
Höhen und Tiefen
Wir entschließen uns den offiziellen Weg, der durch Bayreuth führt, zu verlassen. Auch wenn wir dadurch Sehenswertes in der Innenstadt verpassen werden, es ist ein erheblicher Umweg. So weit weg von zu Hause ist die Stadt auch nicht und wir können sie ja später einmal ohne Gepäck in Ruhe erkunden, sagen wir uns.
Außerdem strengt uns die Stadtlauferei mit Rucksack nicht unerheblich an. Tja, die ersten Kilometer durchs Gewerbegebiet von Bayreuth sind aber auch nicht besser. Hätten wir doch die Innenstadt nehmen sollen?
Dass wir uns deshalb verlaufen, steht nicht zu befürchten, denn es geht immer geradeaus, bis wir wieder auf den ausgeschilderten Weg kommen. Dann finden wir uns in der Eremitage wieder. Ein wunderschönes Gelände am Rande von Bayreuth, an das ich mich aber gar nicht erinnern kann. Entweder wurde der Wegverlauf geändert, oder ich bin 2017 irgendwie daran vorbeigelaufen.
Auf der breiten Parkallee, die zum Schloss führt, treffen wir auf eine junge Frau. Als wären wir alte Bekannte läuft sie neben uns her und erzählt uns viel aus ihrem Leben. Einfach so, ohne dass wir sie nach etwas gefragt haben. Es ist uns fast schon peinlich, aber anscheinend hat sie jemand gesucht, dem sie ihr Herz ausschütten kann und wir sind ihr sympathisch.
Das Schloss und die umgebende Parkanlage sind ein hervorragend gepflegtes Gelände, was eigentlich zu einer längeren Besichtigung einlädt. Wir haben aber an diesem Tag noch einige Kilometer vor uns und belassen es bei einer äußerlichen Erkundung der Gesamtanlage.
Im weiteren Verlauf des Weges geht es wieder durch die Natur bergauf, bergab. Am Morgen bin ich noch im Shirt gelaufen, doch der kalte Wind kommt wieder auf, weshalb ich bald nicht mehr weiß, was ich machen soll. Habe ich die Jacke beim Laufen an, beginne ich zu schwitzen. Ohne sie ist es in der Sonne angenehm, kommt aber Schatten, fröstele ich. Bei den Pausen muss ich sie sowieso überziehen, sonst friere ich sofort. Ein ständiges hin und her, an und aus. Es nervt!
Die Wege durch die Natur sind schön, auch wenn ich mich bei manchen Passagen frage; kann man da wirklich langgehen?
Zum Beispiel bei einer Gebäudedurchfahrt, in der auch noch ein großer Traktorhänger steht. Früher vielleicht der Teil eines landwirtschaftlichen Gebäudekomplexes, jetzt einzeln stehend, aber doch bewirtschaftet wirkend. Ist das da nicht ein Eindringen in Privateigentum?
Nach knapp 23km kommen wir in Creußen an. Wir haben erneut Glück gehabt und die angekündigten Gewitter sind uns erspart geblieben.
Das Privatquartier befindet sich in einem alten Stadthaus. Nein, nicht alt! Ein „historisches Gebäude“ betont die Gastgeberin. Es ist sauber, gepflegt und die historische Bausubstanz fast vollständig erhalten, erfahren wir bei einem Kennenlerngespräch in ihrem Wohnzimmer. Nur das Notwendigste wurde verändert, um Bäder und eine moderne Heizung einzubauen. Die knarrenden Holzdielen, liebevoll aufgearbeiteten Türen mit Schlössern und Drückergarnituren, die sicher schon hundert Jahre gesehen haben, blieben erhalten. Man könnte mit Sicherheit einen Film über die Jahre Anfang 1900 im Haus drehen, ohne viel kaschieren zu müssen.
Eine steile ausgetretene Holztreppe führt zu unserem Zimmer in der ersten Etage. Wann habe ich eigentlich zum letzten Mal mit Bohnerwachs behandelte Treppenstufen und Holzdielen gesehen?
Sabine fragt sich schon beim Hinaufsteigen, wie sie am nächsten Tag mit dem Rucksack da wieder hinunterkommen wird.
