
Der Brünigpass
Der Rest von Tag 39: Die Strecke am See entlang erscheint endlos, was vielleicht daran liegt, dass ich sehr nachdenklich geworden bin. Es ist mein großes Minus, in solchen Situationen nur schwer mein Gleichgewicht wieder zu finden. Meine Frau hingegen kann sich viel schneller aus negativen Gedanken befreien. Ihr merke ich bald nichts mehr an.
Vor dem Anstieg zum Kaiserstuhl, besorgen wir in Giswil noch die obligatorischen Brötchen und Landjäger. Danach kommen wir an einem Friedhof vorbei und auf der Rückenlehne einer Bank steht: „Wie geht’s dir?“
Hm, wie geht es uns? Sabine scheint nach außen hin wieder die Alte zu sein. Wie es in ihr drinnen aussieht, kann ich nicht beurteilen. Bei mir zeigen sich kleine Risse in der Motivation, den Wunsch aufzuhören, habe ich aber nicht.
Gleich zu Beginn des Aufstiegs kommt ein Hinweisschild, dass der Wanderweg wegen Straßenbauarbeiten gesperrt ist. Doch das ist kein Problem, denn es kommt gleichzeitig die Ausschilderung eines Alternativweges, inclusive Jakobsweg-Hinweis.
Das finde ich immer wieder genial hier in der Schweiz und da können wir uns in Deutschland eine große Scheibe abschneiden. Man weiß hier, es ist ein Domizil für Wanderer und die werden nicht im Regen stehen gelassen. Auch als es an die Überquerung der Brünigstraße inclusive Baustelle geht, erfahren wir das erneut. Für die Bauarbeiter und weiterführend für die Wanderer, ist eine Holzkonstruktion errichtet worden. Über Stufen kommen wir auf eine Fußgängerhochbrücke, die uns zum alten Wanderweg auf der anderen Seite der Straße bringt.
Geschafft, der erste Teil des Anstieges zum Brünigpass liegt hinter uns und er war weniger anstrengend als gedacht. Also, bis auf die Wärme, die uns enorm ins Schwitzen gebracht hat. Meine 3 Liter Wasser sind fast aufgebraucht.
Vor uns liegt der Lungerersee, dessen Ende wir sehr gut sehen können, weil die Sicht heute gut ist. Auf der gegenüberliegenden Seite befindet sich der bewaldete Bergkamm, über den wir morgen wandern werden. Dahinter sieht man die schneebedeckten Gipfel der höheren Berge. Ein wundervoller Blick in die Alpenlandschaft. Überhaupt habe ich das bisher viel zu wenig gewürdigt in meiner Reisebeschreibung. Diese Wanderung durch die Schweiz ist voller genialer Ausblicke und Eindrücke von einer einzigartigen Landschaft!
Wir haben noch über eine Stunde Zeit, bis wir in unser B&B einchecken können. Um die zu überbrücken, wäre eine Bank nicht schlecht. Der Bahnhof Kaiserstuhl sollte doch eine Möglichkeit bieten.
Naja, bietet er auch. Allerdings ist es eine Bank in der prallen Sonne, wo die Wärme noch von der Hauswand zurückgeworfen wird. Die zweite Sitzgelegenheit wird zum Glück nur noch teilweise von der Sonne beschienen. Nicht unbedingt unser Traum bei den vorherrschenden Temperaturen. Ob wir aber auf den restlichen Metern noch eine finden werden ist ungewiss, also wird es die.
Wir ziehen auch gleich unser Abendessen vor, dann haben wir im Quartier mehr Zeit für Tagebuch und Blog. Während wir die Brötchen und Landjäger verzehren, wandert die Sonne weiter und zum Ende befinden sich nur noch unsere Knie in der Sonne.
Jetzt sitzen wir hier, auf der Terrasse unserer Unterkunft und genießen den Blick in die Landschaft. Nur wenige Meter von uns entfernt schimmert der See in einem intensiven Grün. Nach Auskunft unserer Gastgeber liegt das am Einfall des Sonnenlichts und die Farbe ändert sich bei einem anderen Winkel meist in ein Azurblau.
Wie schön es jetzt nach dem Duschen in der milden Abendluft ist. Die Mühen des Tages sind vergessen und das Bier schmeckt auch, während wir uns mit dem Ehepaar unterhalten.
