
Die Entscheidung
Fribourg hat eine sehenswerte Altstadt und weil die Entscheidung über das Ende unserer Tour getroffen ist, kann ich sie nach unserem Gespräch auf der Steinbank auch in mich aufnehmen. In der Kathedrale Sankt Nicolas fügen wir unserem Pilgerpass einen weiteren Stempel hinzu, danach geht es weiter in Richtung Posieux.
Vorerst allerdings noch ellenlang durch die Stadt. Zuerst auf einer schnurgeraden Flaniermeile, durch Massen von Touristen, in Richtung Bahnhof. Und auch diesmal merke ich, es ist überhaupt nicht mein Ding, mich so verschwitzt mit Rucksack durch nach Parfum duftende Menschen zu schieben. Irgendwie haben sich da die jetzt geltenden Vorstellungen tief in mir festgefressen. Ich schäme mich, nach Schweiß zu riechen und nicht zu duften wie die Masse. Es ist mir unangenehm, mich mit meinem Gepäck und in Funktionskleidung – die durch 12kg weniger Gewicht, an mir herumschlottert – zwischen den gut gekleideten Menschen zu bewegen. Da habe ich wohl gewisse Wertesysteme voll verinnerlicht, die mir früher nicht zu eigen waren.
Ich denke, da muss ich sehr an mir arbeiten, um meine Selbstachtung nicht zu verlieren!
Ein Eis gönnen wir uns trotzdem auf dieser verkehrsberuhigten Straße.
Der Bahnhof liegt hinter uns und auch eine anscheinend nicht enden wollende Vorstadt, die von der Bebauung her kaum einen Unterschied zu bekannten deutschen Städten aufweist. In Sichtweite taucht ein riesiges Einkaufszentrum auf. Da können wir uns unser Standard Abendessen holen. Meine Hoffnung, dass diesmal Sabine geht, wird nicht erfüllt. Sie meint:
„Geh doch bitte du. Du weißt, wo du das in diesem Supermarkt findest. Hast es ja bisher schon immer gemacht.“
Ich will nicht schon wieder Missstimmung aufkommen lassen, also trotte ich los, nachdem sie mit unserem Gepäck auf einer im Schatten stehenden Bank Platz genommen hat.
Ohh Mann, das ist ja jetzt noch viel schlimmer als im Stadtzentrum. Mein Shirt zeigt kaum eine trockene Stelle, die Hose ist auch nass, dort wo der Rucksack anlag. Vielleicht sieht man da auch die weißen Schweißränder, wie ist mir das peinlich! Der Schweiß tropft mir aus dem Bart, als ich durchs Parkhaus dem Supermarktzugang entgegen strebe. Jetzt heißt es Augen zu und durch!
Es dauert ein Stück, bis ich in diesem sehr großen Markt das gewünschte gefunden habe und dann … keine Kasse ist besetzt, alle Kunden stehen an irgendwelchen Self-Checkout-Terminals, die ich noch nie benutzt habe. Hier in der Schweiz will ich damit auch nicht anfangen, also strebe ich zögerlich einer unbesetzten Kasse zu und habe Glück. Eine Familie mit übervollem Einkaufswagen erreicht vor mir die Kasse und eine Kassiererin kommt hinzu.
Zurück bei meiner Frau verstaue ich den Einkauf im Rucksack, trinke noch etwas und es geht weiter, durch den angrenzenden Park. Was für eine Erholung nach der Stadt!
Wir queren einen Fluss auf einer alten Bogenbrücke. Das Bauwerk aus Pflastersteinen sieht aus, als wäre es schon in der Römerzeit erbaut. Nach dem Straßenbelag her zu urteilen jedenfalls, denn der ist wie die alten Römerstraßen, auf denen wir am Vortag gelaufen sind.
Am anderen Ende steht eine kleine Kapelle, dann geht es wieder kräftig bergauf. Warum nur muss es immer zum Ende der Etappe noch mal einen Anstieg geben.
Wir queren eine Straße und nur wenige Schritte weiter sagt meine Frau:
„Wart mal, das Gebäude da drüben könnte vielleicht schon unser Quartier sein. Ich will mal auf den Wegweisern hier unten nachlesen.“ Ich bleibe stehen und Sabine kommt kurz darauf enttäuscht zurück. „Nein, das steht nichts von Froideville oder Maison des Anges dran. Da wird’s wohl doch erst nach dem Wald da oben kommen.“
Also weiter unter der sengenden Sonne, den Wiesenweg hoch in einen schönen Laubwald. Endlich Schatten und ein wunderbarer Hohlweg. Ein richtiges Highlight zum Ende des Tages!
