Dao

Kapitel 10 – Die Erkenntnis

Abschnitt 1

»Der Winter kam und mit ihm wurde, bedingt durch die Witterung, das Training des Öfteren ausgesetzt. Han Liang Tian nahm sich nun auch wieder mehr Zeit für mich. Doch ich hatte den Eindruck, dass es ihm nicht mehr so gut ging, wie in den letzten Jahren. Er wurde langsam alt und die Gebrechen des Alters erreichten auch ihn. Wir saßen wieder einmal zusammen, um über verschiedene Dinge zu reden, als ich ihn darauf ansprach.
›Ich habe den Eindruck, dir geht es in letzter Zeit nicht so gut. Kann ich dir irgendwie helfen?‹
Er lachte kurz auf. ›Ich glaube nicht, dass du mir in diesem Fall helfen kannst. Oder ist es dir möglich, das Alter zu besiegen?‹
›Nein, ich glaube nicht, dass ich das kann‹, antwortete ich, ebenfalls lachend.
›Es ist eben so, eines Tages spürt man, dass einen die Zeit einholt. Ich lebe nun schon viele Jahre und es war ein gutes Leben. Es gab immer Höhen und Tiefen, doch wenn ich zurückschaue, dann kann ich sehr zufrieden sein mit diesem Leben. Wenn ich mich nicht irgendwann verzählt habe, müsste ich im kommenden Frühling neunzig werden. Du wirst mir also verzeihen, wenn ich nicht mehr ganz so rüstig bin und mich ab und an ein paar Dinge plagen, die das Alter mitbringt.‹
Ich riss die Augen auf. Neunzig, das hatte ich nicht erwartet. Ich hatte ihn höchstens auf sechzig oder siebzig geschätzt. Anerkennend sagte ich:
›Wenn ich mit neunzig noch so rüstig bin, dann werde ich sehr zufrieden sein.‹
›Ja, das bin ich auch!‹ Er war wieder dazu übergegangen in Gedanken mit mir zu sprechen. ›Doch nun wollen wir dieses Thema lassen und uns wichtigeren Dingen zuwenden.‹
Er schaute mich durchdringend an und fragte: ›Wie weit bist du mit der Aufgabe gekommen, die ich dir gestellt hatte?‹
Beschämt wich ich seinem Blick aus. Ich hatte diese vollkommen vernachlässigt. Das Training mit den anderen hatte mich so gefangen genommen, dass ich einfach vergessen hatte, mich weiter damit zu beschäftigen. Es war ja auch viel einfacher gewesen. Bei dem Kampftraining konnte ich etwas sehen, machte Fortschritte und bei Han Liang Tians Auftrag trat ich auf der Stelle.
›Entschuldige, ich habe es einfach vergessen. Ich kam nicht weiter, und da habe ich mich eben nur auf andere Dinge konzentriert.‹
Ich holte tief Luft. ›Ich weiß auch immer noch nicht, wie ich diese Aufgabe lösen soll. Ich finde einfach keinen Weg zu dieser Kraft.‹
›Hast du es wirklich versucht? Hast du den Ratschlag, den ich dir gab, beherzigt?‹
Wenn es möglich gewesen wäre, wäre ich am liebsten in den Boden versunken. Ich hatte nicht im Geringsten darüber nachgedacht, wie ich das Problem lösen könnte. Ich hatte mich einfach nur auf andere Dinge konzentriert.
›Nein, hab ich nicht‹, gab ich zu.
›Das dachte ich mir schon. Doch es wäre schön, wenn du es jetzt wieder intensiver versuchen würdest. Ich kann nicht sagen, wie viel Zeit mir noch bleibt, doch ich möchte auf jeden Fall das noch an dich weitergeben. Es ist das letzte große Wissen, das ich dir geben kann. Dann habe ich meinen Auftrag erfüllt. Doch wie ich dir schon gesagt habe: Es gibt keine Formel oder bestimmte Handlung, mit der du das erreichen kannst. Du musst selbst den Weg dorthin finden. Wenn du das geschafft hast, dann kann ich dir wieder weiterhelfen und dir zeigen, zu was du diese Kraft nutzen kannst, was du alles damit tun kannst.‹
Er erhob sich und sagte abschließend:
›Ich werde dich nun allein lassen und hoffe, dass du dich von nun an mehr um diese Aufgabe kümmerst. Meditiere viel, du wirst sehen, dass auch das sehr hilfreich sein kann.‹
Er ließ mich allein und ich setzte mich wieder hin. Ich schämte mich und war gleichzeitig ratlos, da ich nicht so recht wusste, wie ich an diese Aufgabe herangehen sollte. Was hatte er nur gesagt? Was hatte ihm geholfen? Ich überlegte krampfhaft, was er mir für einen Tipp gegeben hatte.
