Dao

Kapitel 11 – Veränderungen

Abschnitt 2

Drei Tage später traf mich Wang mit offenen Augen an. Als er das schon aus einiger Entfernung wahrnahm, beschleunigte er seine Schritte erfreut und rief:
›He, Gü Man. Geht’s dir wieder besser? Ist alles in Ordnung?‹
Ich zog den Kopf ein. Es klang furchtbar laut für mich, oder mein Gehör war auf einmal übersensibel. Doch vielleicht musste ich mich auch erst wieder auf all die Geräusche einstellen.
›Gut siehst du aus! Keiner würde vermuten, dass du schon so lange hier sitzt, ohne dich zu bewegen.‹
Anscheinend waren die Veränderungen auch äußerlich zu sehen.
›Ja, ich fühl mich auch wie neugeboren.‹
Wang Lee starrte mich entgeistert an.
›Was ist? Warum gaffst du so?‹
›Deine … deine Zähne! Es sind alle wieder da und sie leuchten weißer als zuvor.‹
Ach ja, er konnte das ja nicht wissen.
›Ja, alle sind wieder da. Sie sind wieder nachgewachsen.‹
›Aber wie ist das möglich? Wie hast du das gemacht?‹
›Ich gar nicht! Mein Körper hat es gemacht. Er hatte schon damit begonnen, bevor ich mich hier in Meditation versenkt hatte. Ich habe es bloß nicht bemerkt. Erst als ich in meinen Körper hineingehorcht habe, ist es mir aufgefallen.‹
›Aber wie, wieso, warum?‹
›Ich weiß es nicht. Es spielt für mich im Augenblick auch keine Rolle. Ich bin froh, dass es so ist und bin meinem Körper dankbar dafür.‹
Ich streckte meine Hand aus und sagte:
›Hilf mir hoch und lass uns ins Kloster – oder vielleicht besser erst mal zum Wasser gehen. Auf dem Weg dorthin können wir uns ja weiter darüber unterhalten.‹
Wang Lee griff meine Hand und zog mich hoch. Es knackte wieder leicht in den Gelenken, doch erstaunlicherweise fiel es mir nach dieser langen Zeit nicht schwerer als im Winter. Nur die Augen musste ich leicht zukneifen. Sie schienen jetzt ebenfalls weitaus empfindlicher zu sein. Schon als ich sie geöffnet hatte, hatte ich dieses Gefühl gehabt. Nachdem ich eine Weile gebraucht hatte, um mich wieder an das helle Licht zu gewöhnen, kam es mir so vor, als ob ich nun viel besser sehen würde als vorher. So hatte ich Wang Lee kommen sehen und war erstaunt, wie lange es dauerte, bis er bei mir ankam. Ich nahm Konturen und Gegenstände in größerer Entfernung wahr, die ich vorher nicht hätte zuordnen können. Die Farben schienen kräftiger zu sein und kleine Details sah ich fast, als ob ich durch ein Vergrößerungsglas schauen würde.
Vorsichtig machte ich die ersten Schritte und wieder kam es mir sehr unbeholfen vor. Das lange Verharren in dieser Position machte die Gelenke steif, und dagegen half auch keine Regeneration. Doch nachdem wir ein Stück gelaufen waren, wurde es immer besser, und langsam kehrte mein federnder Gang zurück.
Wang Lee begann mich auszufragen. ›Nun erzähl schon, was war denn los? Wie hast du das geschafft?‹
›Ich hab doch gesagt, ich weiß es nicht. Auf alle Fälle war der Prozess schon im Gange, als ich hier ankam. Ich habe meinen Körper durch die Meditation dann nur noch unterstützt.‹
›Du bist immer wieder für eine Überraschung gut, Gü Man. Aber, ich habe noch nie gehört, dass so etwas möglich ist. Kannst du denn gar nichts dazu sagen?‹
Er wollte einfach nicht aufgeben und daher entschloss ich mich, ihm so gut es eben ging, zu erklären, was ich gefühlt und erkannt hatte. Andächtig hörte er mir zu und starrte mich immer wieder von oben bis unten an.
