Leider kaum zu erkennen, aber schon früh sind wieder Gleitschirme vom Berg gestartet.

Gut Ralligen

Tag 42: Als wir unsere Rucksäcke aus dem Zimmer holen komme ich mit dem Schweizer, der mit im Zimmer geschlafen hat, ins Gespräch. Er ist begeisterter Mountainbiker und will von hier aus zu Bergtouren starten.
Auch die Preise für Übernachtungen in Interlaken werden angesprochen und er gesteht, dass er auch sehr von der Höhe überrascht war. Doch eine Erklärung dafür hat er auch gefunden. Zur Zeit läuft die Tour de Suisse 2025 mit zahlreichen Veranstaltungen drum herum, was viele Touristen anlockt. Die Hotelbranche regiert natürlich preislich auf so etwas und die günstigen Quartiere sind schnell weg.

Wir sind wieder unterwegs, aber es ist nicht mein Tag. Irgendwie ist meine Kondition heute deutlich schlechter als an den Vortagen, was vermutlich an der kurzen Nacht liegt. Gefühlt habe ich nur 3 oder 4 Stunden geschlafen und das hängt mir doch an.
Aus Interlaken heraus haben wir noch einmal wunderbare Blicke auf die hohen Gipfel, die die Stadt auf zwei Seiten einrahmen. Kein Wunder, dass die Stadt bei Touristen so beliebt ist, bei dergleichen Sehenswürdigkeiten.

Gipfel

Ach ja, wie haben wir doch am Anfang unserer Pilgertour manchmal über den kalten Wind gestöhnt, jetzt würden wir uns doch sehr über ein kleines Lüftchen freuen. Die Temperaturen steigen schnell an, als wir am Thunersee entlang laufen. Doch es ist erträglich, da keine sehr großen Steigungen dabei sind.
Auf einem schönen Uferweg erreichen wir den Schiffsanleger in der Beatenbucht und ja, hier geht’s am See nicht weiter.

Schiffsanleger

Vor uns liegt ein Steilhang, den wir weiter oben überqueren müssen. Wie lieben wir es doch Treppen steigen zu müssen, mit unserem Rucksack auf dem Rücken. 
Zur Krönung kommt gerade noch eine Fähre an, der ein Pulk Touristen entsteigt. Sie alle wollen anscheinend den Berg hinauf zu den Beatus-Höhlen. Gute Fuhre, muss das sein, dass wir zwischen aufgeregt schwatzenden Asiaten keuchend den Anstieg bewältigen?
Wir erreichen die Seestraße und ein großer Teil der Touris hat uns überholt, nur eine asiatische Familie mit drei Kindern ist noch knapp hinter uns. Die Kinder haben anscheinend keine Lust mehr weiter hochzusteigen und man macht eine Pause. Die Gelegenheit, wieder etwas Abstand zwischen ihnen und uns zu gewinnen.
Auf der Straße geht es nicht weiter, denn die führt in einen Tunnel. Wir müssen weiter nach oben über eine aus dem Stein gehauene Treppe. Natürlich auch im prallen Sonnenschein und schon wieder sind wir klatschnass vom Schweiß.

Steintreppe

Die Ausblicke sind allerdings gigantisch auf den See und die gegenüberliegende Alpenlandschaft, das muss man dazusagen. Das entschädigt natürlich sehr!
Ich betrachte das gegenüberliegende Ufer und stelle die Streckenführung infrage. Warum zum Kuckuck müssen wir solche Anstiege meistern, wenn es doch auf der anderen Seite des Sees viel bequemer zu laufen wäre? Also, so wirkt es jedenfalls von hier aus und wir müssen ja dann später sowieso auf die andere Seite des Sees.
Bei näherer Recherche erklärt es sich aber. Was ich vom Aussichtspunkt aus nicht erkenne, ist der Steilhang vor Därligen auf der anderen Seite. Auch dort führt die Uferstraße ein Stück durch einen Tunnel und Wanderer müssen weit den Berg hinauf, um diese Passage zu umgehen. Also, wie sagt man so schön, gehupft wie gesprungen. 🙂
Die Beatus-Höhlen sind sicher eine Besichtigung wert, aber mal ehrlich, welcher Pilger wird das mit seinem Gepäck auf dem Rücken tun? Wir jedenfalls nicht.

Beatushöhlen

Die Hoffnung, dass es nun wieder runter geht erweist sich als Trugschluss.

Fußgängerbrücke

Es geht weiter den Berg hinauf und an einem gigantischen Steinbruch entlang. Da hat man sich aber tief in den Berg gefressen!