Erst nach einem ganzen Stück fiel es mir wieder ein. Er hatte vom Fasten gesprochen. Ihm hatte es geholfen, doch wie sollte mir das helfen? Aber der zweite Tipp, den er mir heute gegeben hatte, war schon eher hilfreich. Meditieren hatte mir schon oft geholfen, Erkenntnisse zu gewinnen. Also entschloss ich mich, das nun intensiver zu tun.
Der kleine Tempel schien mir geeignet zu sein für dieses Vorhaben und ich versenkte mich gleich in Meditation. Am späten Nachmittag suchte und fand mich Wang Lee, immer noch in diesem Zustand.
›He, Gü Man. Ist was mit dir? Was tust du hier? Wir haben dich vermisst beim Training. Es war heute nicht so schlechtes Wetter, und wir haben den ganzen Nachmittag trainiert.‹
Es dauerte einen Augenblick, bis ich mir bewusst war, dass Wang Lee wirklich neben mir stand und ich nicht bloß eingenickt war und träumte.
›Han Liang Tian hat mich an die Aufgabe erinnert, die er mir gestellt hatte. Ich hatte überhaupt keinen Gedanken mehr daran verschwendet und nun möchte er aber, dass ich mich intensiver damit beschäftige.‹
›Und warum sitzt du hier? Hilft das denn zur Lösung?‹
›Ich weiß es nicht, Wang Lee. Ich weiß es wirklich nicht. Doch er hat zu mir gesagt, dass Meditation ein gutes Mittel sei, um zur Erkenntnis zu kommen.‹
›Ist dir nicht ein wenig kalt hier im Tempel? Du hast keine Decke mit und sitzt auf dem kalten Boden.‹
Ich musste erst einen Augenblick überlegen, denn ich hatte alle Empfindungen während der Meditation abgeschaltet.
›Nein, seltsamerweise nicht. Ich hab bis jetzt eigentlich gar nicht gefroren. Erst jetzt, wo du das gesagt hast, wird mir kalt.‹ Ich erhob mich. ›Vielleicht ist es besser, wenn ich jetzt erst mal eine Pause mache. Ich komme mit und werde noch eine Weile Tai Chi üben, bevor ich zu Ruhe gehe.‹
›Willst du nicht erst mal mit zum Koch kommen und was essen? Du warst doch heute noch nicht bei ihm, oder hab ich da was verpasst?‹
›Nein, ich werd aber auch nicht hingehen.‹
Wang Lee sah mich erstaunt an, deshalb fügte ich erklärend hinzu:
›Han Liang Tian hat gemeint, dass ihm das Fasten geholfen hat. Ich wollte versuchen, ob mir das auch in irgendeiner Form hilft.‹ Ich zuckte mit den Schultern. ›Ein, zwei Tage geht’s schon mal ohne Essen. Wir werden sehen!‹
Wang Lee schaute verständnislos drein. ›Wenn du meinst!‹
Wir gingen aus dem Tempel und ich zog den Kragen am Hals erst einmal zusammen, denn im kalten Wind, der mir entgegenwehte, fröstelte mich nun doch etwas. Dennoch begann ich an einer geschützten Stelle des Übungsplatzes mit den Tai Chi-Übungen. Wang Lee konnte es nicht verstehen, schüttelte den Kopf und ging.
Mit der zeitig hereinbrechenden Dunkelheit an diesen kurzen Wintertagen kam die Kälte und ich brach nach etwa einer Stunde das Tai Chi-Training wieder ab. In meinem Quartier grübelte ich weiter. Doch ich kam zu keinem Ergebnis. Wie sollte ich nur die Energie von anderen Dingen nutzen können? Die Kraft von einem anderen Menschen zu nehmen oder zu bekommen, dass konnte ich ja noch verstehen und hatte es unbewusst und in Hu Kangs Fall auch bewusst schon getan. Aber die Energie anderer Dinge zu nutzen, toter Dinge wie man im Allgemeinen sagte, das stellte mich vor ein anscheinend unlösbares Problem. Wie sollte das bloß funktionieren?