›Erstaunlich, wenn ich es nicht sehen würde, dann würde ich es nicht glauben. Und du sagst, du konntest richtig fühlen, wie sich der Körper erneuert hat?‹ Wang Lee schüttelte nachdenklich den Kopf. ›Ach, wenn ich das doch auch könnte. Da gäbe es schon das eine oder andere, was der Erneuerung bedürfte.‹
›Ich glaube nicht, dass das so funktioniert. Versteh mich nicht falsch, als ich in meinen Körper hineingehört habe, ist mir klar geworden, dass das Grundprinzip in jedem Körper steckt. Das heißt, in jedem Teil deines Körpers steckt das Wissen, wie er aufgebaut ist. Hast du dich verletzt, schließt sich die Wunde und dein Körper repariert diese Stelle. Bist du krank, erkennt dein Körper, was nicht stimmt und wenn du genügend Energie hast, wird er diese Krankheit vertreiben. Doch das funktioniert wiederum nur in einem bestimmten Maß. Nicht alles kann repariert oder erneuert werden. Dass es bei mir gelungen ist, wird andere Gründe haben. Ich denke, es wird damit zu tun haben, wie ich hierher kam oder was dabei mit mir geschehen ist.‹
›Schade, ich hatte schon gehofft, du könntest mir das auch beibringen‹, sagte er bedauernd.
›Würd ich ja gern. Wirklich, doch ich glaube nicht, dass es funktioniert. Aber es ist doch schon mal viel wert, wenn du weißt, wie du deinem Körper helfen kannst, wenn du dich verletzt hast oder wenn du krank bist.‹
›Ja, stimmt schon, es wäre auch nicht gut, wenn alles so einfach ginge.‹
Nachdem ich mich ausgiebig gereinigt und frische Kleidung angelegt hatte, begab ich mich zu Han Liang Tian. Wir saßen in seinem Quartier und tranken heißen Tee.
›Du wirst immer stärker, Gü Man. Ich kann deine große Energie schon spüren. Du beherrschst nun schon Dinge, von denen ich nicht die geringste Ahnung habe. Alles, was ich weiß und kann, habe ich dir beigebracht. Von mir kannst du nun nichts mehr lernen. Die Aufgabe, die ich bekommen habe, ist erfüllt.‹
Ich schaute ihn erstaunt an. Was wollte er damit sagen?
›Das glaube ich nicht. Es gibt noch so vieles, was ich lernen muss. Auch beherrsche ich von vielem nur das Grundprinzip und muss erst noch lernen, wie ich richtig damit umgehe.‹
›Das mag schon sein, doch in den meisten Dingen ist das mehr, als ich jemals gelernt habe. Den Rest wirst du durch Übung erlernen.‹
›Wie meinst du das? Willst du mich wegschicken?‹
›Nein!‹, beeilte er sich zu beteuern. ›Nein, so war das nicht gemeint! Ich weiß nicht, was Buddha oder dein Gott mit dir vorhat, warum ich die Aufgabe bekommen hatte, dich zu unterrichten. Dieser Grund bleibt mir verborgen, doch von mir kannst du nun nichts mehr lernen, was du nicht schon weißt.‹
›Doch was soll ich nun tun? Was denkst du, was jetzt geschehen soll?‹
›Ich weiß es nicht. Aber ich bin sicher, du wirst es noch erfahren. Bleibe so lange hier wie du möchtest und trainiere deine Fähigkeiten weiter und wenn die Zeit gekommen ist, wirst du sicher ein Zeichen bekommen.‹
Nachdenklich schaute ich zu Boden. Das gefiel mir gar nicht. Ich hatte mich so daran gewöhnt, von Han Liang Tian unterrichtet zu werden und es mittlerweile zu meiner Aufgabe gemacht. Und nun sagte er, ich könne hier nichts mehr lernen.
Meine Gedanken waren so intensiv, dass der Abt sie empfangen hatte.
›So habe ich das nicht gemeint. Natürlich gibt es immer noch viel zu erlernen und natürlich werde ich dir auch weiterhin helfen, so gut ich das kann, doch es wird nichts sein, was du nicht auf die eine oder andere Art selbst erlernen könntest. Vielleicht geht es mit unserer Hilfe ein wenig schneller, doch wie gesagt, das Grundprinzip beherrschst du schon.‹
Zuerst bedrückte mich das sehr, doch dann verdrängte ich diese Gedanken und konzentrierte mich wieder auf meine Übungen. Es erschien mir alles viel einfacher seit ich erkannt hatte, was für Kräfte in meinem Geist schlummerten. Diese mussten nur erkannt und genutzt werden. Doch ich hatte auch begriffen, dass es nicht gut war, mit diesen Kräften zu prahlen. Nach Möglichkeit trainierte ich sie nur dann, wenn es – außer denen, die schon davon wussten – keiner mitbekam. Auch das Kampftraining trennte ich strikt von diesen Übungen. Es waren zwei grundverschiedene Dinge und ich wollte sie nach Möglichkeit nicht vermischen.
Der Winter kam und neigte sich schon wieder dem Ende zu. Beim Kampftraining war mir kaum noch einer gewachsen und mehr aus Spaß wurde ich seit einiger Zeit von den anderen mit Meister tituliert. Doch an einem der ersten warmen Frühlingstage wurde es dann offiziell. Wang Lee, Chen Shi Mal und die anderen, mit denen ich an diesem Tag trainierte, verhielten sich schon den ganzen Tag merkwürdig. Aber auf diesbezügliche Fragen bekam ich keine Antwort.