Auf halber Treppe ist das WC. Früher sicher ein Plumpsklo, in einer Ecke zum Hinterhof. Eine Heizmöglichkeit für den Winter sehe ich nicht. Das wird doch sicher arschkalt in dieser Periode. Ob da nicht das Wasser in der Spülung eingefriert? Egal, nicht unser Problem, wir haben Frühling. Ich hoffe jedoch sehr, dass ich nicht in der Nacht dorthin muss.
Unser Zimmer ist sauber und geräumig, Dusch- und Waschmöglichkeit über den Flur. Eine schöne, sehr preiswerte Unterkunft, wenn auch ohne Verköstigung, aber das hatten wir in den Pilgerzimmern von Hof und Helmbrechts auch nicht. In der Nacht ein Dach über den Kopf und ein Lager, auf dem sich die müden Glieder erholen können, ist für uns wichtig, alles andere wird sich finden.
Nachdem wir uns frisch gemacht haben gehen wir in eine Pizzeria. Einen Salat und eine Pizza für jeden von uns. Was für ein Abendessen, das können wir aus finanzieller Sicht nicht ständig machen. Wir beschließen, dass es auch mal mit Brötchen und einem paar Knacker gehen muss.
Beim Bezahlen stelle ich mich wieder einmal etwas dämlich an, was das Trinkgeld betrifft. Ich fühle mich oft so unbeholfen! Mache so viele Fehler! Manchmal denke ich, ich sollte besser zu Hause bleiben, zu tun habe ich da auch genug.
Unser neuer Wahlspruch bestätigt sich erneut. Ich musste in der Nacht nicht das Klo aufsuchen und Sabine kommt auch gut die Treppe herunter am Morgen.
Gleich mit Sack und Pack gehen wir dann zu einer Bäckerei, um zu frühstücken. Die wichtigste Mahlzeit für uns beide. Wenigstens zwei belebende Kaffee und ein gefüllter Magen bringen uns dann gut über den Tag.
Der für den Vortag angekündigte Regen kam in der Nacht runter und die Feuchtigkeit hängt als Nebel in der Luft.
So wie der Dunst war auch meine Stimmung. Niedergedrückt stelle ich wieder einmal alles infrage. Mich und auch diese Tour. Der Rucksack erscheint mir schwer, das Laufen auch, meine Gedanken sowieso. So wird dieser achte Tag das, was sonst mein neunter Tag ist! Dass ich mich aber auch immer so in etwas hineinsteigern muss! Vor allem, wenn ich Fehler bei mir erkenne. Wie sagt man so schön: „Alter schützt vor Torheit nicht.“
Vermutlich ziehe ich Sabine auch mit runter und wir machen auf dieser Etappe mehr Pausen als sonst. In Ermangelung einer Bank die erste Rast auf Baumstämmen am Wegesrand. Nass sind sie, vom Regen der Nacht und ungeschützt vor dem kühlen Wind ist die Stelle. Wir hätten besser noch ein Stück laufen sollen, denn wie wir dann sehen ist kaum zwanzig Meter weiter eine Bank unter Bäumen, die vor dem Wind schützen. Und es kommt noch besser. Nach etwa hundert Metern finden wir dann eine sehr schöne Rastmöglichkeit. Sogar ein Relaxliege für zwei Personen ist vorhanden.
Man könnte denken, wenn man negative Gedanken mit sich herumschleppt, wirkt sich das auch auf alles andere aus.
Die Landschaft, die wir durchwandern, ist wunderschön und wäre meine Stimmung besser und der immer noch kalte Wind nicht, könnte es der perfekte Tag sein.
Wenn man Augen und Ohren offen hält kann man in vielem etwas Einmaliges erkennen. Zum Beispiel eine Birke am Wegesrand, deren belaubte Krone wie ein Herz geformt ist.
Oder der Kuckuck, der uns auch auf dieser Etappe mit seinem Ruf begleitet.
Auf halber Strecke machen wir Rast an der Quelle des „Roten Main“. Eigentlich ein idyllischer Ort mitten im Wald, doch die Stimmen der Vögel werden fast übertönt von den Windrädern, die unweit des Platzes in größerer Zahl stehen.
Nach knapp 24km erreichen wir unser heutiges Etappenziel Pegnitz und ich stelle fest, dass ich jetzt ähnliche Grenzen habe wie Sabine. Vor acht Jahren bin ich diese Tagesstrecke und die, die morgen folgt, an einem Tag gelaufen. Für mich jetzt undenkbar!