Nichts ist wirklich tot, hatte Han Liang Tian einmal zu mir gesagt. Nichts ist wirklich tot?
Nein, das hilft mir auch nicht weiter! dachte ich, und über diesen Gedanken schlief ich ein.
Als ich am nächsten Morgen erwachte, war ich auch noch nicht weiter. Unzufrieden mit mir und leicht frustriert ging ich zum Haupttempel. Es war die Zeit des morgendlichen Tai Chi und wie gewohnt ging ich, da wir nun die Frontmänner waren, nach vorn zu Wang Lee. Auf meinem Weg dorthin kam ich an Han Liang Tian vorbei und dieser spürte meinen Frust und Ärger.
›Manches braucht Zeit und Geduld, Gü Man. Mit Gewalt erreichst du gar nichts‹, sagte er in Gedanken.
Zeit und Geduld! dachte ich. Ja, Zeit hatte ich, oder auch nicht. Da er mich ja drängte und ich zu einem Ergebnis kommen sollte. Und dann, Geduld. Das war früher nie meine Stärke gewesen. Hier, in meinem neuen Leben, hatte ich nun ein wenig davon bekommen. Doch anscheinend immer noch nicht genug.
Meine Gedanken drehten sich ständig im Kreis und ich hatte Mühe, meinen Rhythmus zu finden. Erst nach einer ganzen Weile gelang es mir, mich vollkommen fallen zu lassen.
Tai Chi half mir nun, meinen Geist zu befreien. Ich konnte die sich ständig im Kreis drehenden Gedanken abstreifen und vertiefte mich in die Übungen. Nun wurde ich ruhiger. Sehr viel entspannter ging ich, nachdem die anderen zur Morgenandacht gegangen waren, zur Wasserstelle, um mich zu waschen. Auf dem Weg dorthin begann ich wieder über mein Problem nachzudenken. Doch diesmal war ich viel entspannter, und dadurch konnte ich auch rationaler denken.
Kurz bevor ich das Wasserbecken erreichte, kam mir ein Gedanke. Abrupt blieb ich stehen. Natürlich, das war es. Wie sollte ich, wenn ich mich fernhielt von all den Dingen, die Energie enthielten, auch nur annähernd den richtigen Weg finden. Ich musste mich mit diesen Dingen umgeben oder in deren Nähe aufhalten, dann konnte ich erst einmal Kontakt zu diesen Quellen herstellen. Im Tempel gab es wenige davon. Es stecke zwar auch Kraft in all den Dingen, die in ihm waren, doch bevor ich die erkennen oder gar nutzen konnte, würde noch viel Zeit vergehen.
Motiviert durch diese Erkenntnis überlegte ich, wie und wo ich das am besten bewerkstelligen konnte. Der junge Baum, dessen Pflege ich übernommen hatte, als er verletzt war, kam mir in den Sinn und mein Entschluss, dorthin zu gehen, stand fest.
Die Körperreinigung fiel kurz aus an diesem Tag und anschließend holte ich mir in meiner Zelle zwei Decken. Mit diesen unter dem Arm ging ich dann hinaus und strebte dem Hang zu, wo der Baum stand. Außerhalb des Klosters hatte der Wind mit dem lockeren Schnee gespielt. Es gab Stellen, an denen der Boden freigefegt war, und an anderen Orten sank ich wieder bis zu den Knien in Schneewehen ein. Der Standort des Baumes war durch eine leichte Erhebung ein wenig geschützt vor dem kalten Nordwind. Der Schnee lag um den Baum herum nur etwa knöchelhoch. Ich entfernte, so gut es eben ohne Hilfsmittel ging, gleich neben dem Baum den Schnee und setzte mich dann dort nieder. Die eine Decke hatte ich zusammengelegt und nutzte sie als Unterlage und die andere warf ich mir über. Dann rückte ich ganz nah an den Baum heran, zog mir die Decke über den Kopf, sodass nur noch das Gesicht herausschaute und umfasste mit der rechten Hand das junge Stämmchen. Es hatte mittlerweile so viel Umfang an dieser Stelle, dass meine Hand nicht ganz um es herumreichte. Nun bedeckte ich diese Hand mit der Decke und schaute mich noch einmal um, bevor ich die Augen schloss.