Kurz vor Mittag trainierte unsere Gruppe wieder in der Mischform von Shaolin und Wudang. Wir hatten noch nicht lange geübt, als sich uns eine kleine Prozession näherte. Geführt von Han Liang Tian kamen fast alle hohen Würdenträger des Klosters auf uns zu. Erstaunt unterbrach ich das Training. Als mein Blick Wang Lees Gesicht streifte, war ein breites Grinsen nicht zu übersehen.
›Was? Warum grinst du so?‹
›Wart’s ab. Die kommen wegen dir.‹
Nun wusste ich gar nicht mehr, was ich davon halten sollte. Was wollten sie denn von mir? Hatte ich was falsch gemacht?
Doch nun hatten sie uns erreicht. Ich wurde von ihnen aufgefordert vorzutreten. Chen Shi Mal und Liu Shi Meng hatten sich als Meister mit in diese Prozession eingereiht. Ich konnte mir absolut keinen Reim auf all das machen und trat verlegen vor. Der Abt kam mir einen Schritt entgegen. Auf dem Arm trug er, sauber zusammengelegt, neue Mönchskleidung und eine Schärpe, wie ich sie bei traditionellen Anlässen bei den Meistern gesehen hatte. Obenauf lag noch ein Pergament mit chinesischen Schriftzeichen.
›Gü Man, wir möchten dir hiermit den Titel eines Shaolin-Meisters verleihen. Auch wenn du nie das Mönchsgelübde abgelegt hast und einem anderen Glauben anhängst, hast du bewiesen, dass du würdig bist, in diesen Kreis aufgenommen zu werden. Deine Fähigkeiten in der Kampfkunst und in anderen Bereichen sind weitaus besser als bei vielen anderen, deshalb werden wir dir als erstem Nichtmönch den Titel Meister der Shaolin verleihen. Da du mit deinem schnellen Geist diese Fertigkeiten in sehr kurzer Zeit erlernt hast, und dein bisheriger Name nicht so recht dazu passt, wirst du als Meister den Namen Xu Shen Po tragen.‹
Er überreichte mir die Kleidung mit dem Schriftstück. Auf diesem war mein neuer Name, der so viel wie schneller Geist bedeutete, aufgemalt. Überrascht nahm ich es entgegen und wusste für einen Moment gar nicht, was ich sagen sollte. Ich verneigte mich und hob zum Gruß die senkrecht gehaltene Hand vor die Brust. Als ich den Kopf hob, sah ich in lächelnde Gesichter.
›Ich weiß gar nicht, wie ich mich bedanken soll. Es ist eine große Ehre für mich und ich verstehe nicht, womit ich sie verdient habe.‹
›Weißt du es nicht?‹ Chen Shi Mal sah mich mit gespieltem Erstaunen an. ›Mach dich nicht so klein, Xu Shen Po. Du beherrschst mittlerweile Dinge, die selbst wir nicht können, und in den Kampfkünsten bist du uns auch überlegen. Dein Wissen über das Chi und die Beherrschung deiner inneren Kräfte sind überragend, und das ist es doch, was einen Meister auszeichnet.‹
›Aber gibt es da nicht eine Prüfung oder so was ähnliches?‹
›Was sollen wir denn deiner Meinung nach prüfen?‹, fragte nun Liu Shi Meng. ›Jeder von uns hat dich schon bei der Ausübung deiner besonderen Fähigkeiten gesehen, oder sie mit dir trainiert. Wir alle hier können also dein Können beurteilen und brauchen es nicht erst zu prüfen.‹
Han Liang Tian nickte bestätigend. ›Außerdem unterliegst du als Nichtmönch nicht den Riten und Verpflichtungen des Mönchsordens, und alle rituellen Handlungen können somit entfallen.‹
Hu Kang trat lächeln heran und legte mir seine Hand auf die Schulter.
›Wir ehren hier nur dein überragendes Können und Wissen. Alle der hier Anwesenden waren sich darin einig. Sei dir auch bewusst, dass es noch niemals vorgekommen ist, dass einer nach nur acht Jahren diese Ehre zugesprochen bekam.‹
Nun war es vorbei mit meiner Beherrschung. Ich wurde puterrot im Gesicht und verneigte mich noch einmal.
›Nun ist es aber gut, Xu Shen Po!‹, sagte Chen Shi Mal. ›Komm jetzt, der Koch hat es sich nicht nehmen lassen und aus diesem Anlass ein besonderes Mahl zubereitet. Heute Nachmittag werden wir noch einige Zeremonien und rituelle Prüfungen mit Wang Lee vornehmen, denn auch er soll in den Meisterstand erhoben werden.‹
Hocherfreut sah ich mich nach Wang Lee um. Dieser schaute genauso verblüfft drein, wie ich kurz zuvor. Anscheinend hatte er von meiner Ernennung gewusst, doch von seiner eigenen nicht.