Unsere Unterkunft ist diesmal im Gemeindezentrum der evangelischen Kirche. Zwei Feldbetten in einem großen Jugendgruppenraum sind unsere Schlafstelle. Dusche, WC, Waschbecken und sogar eine kleine Küche, die wir benutzen können, am Ende des langen Flures. Und das alles für eine Spende, deren Höhe wir selbst festlegen können. Ein großes Dankeschön an die evangelische Kirchgemeinde von Pegnitz!
Sonntag, unser neunter Tag! Mein innerer Wecker funktioniert tadellos. Spätestens um 06:00Uhr werde ich jeden Tag munter und wecke danach meine Frau.
Um die Stimmung zu heben, lassen wir es uns heute mal gutgehen, legen wir fest. Oder liegt das nur an mir und ich will mich damit aus dem Tief ziehen?
Egal, die Reisekasse wird es mir zwar übelnehmen, aber die Laune bessert sich in den nächsten vierundzwanzig Stunden auf jeden Fall.
Im REWE-Markt von Pegnitz finden wir eine Bäckerei, die auch schon am Sonntag um 07:00Uhr geöffnet hat. Ich bestelle zwei große Kaffee, eine große Zimtschnecke und eine Quarktasche. Als ich Sabine anblicke, damit sie ihren Essenswunsch äußert, sehen wir, dass die Verkäuferin meine Bestellung auf zwei Teller aufteilen will.
„Nein nein, das ist für ihn, ich möchte …“ Was Sabine für sich bestellt, weiß ich nicht mehr, aber das Gesicht der Verkäuferin ist köstlich. So in der Art; wie kann der denn am Morgen so viel in sich hineinstopfen.
Wenn sie da schon gewusst hätte, dass ich mir kurz darauf noch etwas hole, weil ich mich noch nicht gesättigt fühle …
Ein weiterer Kaffee kommt auch noch hinzu, dann brechen wir auf.
Aus Pegnitz heraus geht es erst einmal über eine längere Strecke steil bergauf. Im weiteren Verlauf dann die meiste Zeit durch schöne Wälder. Das Wetter meint es auch gut mit uns. Es bleibt trocken und vielfach sonnig. Nur der Wind ist nicht so der Renner. Ohne Jacke ist es einfach zu kalt!
Die Wegführung ist in der Regel schon sinnig. Zum einen orientiert sie sich an den alten Trassen, die auch von den Pilgern im Mittelalter genutzt wurden, inzwischen aber oft von Straßen belegt sind. Um denen auszuweichen geht es deshalb oft auf Wanderwegen durch Wald und Flur.
Zum anderen soll dem Wanderer/Pilgernden auch Sehenswertes gezeigt werden, weshalb es oft durch schöne alte Städte wie Betzenstein geht. Oder Burgen/Burgruinen angesteuert werden. Was wir aber inzwischen oft auslassen, wie auch die Burg von Betzenstein.
Das hat mehrere Gründe. Oft müsste man dann einen Umweg laufen, oder steile Anstiege überwinden. Der Hauptgrund ist aber in unserem allgemeinen Vorhaben begründet. Wir haben uns ja einen weiten Weg vorgenommen. Nehmen wir da alles mit, was uns geboten wird, müssen wir unsere Tagesetappen einkürzen, denn es nimmt immer einige Zeit in Anspruch, so eine Burg oder Stadt zu erkunden. Außerdem werden dadurch Etappen von zwanzig Kilometern auch schnell mal ein paar Kilometer länger. Es würden also mehr Übernachtungen anfallen, was Kosten und Reisedauer in die Höhe treibt.
Wir versuchen deshalb zu selektieren, was uns wichtig ist und nehmen nur diese Sehenswürdigkeiten mit, die uns sehr ansprechen. Was auch die Kirchen betrifft, in die wir nicht in jedem Fall gehen, obwohl der Pilgerweg immer an ihnen vorbeiführt. Man kann auf so einem Weg auch nicht alle Eindrücke abspeichern, was ich besonders jetzt beim Schreiben merke. Vielleicht auch ein Grund, warum ich es so kurz nach unserer Reise in Worte fasse und versuche, die Erinnerungen aus Gedächtnis, Tagebüchern und Blog zusammenzufassen.