Von dieser Stelle aus hatte ich einen guten Blick auf das Kloster und den davor neu entstandenen Bereich. Ich konnte die Mönche sehen, die sich auf den Übungsplätzen im neuen Klosterbereich sammelten, malte mir aus, was sie wohl denken würden, wenn sie mich hier oben sitzen sahen. Doch diese Gedanken wischte ich schnell wieder beiseite. Es war doch völlig egal, was sie dachten, ich war keinem in irgendeiner Form Rechenschaft schuldig. Nur dem Abt und meinen neugewonnenen Freunden mit Wang Lee an der Spitze fühlte ich mich verpflichtet. Der nun einsetzende, leichte Schneefall machte es zudem unmöglich, weiter als zehn Meter zu sehen. Es waren ganz feine Flocken, die sofort eine dünne Schicht auf meiner Decke bildete. Auf größere Entfernung war ich nun sicherlich nicht mehr von der Umgebung zu unterscheiden.
Ich schloss die Augen und begann mich zu konzentrieren. Nach und nach wurde mein Geist eins mit meinem Körper und ich spürte nur noch mich und den Stamm, den ich umfasste. Zeit und Raum spielten keine Rolle mehr. Es gab nur noch mich und den Baum. Ich brachte meinen Körper dazu, der Witterung zu trotzen. Das Herz presste das Blut kräftiger durch die Adern und die Gefäße weiteten sich. Die Körpertemperatur stieg und unter der Decke wurde es bald angenehm warm.
Nun fühlte ich auch den Baum stärker. Das Leben in ihm war im Winterschlaf, doch er lebte und war sehr kräftig geworden. Alles unter der Rinde lief wie in Zeitlupe ab. Die äußeren Schichten hatten sich der Witterung angepasst und alle Funktionen eingestellt, doch alles in dem Baum wartete nur auf Sonne und Wärme, um sofort wieder zum Leben zu erwachen.
Irgendwann gelang es mir, im Geist genauso durch den Baum zu wandern, wie durch meinen Körper. Er hatte keine Geheimnisse mehr vor mir und ich sprach mit ihm, wie mit einem Bruder.
Mittlerweile hatte ich jeden Zeitbezug verloren. Ich war nicht weggetreten, sodass ich nichts mehr von dem wahrnahm, was um mich vorging, doch es spielte keine Rolle mehr. Die Flocken, die sich ab und zu auf mein Gesicht verirrten und dort sofort schmolzen, nahm ich wahr, doch sie interessierten mich genauso wenig wie die hereinbrechende Dunkelheit. Ich hatte jeden Bezug zu meiner Umwelt verloren, oder besser gesagt: bewusst abgestellt.

Während ich in tiefste Meditation versunken war, begann Wang Lee sich zu sorgen. Er hatte mich den ganzen Tag vermisst, und begann am Abend nach mir zu suchen. Weder in den Tempeln, die er ausnahmslos alle nach mir absuchte, noch an der Wasserstelle wurde er fündig. Er teilte Chen Shi Mal seine Sorgen mit und noch einmal suchten sie alles nach mir ab. Auch den Pagodenwald durchsuchten sie nach mir und ihre Bedenken, dass mir etwas zugestoßen sein könnte wurden immer größer. Trotz der tiefen Meditation, in die ich versunken war, konnte ich Wang Lees besorgte Gedanken wahrnehmen.
Uns trennte eine nicht unerhebliche Strecke für solche Empfindungen und in mir stieg Freude auf, da ich durch diese Meditation nun schon erreicht hatte, auf größere Entfernung hin bewusst Gedanken wahrzunehmen. Um ihn zu beruhigen, ließ ich ihm auf der gleichen Ebene eine Antwort zukommen:
›Wang Lee, mach die keine Gedanken mehr um mich. Mir geht es gut und ich bin auf dem richtigen Weg zur Erkenntnis. Ich brauche dazu aber – wenigstens jetzt beim ersten Mal – Ruhe bei einer ungestörten Meditation. Hör auf zu suchen, ich werde mich melden, wenn ich so weit bin.‹
Später erzählte mir Wang Lee, wie er den weiteren Verlauf erlebt hatte. Zusammen mit Chen Shi Mal wollte er zum zweiten Mal den Bereich um das Wasserbecken absuchen. Als ich ihn mit meinen Gedanken erreichte, blieb er erstaunt stehen. Chen Shi Mal schaute ihn an und wollte gerade fragen was los sei, als auch er die Gedanken wahrnahm. Ich hatte mich darauf konzentriert beide zu erreichen, um Wang Lee Sicherheit zu geben. Chen Shi Mal riss die Augen auf und öffnete den Mund, doch Wang Lee kam ihm zuvor.
