befriedigenden Ergebnis für mich kamen wir nicht. Erst spät, im Kloster war es schon still geworden, verließ ich Hu Kang und ging zum letzten Mal im Shaolin-Kloster zur Ruhe.

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