Wir erreichen Merligen und ich nehme an gleich am Ziel zu sein, als wir am Fährhafen anlangen. Doch erst einen Blick auf den Fahrplan werfen und der ernüchtert ganz schön. Die erste Fähre nach Spiez legt um 12:05Uhr ab. Meine Güte, wenn wir erst zu Mittag übersetzen können, kommen wir ja am nächsten Tag nicht weit. Das wirft die Streckenplanung ganz schön zurück.
Auch die Hoffnung, jetzt schon am Ziel zu sein, erweist sich als Traum. Das Gut Ralligen ist noch ein Stück außerhalb von Merligen in Richtung Thun. Na toll, da müssen wir morgen auch wieder ellenlang zurücklaufen, denke ich. Meine Motivation bekommt Risse!
Sabine merkt das wohl und hatte ja gestern, als sie die Übernachtung in Ralligen festgemacht hat, auch schon angedeutet, dass sie an einen Abbruch hier denkt. Von Spiez aus gäbe es die Möglichkeit per Bahn die Heimreise anzutreten. Nun gut, erst einmal drüber schlafen, dann sehen wir weiter.

Das Gut Ralligen ganz am Ende von Merligen ist ein Traum von einer Pilgerherberge! Richtig erkennen tun wir das aber nicht sofort. Erst einmal müssen wir ein Stück auf den Hospitalero warten, weil wir wieder einmal sehr zeitig angekommen sind. Es waren ja auch nur etwas mehr als 15km bis hier her.
Die Aufnahme ist so herzlich wie wir es schon in anderen Herbergen erlebt haben und unser Pilgerzimmer ist ein Traum. Ein kleines liebevoll eingerichtetes Häuschen neben dem Hauptgebäude. Im Erdgeschoss ein schönes Zimmer mit einem Doppelstockbett und in der Etage darüber ein größeres Zimmer mit zwei Doppelstockbetten. Wir können wählen, weil wir bisher die einzigen Pilger sind und nehmen das untere Zimmer, da es darin kühler ist.

Pilgerhäuschen

Der Hospitalero führt uns anschließend durchs gesamte Haus und einen Teil des angrenzenden Geländes.

Ralligen

Dabei treffen wir auch den Bruder Thomas, der das Gästehaus der Christusträger Bruderschaft in Ralligen leitet. Er hat eigentlich zu tun und will weiter, aber ich will noch Grüße von meinem Bruder loswerden, der hier schon Seminare geleitet hat. Kaum habe ich die bestellt, überzieht ein Lächeln sein Gesicht.
„Ahh, du bist der pilgernde Bruder. Ja, Friedhold ist ein feiner Kerl und wir haben gute Gespräche geführt, in denen er auch von dir berichtet hat. Wo seid ihr denn gestartet zu eurer Pilgertour?“
„Von zu Hause aus vor 42 Tagen.“
„Oh, ordentlich! Da seid ihr aber schon lange unterwegs und wo ist euer Ziel?“, fragt er sehr interessiert.
„Eigentlich“, ich muss verhalten auflachen, „eigentlich war das mal Santiago, aber inzwischen wissen wir nicht einmal ob es morgen überhaupt weiter geht.“
„Wieso das?“, fragt er mit in Falten gelegter Stirn.
„Weil aus verschiedenen Gründen die Luft gerade etwas raus ist“, gestehe ich. „Wir müssen unsere ganze Etappenplanung überarbeiten und haben noch keinen Plan wo wir die nächsten Nächte unterkommen können. Zudem ist auch die Motivation gerade am Boden.“
„Warum macht ihr nicht einen Tag Pause hier? Ihr könntet euch dann etwas erholen und weiter planen“, unterbreitet er ganz spontan.
Wow, was für ein Angebot! Es ist eigentlich die Regel, dass man in einer Pilgerherberge nur eine Nacht verbringt. Ein Ruhetag jetzt wäre sicherlich gut und ich blicke Sabine fragend an.
„Wir denken darüber nach“, antworte ich dann, weil ich mit ihr erst darüber sprechen möchte.
„Macht das, aber ich muss jetzt weiter. Vielleicht können wir uns später noch mal unterhalten.“
Kaum ist die Tür zu seinem Arbeitszimmer zu, als der Hospitalero, der neben uns steht, sagt:
„Das müsst ihr unbedingt annehmen! Ich habe es erst einmal erlebt, dass er so einen Vorschlag gemacht hat und das war ein besonderer Fall. In eurem Zimmer findet ihr auch Unterkunftslisten, die könnt ihr euch abfotografieren. Außerdem, wenn ihr bis Santiago laufen wollt, bezahlt ihr für die Übernachtung pro Person 10 Franken weniger.“
„Das können wir aber nicht versprechen. Wir haben uns inzwischen darauf verlegt, uns Zwischenziele zu setzen und das nächste wäre eigentlich Fribourg.“
Trotzdem ist der Mann ganz aus dem Häuschen und Argumente, hier zu pausieren, sprudeln nur so aus ihm heraus.
Wir könnten die Badestelle am See nutzen, die zum Objekt gehört und da in Ruhe drüber nachdenken, ist ein Vorschlag davon. Wir zögern jedoch, weil wir nicht ganz so spontan sind, wie das Angebot kam.
Das sagen wir ihm auch so und bekommen von ihm gleichzeitig eine Entwarnung wegen der Fähre. Wir müssen nicht wieder so weit zurücklaufen und können in Gunten, dem nächsten Ort von hier aus, auch früher übersetzen. Die erste Fähre nach Spiez legt da schon um 10:15Uhr ab. Zwar auch etwas spät für unsere Begriffe, aber immer noch besser als erst zu Mittag.
Was wir aber gleich annehmen, ist die Möglichkeit unsere verschwitzten Sachen in eine Waschmaschine zu stecken. Das ist auch dringend nötig denn schon in Interlaken waren nach dem Trocknen die weißen Schweißränder bei Shirt und Hose deutlich zu sehen. Müffeln tun die Sachen natürlich auch gehörig.