›Du hast es auch gespürt, nicht wahr?‹
Immer noch verwirrt, nickte Chen Shi Mal nur leicht.
›Gut, er sagt wir sollen uns keine Sorgen mehr machen und mit der Suche aufhören.‹
Wang Lee wurde ruhiger. ›Ich denke, wenn wir beide das gleiche empfunden haben, dann können wir uns auch darauf verlassen und die Suche beenden.‹
›Aber, wie … wie ist das möglich? Ich hatte das Gefühl, er spräche zu mir und ich könne ihn hören, obwohl er nicht hier ist.‹
Wang Lee konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. ›Wir können schon seit geraumer Zeit in Gedanken miteinander sprechen. Es ist für uns nicht mehr nötig, die Worte laut auszusprechen.‹
Das Erstaunen in Chen Shi Mals Gesicht war offensichtlich. ›Ihr überrascht mich immer wieder. Mittlerweile seid ihr nach Han Liang Tian vielleicht die mächtigsten Mönche hier im Kloster, und dennoch verhaltet ihr euch wie Schüler.‹
›Wir sind doch auch noch Schüler. Es gibt noch so viel, was wir zu lernen haben, was wir nicht verstehen oder gar beherrschen. Gerade jetzt versucht Gü Man etwas zu erkennen, und das zu erlernen, fällt ihm äußerst schwer. Ich wage mich erst gar nicht an diese Aufgabe heran. Ich traue es mir einfach nicht zu.‹
Mehr in Gedanken setzte er hinzu: ›Mir wurde ja auch nicht diese Aufgabe gestellt.‹
›Was für eine Aufgabe ist das denn?‹
›Ich denke, es ist manchmal besser, wenn man nicht alles weiß. Komm, lass uns zurückgehen. Er möchte, dass wir nicht weiter suchen und ich denke, wir sollten das respektieren.‹
Chen Shi Mal war neugierig geworden und es gefiel ihm gar nicht, dass er nun nichts weiter erfahren sollte, doch Wang Lee gab nichts weiter preis. So gingen sie zurück ins Kloster. Doch auch wenn er Chen Shi Mal gegenüber sehr überzeugt aufgetreten war, ganz ohne Sorge war er nicht. Er verbrachte eine sehr unruhige Nacht und sein erster Weg am Morgen führte in mein Quartier. Als er mich dort immer noch nicht vorfand, ging er wieder ein wenig besorgter zum Platz vor dem großen Tempel. Die anderen waren schon versammelt und erwarteten uns. Wang Lee ging auf Han Liang Tian zu, um mit ihm über mich zu reden, doch dieser stellte sich gleich in Grundstellung hin und gab damit das Zeichen, dass er mit den Tai Chi-Übungen beginnen wollte. Die anderen stellten seine Handlung nicht in Frage, da sie annahmen, dass er wüsste, dass ich nicht kommen würde. Wang Lee wollte dennoch zu einer Frage ansetzen, doch der Abt gab ihm ein Zeichen, dass er jetzt nicht mit ihm sprechen wolle.
Es kostete Wang Lee sehr viel Mühe, sich auf das Tai Chi zu konzentrieren und gleich, nachdem das Training beendet war und er Han Liang Tian allein sprechen konnte, nutzte er diese Gelegenheit.
›Gü Man ist weg! Ich mach mir Sorgen. Vielleicht hat er Probleme! Ich habe ihn nun schon einen ganzen Tag nicht gesehen und weiß nicht so recht, wo ich noch suchen soll. Er …‹
›Er hat dich doch gebeten, nicht weiter nach ihm zu suchen! Hat er dir nicht auch gesagt, dass es ihm gut geht und er auf dem richtigen Weg sei? Er wollte doch nur Ruhe, oder?‹
Verblüfft schaute Wang Lee den Abt an.