Hmmm, aber jetzt sind wir auf dem Höhenkamm und sehen schon Posieux vor uns. Das kann doch nicht sein, es ist auch kein Hinweis auf das Schloss zu finden. Links geht die Variante zur Abbaye Hauterive ab, aber man soll das Schloss eigentlich vom Weg aus sehen können und es liegt rechts vom Pilgerweg.
„Dort unten ist ein größerer Gebäudekomplex, vielleicht ist es das“, meint Sabine.
Also los, den Hang runter, ein Stück an einer viel befahrenen Straße entlang und was ist es? Kein Schloss, nein ein sehr großes Bauerngut.
Ein Jungbauer läuft uns über den Weg und wir fragen nach dem Schloss. Es ist ein wenig schwierig uns mit ihm zu verständigen, da er nur wenig deutsch beherrscht, aber wir erfahren, dass wir wieder zurück müssen. Es war doch dieses Gebäude vor dem Wiesenhang. Eine alte Bäuerin – klingt schon komisch, wenn ich das mit meinen 66 Jahren sage, aber sie war sicher um einiges älter – kommt hinzu und sie kann besser deutsch.
Die Frau bestätigt die Aussage des Jungbauern, interessiert sich aber sehr fürs Pilgern und unseren Weg. Ein kurzes Gespräch bahnt sich an und am Ende legt sie uns noch nahe, die auf dem Grundstück stehende kleine Kapelle zu besuchen. Wir tun es und es ist auch ein schmuckes Kleinod, aber jetzt wollen wir doch endlich zu unserm Quartier.
Wir stapfen also wieder den Hang hinauf, ein kurzes Stück durch den Wald und dann gleich quer über die Wiese mit dem schon auf Schwad gelegtem Heu. Und siehe da, wir sind wirklich richtig hier, auch wenn auf dem Wegweiser vorn an der Straße nichts davon stand.
Das ärgerliche an der Sache ist, dass es nicht hätte sein müssen. Ich war an diesem Tag so mit mir beschäftigt, dass ich keine Muse hatte, mich richtig mit der Unterkunft zu beschäftigen. Ich habe alles Sabine überlassen und auch nicht in den Wanderführer geschaut. Es hätte ja schon gereicht mal etwas intensiver in Google Maps nachzusehen, da ist Maison des Anges ausgewiesen. Auch das habe ich nicht gemacht, weil ich kaum noch aufs Handy geguckt habe. Es ließ sich durch das grelle Sonnenlicht alles schlecht erkennen und die Lesebrille wollte ich mir nicht immer von Sabine aus der oberen Rucksacktasche geben lassen. Seit ich sie nicht mehr in der Bauchgurttasche habe, scheuert der Gurt zwar meine Hüfte nicht mehr auf, aber ich habe noch nicht den richtigen neuen Platz für die Brille gefunden. So ein Mist mit Lesebrille und Fernbrille. Wenn ich die Fernbrille jetzt doch mehr brauche, muss ich vielleicht doch bald auf eine Gleitsichtbrille umsteigen.
Aber … hätte, hätte … es ist wie es ist und ich bin auch nicht wirklich deprimiert wegen dem Verlaufen. Wir sind angekommen und das nicht einmal sehr spät, also alles gut! Oder doch nicht?
Was ich bei all meinen anderen Gedanken nicht auf dem Schirm habe, sind die Erfahrungen die wir beim Pilgern auf der Via Regia mit alten Schlössern gemacht haben.
Zum Beispiel das Matratzenlager im Schloss Schönfeld 2017, wo ich bei unserer Ankunft erst einmal eine Kehrschaufel voll Dreck zusammengefegt habe. Dann erst haben wir die Matratzen vom Stapel genommen und auf dem Boden ausgelegt. Auch der Wasserkocher lief dort aus, obwohl er am Strom angeschlossen war. Es gäbe da noch mehr zu sagen, aber das ist ja Geschichte.