Nachdem wir uns frisch gemacht haben, sitzen wir in unserm Zimmer am Tisch und besprechen den Vorschlag. Er hat etwas, was wieder motiviert, auch wenn wir dann einen Tag Kosten haben ohne vorwärts zu kommen. In diesem Zusammenhang müssen wir über eine naive Vorstellung schmunzeln, die im Vorfeld unserer Tour aufkam.
Eine Bekannte von Sabine schlug euphorisch vor:
„Und wenn ihr Mal keinen Bock mehr habt, dann macht ihr einfach an einem schönen Ort eine Woche Pause und dann geht’s weiter.“
Eigentlich ein schöner Gedanke. Zum Beispiel hier wäre eine ideale Gegend für so etwas, doch finanziell für uns nicht tragbar. Doch dieser eine Tag könnte es sein!
Ich nehme mir das Blatt mit meiner Etappenplanung und den Wanderführer vor und beginne neue, von uns zu bewältigende Strecken herauszuarbeiten. Es gibt wieder Motivation und den Ruhetag nehmen wir an.
Baden gehen wir heute nicht mehr, dafür beschäftigen wir uns mit der weiteren Planung, der Wäsche – meine Kompressionsstrümpfe muss ich ja mit der Hand auswaschen – und genießen das tolle Ambiente. Es gibt so viel zu sehen hier. Nicht nur die umgebende Landschaft, auch das gesamte Gut ist ein einziger Hingucker. Da gibt es auch viele kleine Überraschungen, wie zum Beispiel die kleinen grünen Eidechsen, die sich auf den Plattenwegen sonnen. Kommt man ihnen zu nahe, huschen sie eilig in die gut gepflegten Rabatten.

Ich bekomme wieder Lust, den Weg weiter zu gehen.
Später kommt ungeplant noch ein Pilgerehepaar an. Sie waren auch in Interlaken gestartet, hatten aber auf dem Zeltplatz übernachtet. Wir wundern uns etwas, das sie bei der kurzen Etappe erst so spät ankommen, erfahren aber schnell den Grund. Sie sind unterwegs drei Mal im See schwimmen gewesen. Etwas, was wir uns noch nicht getraut haben. Vielleicht sollten wir auch in dieser Beziehung mutiger werden.

Um 18:00Uhr ist eine Abendandacht in der Kapelle, an der wir teilnehmen und danach gibt es im großen Speiseraum ein tolles Abendessen. Es ist ein Menü für die Teilnehmer einer Freizeit, die am nächsten Morgen abreisen. Wir vier Pilger sind wie selbstverständlich mit dabei. Ein Dank an alle!
Natürlich kommt es auch zu Gesprächen beim Essen. Fragen von den Freizeit Teilnehmern und ein Austausch mit dem anderen Pilgerehepaar, weshalb ich nicht ganz so zügig beim Essen dabei bin.
Hunger habe ich noch und hole mir noch mal nach. Kaum sitze ich, beenden die Brüder das Abendessen und der Leiter der Freizeit spricht noch ein paar Worte. Das Abräumen der Tische schließt sofort an. Hastig schlinge ich den Rest dessen hinunter, was auf meinem Teller ist. Meine Güte, was für eine Hektik.
Jetzt kehrt Ruhe ein. Die Tische sind abgeräumt und fast alle zerstreuen sich im Haus und Gelände. Nur wir vier Pilger sitzen mit dem Hospitalero Ehepaar noch zusammen und teilen Erfahrungen.
Die zwei anderen Pilger werden am nächsten Morgen weiter ziehen und dort übernachten wo wir auch unsere nächste Übernachtung geplant haben. Wir haben uns entschlossen weiter zu gehen.