›Ja, ich habe es auch gehört. Und ich denke nicht, dass wir uns Sorgen müssen. Diese Stimme war so kraftvoll, so bestimmend. Ich werde seinem Wunsch nachkommen und ihn in Ruhe lassen. Und du solltest das auch tun!‹
Mit diesen Worten war das Gespräch für den Abt beendet und er strebte dem Tempel zu. Wang Lee blieb nichts anderes übrig, als sich ihm anzuschließen. Den restlichen Tag ließ ihn zwar die Sorge, dass mir etwas zugestoßen sein könnte, nicht los, doch er unternahm nichts weiter. Erst als ich am nächsten Morgen immer noch nicht aufgetaucht war, begann er wieder nach mir zu suchen. Doch mit dem gleichen Resultat wie am Vortag.
Schließlich kam ihm der Gedanke: Er muss ja mal was essen. Schnell ging er zum Koch und fragte diesen, ob er mich gesehen hätte. Dieser schüttelte nur den Kopf. Doch nun zeigte sich wieder einmal, dass er doch über vieles informiert war, was die meisten gar nicht vermuteten. Er fragte ihn, ob er schon bei dem Bäumchen nachgeschaut hätte und Wang Lee, der daran noch gar nicht gedacht hatte, sprang sofort auf und eilte zu diesem Ort.
Von unten konnte er mich nicht erkennen und dachte schon, dass das auch bloß wieder eine Sackgasse werden würde. Doch dann, je näher er mir kam, desto ungewöhnlicher erschien ihm der Haufen neben dem Baum, bis er schließlich vor mir stand und erkannte, dass ich unter Decke war. Erschrocken beugte er sich vor und näherte sich meinem Gesicht. Eine Welle der Wärme schlug ihm entgegen. Sofort nahm er an, dass ich mit hohem Fieber hier säße und wollte mich ins Kloster tragen.
Ich hatte seine Annäherung gespürt und seine Gedanken erkannt, wollte aber die Meditation nicht unterbrechen. Doch mit ihm Kontakt aufnehmen konnte ich ja, ohne allzu sehr aus dem Gleichgewicht zu geraten.
›Wang Lee! Nein! Lass mich! Mir geht es gut! Ich hatte dir doch schon gesagt, dass du dir keine Sorgen machen musst. Lass mich hier. Ich brauche noch ein Stück bis ich dorthin komme, wo ich hinwill.‹
Er fuhr zurück. ›Wo willst du hin? Zu was brauchst du noch ein Stück?‹
›Nicht jetzt, Wang Lee! Nicht jetzt!‹
›Aber du hast Fieber! Du musst rein in die Wärme!‹
›Nein, hab ich nicht und muss ich nicht! Und nun lass mich bitte!‹
Völlig verstört stand Wang Lee da und wusste nicht mehr weiter. Schließlich entschloss er sich, den Abt aufzusuchen und mit ihm zu sprechen. Schnell rannte er den Hang hinunter und durchs Klostertor. Dort stieß er beinahe mit Chen Shi Mal zusammen, der Wang Lee gerade folgen wollte. Er hatte vom Koch erfahren, wo Wang Lee suchen wollte.
›He, he, langsam. Nicht so stürmisch! Du rennst ja jeden um, der dir über den Weg läuft!‹
›Ja, lass mich! Ich hab ihn gefunden und er gefällt mir gar nicht. Ich muss zu Han Liang Tian und mit ihm reden.‹
›Was ist denn mit ihm? Warum hast du ihn nicht gleich mitgebracht?‹
›Später! Später! Ich muss erst mit Han Liang Tian sprechen.‹
Bei diesen Worten rannte er schon wieder weiter. Chen Shi Mal blieb kopfschüttelnd stehen und schaute ihm nach. Schließlich setzte er sich langsam in Bewegung und folgte Wang Lee. Doch dieser kam ihm schon wieder entgegen. Er hatte Han Liang Tian auf dem Weg zum Tempel erwischt und ihn bedrängt mitzukommen. Nun kam er mit eiligen Schritten angelaufen und blieb nervös zappelnd immer wieder stehen, um auf Han Liang Tian zu warten, der ihm in gemessenen Schritten folgte. Der Abt ließ sich auch nicht weiter bedrängen. Er kam mit, aber er gab Wang Lee deutlich zu verstehen, dass er nicht einsah, warum das in Hast geschehen sollte.