Oder das Schloss in Frankleben. Ich habe damals in mein Tagebuch geschrieben: „Die Unterkunft war sehr rustikal.“ Eigentlich die Untertreibung des Tages, denn es war alles so schmuddelig, dass wir es nicht gewagt haben in den gemachten Betten zu schlafen, auf denen schon eine Staubschicht lag. Da haben wir die Couch vorgezogen, weil wir 2022 ja schon die Leinenlaken im Rucksack hatten. Die darauf ausgebreitet und im Schlafsack geschlafen, war uns dann viel lieber.
Sabine denkt aber an diese Erfahrungen und befürchtet ähnliche hier zu machen. Auch hier hätte eine nähere Recherche diese Befürchtungen schnell zerstreuen können, aber ich habe sie ja mit der Quartiersuche allein gelassen. Soll heißen, ich habe nur die Adresse herausgesucht und nach der Bewertung im Wanderführer geschaut, war ich doch zu sehr mit mir beschäftig die letzten Tage.
Die Ängste meiner Frau erweisen sich aber sehr schnell als gegenstandslos. Wir klingeln, aber es ist anscheinend niemand da. Im Foyer auf einem Tischchen, steht eine Schale. Ein darin liegender Schlüssel mit angehängtem Zettel und Zimmernummer, weist ihn uns zu.
Wir nehmen ihn und machen uns auf zum Seiteneingang, doch da kommt schon ein Mann ums Haus, der uns freundlich begrüßt. Er spricht nur gebrochen Deutsch, doch vollkommen ausreichend.
Im Erdgeschoss zeigt er uns gleich, wo wir am nächsten Morgen Frühstück bekommen und alles wirkt wie in einem guten Hotel. Danach in die zweite Etage zum großen Doppelzimmer, das wir beziehen dürfen. Also alles wie im Hotel, nur WC und Dusche sind außerhalb des Zimmers über den Flur. Ein Sanitärbereich für alle Zimmer auf dieser Etage, aber alles top sauber. Frisch bezogene Betten, Handtücher und das alles zum Pilgerpreis. Eine wirklich tolle Unterkunft, die Sabines Befürchtungen ad absurdum führen.

Wir haben uns frisch gemacht und sogar noch Strümpfe, sowie mein Shirt gewaschen, damit ich zum Laufen am nächsten Tag nicht das Wechsel-T-Shirt anziehen muss. Die Sachen hängen zum Trocknen über einem Zaun in der Sonne und wir sitzen an einem Tisch vor dem Schloss, während wir uns Brötchen und Landjäger schmecken lassen.
Eine Frau kommt auf uns zu, die viel Ähnlichkeit mit einer guten Freundin von uns hat. Es ist die Inhaberin des Etablissements erfahren wir und sie spricht fast perfekt deutsch. Wir werden herzlich begrüßt und sie fragt, ob alles zu unserer Zufriedenheit ist.
Natürlich ist es das, denn das ganze Ambiente hier ist wirklich toll. Wir hätten sogar den Pool benutzen dürfen, wenn es nicht gerade Probleme mit dem Wasser darin gäbe.
Nachdem wir uns noch ein Stück unterhalten haben, geht sie zum Nebentisch, an dem der junge Pilger sitzt, den wir schon vor Schwarzenburg getroffen haben. Auch ihn begrüßt sie genauso herzlich.
Die Bewertung von „Maison des Anges“ im Wandführer ist auf keinen Fall übertrieben.
Weitere Gäste tauchen auf und werden ebenso begrüßt. Jetzt kommen wir auch mit dem jungen Mann ins Gespräch. Es sind ja keine jungen Hühner da, die umworben werden müssen.
Wir erfahren, dass er vorhat bis Genf zu laufen und dann bis Spanien mit dem Zug fahren will. Ob er dann den Camino Francés läuft weiß er noch nicht. Vermutlich wird es eher der Camino del Norte, weil der nicht so überlaufen ist, meint er.
Naja, vielleicht sehen wir uns ja morgen auf der Strecke, obwohl wir immer noch keine Antworten auf die weiteren Quartieranfragen haben. Aber die Hoffnung stirbt zuletzt, sagt man ja so schön.
Es ist spät geworden und wir sind im Zimmer. Blog und Tagebuch haben wir noch draußen in der milden Abendluft geschrieben. Immer noch keine Antworten auf die Anfragen in Romont. Zu dumm, dass wir kein Französisch sprechen und anrufen können. Auf gut Glück wollen wir aber unsere Reise nicht fortsetzen und so entschießen wir uns gegen 21:00Uhr schon hier die Pilgertour für dieses Jahr abzubrechen.