Tag 43 Ruhetag: Das Frühstück am nächsten Morgen ist für mein Dafürhalten mit 08:30Uhr etwas spät angesetzt, aber heute drängt uns ja nichts. Die anderen Pilger hingegen sind nervös, denn sie müssen noch bis Gunten laufen und wollen mit der ersten Fähre um 10:15Uhr übersetzen.
Naja, am zeitlichen Rahmen des Frühstücks liegt es dann schon mal nicht. Ich lasse mich wieder zu einigen Gesprächen hinreißen und schwups, da wird das Essen schon wieder beendet.
Herrjemine, das ist ja wie bei der Armee, wo es auch eine Zeitbegrenzung zur Essensaufnahme gab. Ich werde das bei den nächsten Mahlzeiten beachten.

Danach, ja da können wir einen wirklichen Ruhetag genießen. Nichts treibt uns. Ohne Druck gelingt es uns, die nächsten drei Übernachtungen festzumachen. Danach gehen wir dann zum See und erfrischen uns bei einem Bad. Schwimmen im Thunersee vor dem Alpenpanorama am gegenüberliegenden Ufer. Da stellt sich Urlaubsfeeling ein.

Baden im See

Um 12:00Uhr finden wir uns zur Mittagsandacht der Brüder ein und werden auch für den Abend eingeladen, wo ein Novize seine Weihe als Bruder bekommen soll. Sabine will das auf jeden Fall erleben.
Auch zum Mittagessen werden wir eingeladen. Das erste richtige Mittagsmahl, seit wir vor zwei Wochen bei meinem Bruder den Pausentag hatten, wird uns das überhaupt bekommen?
Es fühlt sich gut an. So gut, dass wir träge werden und ein Mittagsschläfchen halten. Danach noch einmal zur Badestelle. Schwimmen im leicht aufgewühlten Wasser, weil sich auf der gegenüberliegenden Seite dunkle Wolken zusammenbrauen.

Gewitterwolken

In den Häfen, die wir von hier aus sehen können, blinken die Rundumleuchten, die die Schiffe auf dem See vor Sturm warnen.
Losbrechen tut das Gewitter erst, als wir uns um 18:00Uhr zur Abendandacht in der Kapelle versammeln. Ich bin dann erstaunt, wie locker es bei den Brüdern zugeht, als der Novize seine Weihe empfängt. Also nicht falsch verstehen! Es ist ein bewegender Moment und doch bin ich mit Vorstellungen hingegangen, die nicht eintreten.
Keiner ist im Ornat erschienen, einer sogar in seiner Alltagskleidung. Dennoch wirkt alles feierlich und die Herzlichkeit dabei ist greifbar.
Auch an der Feier danach dürfen wir teilnehmen und es ist dann schon dunkel, als wir in unsere Betten kriechen.

Das Frühstück am Tag unserer Abreise überfordert mich dann kurzzeitig. Wieso gucken die denn alle so und warum ist der eine Platz am Pilgertisch mit Blumen geschmückt?

Frühstückstisch

Als ich endlich begreife, sie wissen, dass ich heute Geburtstag habe, möchte ich mich am liebsten verkriechen. Für mich ist das ein Tag, wie jeder andere, den ich diesmal nur mit meiner Frau teilen wollte.
„Hast du das verraten?“, frage ich Sabine.
Sie druckst erst einmal herum, braucht aber vorerst nicht antworten, weil von den Brüdern ein Geburtstagslied angestimmt wird und danach alle gratulieren. Auch die junge Pilgerin, die am Vorabend noch spät angekommen ist, gratuliert mir und sagt:
„Das ist doch bestimmt etwas Besonderes, wenn man auf so einer Pilgerreise auch noch Geburtstag feiert.“
„Ach, eigentlich nicht für mich. Ich hab’s nicht so mit solchen Tagen. Höchstens weil es der 66igste ist, aber deswegen geht es heute trotzdem weiter.“
Ja und das wird dann hektisch. Nicht wegen der Zeit beim Frühstück, aber weil es auch wieder so spät angesetzt ist und auch noch per Telefon Gratulationen kommen. Wir sehen unsere Fähre in Gedanken schon davonschwimmen, als wir vom Hospitalero Ehepaar das Angebot bekommen, im Auto mitzufahren, weil sie sowieso in diese Richtung fahren wollen. Das war auch gut so, denn zu Fuß wäre es sehr sportlich geworden.
Nochmals ein ganz großes Dankeschön an die Brüder vom Gut Ralligen und das Hospitalero Ehepaar. Wie ich dem Bruder Thomas vor der Abreise schon gesagt habe, ohne den Ruhetag im Gut wären wir vermutlich am nächsten Tag von Spiez aus nach Hause gefahren.

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