Obwohl das Wang Lee gar nicht passte, musste er sich geschlagen geben und so kamen die drei – Chen Shi Mal hatte sich ihnen unaufgefordert angeschlossen – schließlich bei mir an.
›Da, schau, er sitzt bestimmt schon die ganze Zeit hier in der Kälte. Schau nur, komm mal in seine Nähe. Er glüht richtig! Er hat mit Sicherheit ganz hohes Fieber! Wenn wir ihn nicht gleich reinholen, frisst ihn das Fieber auf.‹
›Ruhig, Wang Lee, ruhig!‹ Han Liang Tian schob ihn zur Seite und beugte sich herab. Er schaute mir ins Gesicht, richtete sich wieder auf und riss mir die Decke herunter.
›Die braucht er nicht mehr!‹
Wang Lee schrie leise auf vor Schreck und starrte von der Decke die Han Liang Tian neben mich geworfen hatte zu mir. Eine Welle von sehr warmer Luft war ihnen entgegengeschlagen, als die Decke weg war. Wang Lee wollte sich herabbeugen und die Decke schnell wieder über mich breiten, doch der Abt hielt ihn davon ab.
›Was willst du tun? Lass das!‹
›Aber er hat doch Fieber! Er muss doch warmgehalten werden. Er wird sich den Rest holen, wenn wir ihn nicht schnell wieder zudecken.‹
›Nein, wird er nicht! Schaut ihn euch an. Habt ihr den Eindruck, dass es ihm schlecht geht? Schaut genau hin, macht schon!‹, fügte Han Liang Tian erregter hinzu.
Die beiden schauten mich intensiver an und ihre Blicke wanderten von unten nach oben und wieder zurück. Ich saß auf den Fersen, die Beine leicht gegrätscht, die linke Hand auf dem Knie und die Fingerspitzen zusammengelegt. Die rechte Hand umfasste locker das Bäumchen und die ganze Körperhaltung wirkte völlig entspannt. Meine Augen waren geschlossen, der Atem ging ruhig und gleichmäßig. Die Atemfrequenz war eher noch langsamer als normal. Die ganze Körperhaltung drückte lockere, gelöste Konzentration aus. Nichts außer der hohen Körpertemperatur deutete auf Fieber hin.
Unsicher nach dieser genaueren Begutachtung, sagte Wang Lee leise:
›Nein, es sieht nicht so aus, als ob er krank wäre. Aber, warum ist er so heiß? Oder willst du sagen, dass das normal ist?‹
Han Liang Tian strich sich mit der Hand über den Schädel, holte tief Luft und sagte:
›Nein, das will ich nicht. Normal ist es nicht, oder auch doch, wenn man berücksichtig, was er macht.‹ Der Abt hatte bis jetzt mehr in Gedanken zu sich gesprochen. Nun wendete er sich Wang Lee zu und sagte:
›Er praktiziert Tumo. Ich verstehe zwar nicht, wie das möglich ist und wie er das geschafft hat, doch es ist eindeutig Tumo.‹
Verständnislos sahen die zwei den Abt an.
›Was ist Tumo?‹, fragten beide wie aus einem Mund.