Der Koch hatte sich an diesem Tag selbst übertroffen. Er ließ es sich auch nicht nehmen, die Gerichte teilweise selbst aufzutragen. Dabei hatte er auch ein paar kurze Worte für mich übrig.
›Na, Gü Man. Ach, Entschuldigung, wie heißt der Meister jetzt? Xu Shen Po, nicht wahr?‹, setzte er spöttisch hinzu.
›Pass auf, du!‹, sagte ich drohend, musste aber dabei lachen.
Auch er brach in Gelächter aus. ›Ja, mein Freund, als ich dich das erste Mal gesehen und dir für deinen verdorbenen Magen einen Tee zubereitet hatte, dachte ich noch: Was ist denn das für’n Schlappschwanz? Und nun, nun steckst du sie alle weg.‹
›Na, na nicht übertreiben! Schön auf dem Boden bleiben! Dass ich diese Ehre wirklich verdient hab, kann ich immer noch nicht so recht glauben.‹
›Ach komm, spiel hier nicht den Bescheidenen! Zier dich nicht so und tu nicht so, als ob es dir peinlich wäre, das macht doch mächtig stolz, oder?‹
Ich holte Luft, um etwas zu erwidern, doch dann schloss ich ihn gleich wieder, denn mit einem hatte er schon recht. Ich fühlte mich zwar nicht als Meister, doch stolz machte es mich schon, dass die anderen mich als solchen sahen.
Am Nachmittag fand dann die Zeremonie für Wang Lee statt. Es war fast wie eine Priesterweihe mit verschiedenen buddhistischen Zeremonien. Eine Prüfung musste auch er nicht ablegen. Alle kannten seine Leistungen und keiner musste sie nochmals überprüfen.
Wang Lee war überglücklich. Er hatte immer gehofft, einmal zu einem Meister zu werden und zielstrebig darauf hingearbeitet.
Als wir uns am nächsten Morgen trafen und gemeinsam zum großen Tempel gingen, um davor unsere morgendlichen Tai Chi-Übungen mit den anderen auszuführen, sagte er zu mir:
›Danke für deine Hilfe. Ohne dich wäre ich jetzt noch nicht zum Meister geworden.‹
Ich blieb stehen. ›Wieso dankst du mir? Ich hab doch gar nichts gemacht. Im Gegenteil, ich habe doch immer nur von dir gelernt.‹
›Stimmt nicht! Die wichtigsten Erkenntnisse habe ich zusammen mit dir erlangt oder bin durch dich dazu angeregt worden. Dass ich jetzt Tai Chi und mein eigenes Chi so gut beherrsche, habe ich dir zu verdanken. Hättest du mich in Wudang nicht dazu gebracht, mit dir diesen neuen Stil zu erlernen, hätte ich das nicht geschafft.‹
›Na ja, dann wärst du eben im klassischen Shaolin- Stil zum Meister geworden.‹
›Ich weiß nicht. Der liegt mir nicht so gut, hab ich festgestellt. Dieser neue Stil geht wie von selbst und ich habe keinerlei Mühe damit, während ich mich beim klassischen doch recht anstrengen muss.‹
›Ist auch egal. Dann danken wir uns eben gegenseitig, denn ich muss mich bei dir genauso bedanken. Ohne dich hätte ich nicht lange hier durchgehalten.‹
Ich sah ihm in die Augen und fügte noch hinzu:
›Es ist eben eine große Freundschaft zwischen uns und die Sorge, die du stets um mein Wohlergehen gehabt hast, hat mich umhüllt wie eine wärmende Decke.‹
Ich sah es in seinen Augen, dass ihm die letzten Worte viel bedeuteten und gab ihm einen freundschaftlichen Klaps auf die Schulter.
›Komm, wir sind schon spät dran. Ich seh die anderen schon auf uns warten.‹
Alle waren auch schon versammelt, und sobald wir eingetroffen waren, begannen wir mit den Übungen.
Für mich änderte sich nichts weiter. Da ich nicht zum Mönchsorden gehörte und auch eine Sonderrolle einnahm, bekam ich keine Aufgaben, wie sie alle weiteren Meister hatten. Wang Lee hingegen unterrichtete nun die Kinder in bestimmten Bereichen. Manchmal fühlte ich mich dadurch überflüssig und wenn es sich ergab, half ich ihm bei seiner Arbeit. Keiner störte sich daran und besonders Lei Cheng freute sich, wenn ich mitkam.«

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