Unser heutiges Ziel ist der Landgasthof Fischer in Stierberg, wo ich auch schon 2017 übernachtet habe. Im Gegensatz zu damals werden wir diesmal im Bettenlager übernachten. Vor acht Jahren war ich nach einer Etappe von über vierzig Kilometern ganz schön geschafft und das Bettenlager fast vollständig belegt. Außerdem war es der Tag, an dem ich alles infrage gestellt habe. Zumal ich damals zwei Tage zuvor meinen Pilgerausweis angesetzt hatte. Um nicht gleich aufzustecken, hatte ich deshalb vom Bettenlager aufs Zimmer umgeschwenkt. Im Nachhinein gesehen war es damals die richtige Entscheidung gewesen, denn wie ich von zwei Pilgerinnen dann erfahren habe, hatten sie in dieser Nacht wenig Ruhe gefunden. Eine Gruppe Radfahrer hatte diese Nacht wohl zum Tag erklärt.
Beim Einchecken erfahren wir, dass niemand weiter im Bettenlager ist. Die anderen zehn Betten sind unbelegt, weil alle an diesem Tag abgereist sind.
Wir sind mehr als positiv überrascht, als wir eintreten. Der große Raum unterm Dach ist blitzblank geputzt, wirkt fast neu. Es stehen Badetuch, Handtuch, Waschlappen und Duschvorleger für jedes Bett zur Verfügung. Neben jedem Bett ist ein absperrbarer Schrank, in dem wir unsere Rucksäcke verstauen können. In der Mitte des Raumes befindet sich langer Balken mit Kleiderhaken und Kleiderbügeln.
Dusche, Waschgelegenheit und WC sind allerdings im Untergeschoss und nur über eine Außentreppe zu erreichen. Auch dort ist alles sauber und sogar Duschgel in einem Spender vorhanden. Der einzige kleine Mangel ist, es sind nur eine Dusche und Waschbecken/WC je Geschlecht für die zwölf Betten vorhanden. Bei Vollbelegung ist dann halt Warten angesagt. Man kann aber auch die WCs und Waschbecken der Gaststätte mit benutzen. Wir haben da schon ganz andere Matratzenlager gesehen. Für fünfzehn Euro pro Person und Nacht ist das nach unserer Ansicht topp. In einer Jugendherberge bezahlt man allein fürs Handtuch fünf Euro zusätzlich.
Wir wollen es uns ja gut gehen lassen an diesem Sonntag und gehen, nachdem wir uns frisch gemacht haben, ins Haupthaus. Zum ersten Mal seit über einer Woche Kaffee und Kuchen am Nachmittag. Ich will es so und brauche das auch an diesem Tag, dennoch nagt tief in mir das schlechte Gewissen, beim Gedanken an die Reisekasse. Noch schlimmer wird es, als wir dann später auch noch ein ordentliches Abendessen im Gasthof zu uns nehmen.
Da liegen sich Vernunft und Bedürfnisse heftig in der Wolle!
Zwischendurch haben wir Tagebuch und Blog geschrieben, dabei jedoch schon festgestellt, dass es im Bettenlager ganz schön frisch ist. Nachts kühlt es ja immer noch bis fast zum Gefrierpunkt ab und tagsüber weht der kalte Wind, kein Wunder also. Sabine braucht zum Schlafen noch die parat liegende Wolldecke über ihrem Schlafsack und ich verzichte darauf, mich bloß mit dem Schlafsack zuzudecken. Dieses Mal krieche hinein und ziehe den Reißverschluss bis fast ans Kinn hoch. Erst später in der Nacht wird mir dann so warm, dass ich den Reißverschluss wieder öffne.
Um zu sparen, hätten wir auf bereitliegenden Listen aufführen können, was wir am Morgen vom Becker haben wollen. Die Gäste, die auf der angrenzenden Wiese zelten, haben das sicher getan. Wasserkocher, Spüle, Tisch und Sitzgelegenheiten sind ja vorhanden. Ich weiß aber, was für ein tolles Frühstück wir für vierzehn Euro pro Person im Gastraum bekommen können. Etwas, was ich meiner Frau und mir auf jeden Fall gönnen will!
Frische Brötchen, fünfzehn selbstgemachte Marmeladen, frisch gekochte Eier, Wurst, Käse, Jogurt, Müsli, frisches Obst … Also alles was das Herz begehrt, man möchte mehr essen als reingeht.
Fazit: Wir haben es für unsere Verhältnisse krachen lassen an diesem Sonntag inclusive Montagmorgen. Nichtahnend, dass es im Laufe unserer Reise noch öfter, ungeplant, zu ähnliche Tageskosten kommen wird.