›Ach ja, ihr habt ja noch nichts davon gehört.‹ Er besann sich einen Augenblick, und begann dann zu erläutern:
›Vor vielen Jahren kam einmal im Winter ein Wandermönch zu uns. Ihr wart beide noch nicht im Kloster und könnt deshalb nichts davon wissen. Dieser Mann war nur leicht gekleidet, dennoch schien ihm die große Kälte nichts anzuhaben. Wenn man in seine Nähe kam, spürte man die Wärme, die von ihm ausging und deshalb sprach ich ihn eines Tages darauf an. Er erzählte mir dann, dass er viele Jahre in einem Kloster hoch oben im großen Gebirge gelebt hatte. Dort lernen die Mönche, in sich so große Wärme zu erzeugen, dass ihnen die Kälte nichts anhaben kann. Man nennt es dort Tumo. Diese Eigenschaft ist sehr schwer zu erlernen und erfordert äußerste Konzentration und jahrelanges Training. Erst nach vielen Jahren intensiver Übung dürfen die Mönche, unter Aufsicht eines sehr erfahrenen Mönchs, die Prüfung dazu ablegen. Sie müssen dann eine ganze Nacht lang bei großer Kälte nackt auf einem zugefrorenen See sitzen. In einem Loch, das ins Eis geschlagen wurde, wird ständig ein Kleidungsstück ins Wasser getaucht und dann auf den Rücken des Prüflings gelegt. Wenn er es durch seine Körperwärme getrocknet hat, wird es wieder nass gemacht und diese Prozedur wird bis zum Morgengrauen wiederholt. Wenn sie diese Prüfung bestanden haben, sind sie in der Lage, ihre Körpertemperatur den ganzen Winter über so weit zu steigern, dass sie trotz der großen Kälte dort nur leicht gekleidet herumlaufen. Der Mönch, der sich einige Wochen bei uns aufgehalten hatte, beherrschte das hervorragend und hat es uns mehrfach vorgeführt. Warnte uns aber, es selbst zu versuchen, da es nur unter erfahrener Anleitung und langer Übung richtig ausgeführt werden könne. Er ist dann weitergezogen auf der Suche nach neuen Erkenntnissen, und wir haben nie wieder von ihm gehört.‹
›Aber, wenn es so schwer und gefährlich ist, sollten wir dann nicht Gü Man davon abhalten? Wenn er nun etwas falsch macht? Oder, wenn es ihn zu sehr anstrengt? Ich mach mir große Sorgen um ihn.‹
›Keine Angst, Wang Lee, es geht ihm gut. Zum einen hat er uns das schon mitgeteilt und zum anderen sieht man das auch. Schau doch hin. Sieht jemand so aus, wenn es ihm schlecht geht?‹
›Nein, ich denke nicht‹ Doch seine Worte klangen nicht so recht überzeugt.
›Wenn er seine Meditation beendet hat, werde ich ihn fragen, woher er das kennt. Warum er mir verheimlicht hat, dass er Tumo beherrscht.‹
Han Liang Tian schaute mich intensiv an, griff in den Schnee und legte eine Handvoll in meine linke Hand. Sofort schmolz der Schnee. Leichte Dampfwolken stiegen auf und kleine Rinnsale liefen herunter auf die Kleidung. Doch es währte nicht lange und alles war wieder trocken wie zuvor.
›Wirklich erstaunlich.‹
Es war das erste Mal, dass ich den Abt so verblüfft erlebte. Gerne hätte ich mit ihm gesprochen, doch durch die anhaltende Störung ließ meine Konzentration sowieso schon langsam nach. Dabei hatte ich kurz davor das Gefühl gehabt, wichtige Erkenntnisse zu gewinnen. Nicht, dass es die Eigenschaft der Wärmeerzeugung störte nein, das ging jetzt wie von selbst. Ich konnte nicht erklären warum, aber es war, als ob das selbstverständlich für mich wäre. Doch ich versuchte immer noch, die Energie anderer Dinge zu nutzen und darauf musste ich mich wirklich sehr konzentrieren. Deshalb sprach ich sie in Gedanken an:
›Habt ihr euch nun davon überzeugt, dass es mir gut geht? Wenn ja, dann seid so nett und lasst mich wieder alleine, denn ich habe mein anderes Problem noch nicht gelöst.‹
Alle drei sahen mich erstaunt an. Die Gedanken waren so laut und kraftvoll bei ihnen angekommen, dass sie fast das Gefühl hatten, ich schriee sie an.
Der Abt hatte sich als erster wieder gefasst und fragte nur:
›Sollen wir die Decke wieder drüber legen?‹
›Nein, das ist nicht mehr nötig. Lasst sie liegen, wenn ich sie dennoch brauche, kann ich sie mir ja nehmen.‹
Schweigend nahm Han Liang Tian die Decke, schüttelte den Schnee von ihr ab, legte sie zusammen und neben mich hin. Dann forderte er die beiden auf, ihm zu folgen und ging in Gedanken versunken zurück ins Kloster. Widerstrebend folgte Wang Lee. Es behagte ihm gar nicht und er wäre am liebsten wieder umgekehrt, doch nach meiner Aufforderung wagte er es nicht.

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