Morgen geht es über den Brünigpass. Von hier aus sieht die zu überwindende Höhe gar nicht schlimm aus. Na mal sehen.
Tag 40 unserer Reise. Echt jetzt, sind wir schon so lange unterwegs? Man verliert dabei irgendwie den Zeitbezug. Was haben wir heute überhaupt für einen Wochentag? Ahh, Mittwoch, na dann mal los auf zum Pass.
Es ist erst kurz nach 08:00Uhr und eigentlich viel zu zeitig für die kurze Etappe, die heute vor uns liegt. Es sind ja gerade mal 12km, doch andererseits entgehen wir dann vielleicht der größten Hitze beim Laufen.
Wir verabschieden uns herzlich von unserer Gastgeberin und bedanken uns nochmals für das wunderschöne Quartier und gute Frühstück. Ein paar Meter weiter treffen wir den Herrn des Hauses bei der Arbeit auf einer Wiese und wie schon viele Andere zeigt er sich beeindruckt von meinem Wanderstab. Oh ja, dieser Weidenstab ist eine gute Wahl, stelle ich immer wieder fest und hat mir gerade bei Auf- und Abstiegen sehr gute Dienste erwiesen.
Der See liegt hinter uns und wir stehen vor einer Entscheidung. Unsere Gastgeber haben uns empfohlen den alten Saumweg zu nehmen, weil wir dann auf fast der ganzen Strecke schöne Aussichten genießen können. Im Wanderführer – den wir jetzt wieder öfter lesen wollen – ist aber ein alter Römerstieg beschrieben, der zum großen Teil durch Schatten spendenden Wald führt.
Wir entscheiden uns für den im Buch beschriebenen, weil die Sonne schon wieder kräftig auf uns herab scheint. Außerdem hat uns André in einer Mail den Waldweg empfohlen, den er schon am Tag vor uns bewältigt hat.
Die Mail von André, oh ja, über die haben wir uns sehr gefreut und auch über die Mut machenden Worte. Wie im Blog, möchte ich sie auch hier wiedergeben:
Betreff: Der junge Schweizer 🙂
Nachrichtentext:
Hallo Sabine und Joachim
So so kaum bin ich mal nicht da kommt schon schlechte Laune auf 😉
Hoffentlich geht es Sabine gut und sie hat sich bei dem Sturz nicht verletzt 🙏
Die Tour um den Lungernsee wird euch gefallen und der Aufstieg auf den Brünig ist nicht ohne aber immerhin mit vielen Waldwegen.
Nein nein ja nicht aufgeben. Die nächsten Etappen bis Interlaken und am Thunersee sind wunderschön. Die dürft ihr nicht verpassen 😎
Vielen Dank für die lieben Worte im gestrigen Blogbeitrag. Ich bin auch gerne mit euch gepilgert und es war schön euch immer wieder zu treffen. Das werde ich auch vermissen. Ich freue mich eure Reise auf diesem Weg weiter verfolgen zu können. Lasst euch ja nicht stressen. Ihr habt genug Zeit und seid schon weit gekommen. Lasst euch auch nicht vom Französisch abhalten. Das kommt sicher gut. Pas de problem 😁
Liebe Grüsse und weiterhin Buen Camino André
Na, da ist meine Sabine doch gleich wieder viel motivierter bei der Sache. Das Tief von gestern ist bei ihr schon wieder ad acta gelegt. Dass sie so etwas so schnell kann, ist eine der ganz guten Eigenschaften von ihr!
Also los, auf zum Brünig, auf den Spuren der Römerzeit.
Nach nur zwei Stunden haben wir schon die steilsten Anstiege hinter uns und es wird langsam Zeit für eine Pause. Eine im Baumschatten stehende Bank kommt uns da gerade recht. Ohhh, tut die Rast gut. In Ruhe trinken und die Kraft für den nächsten Abschnitt sammeln.
Nach einem Stück fällt mein Blick hinab zu den Füßen und schlagartig komm ich in Bewegung. Sechs oder sieben Zecken krabbeln meine Hosenbeine hinauf. Bei Sabine finden wir zwei.
Das war’s dann mit einer längeren ruhigen Pause, denn in dieser Zeckenhochburg scheint sie nicht angebracht. Diesmal hat es nichts gebracht, dass wir auf einer Bank saßen, die Zecken haben uns trotzdem befallen. Denn eigentlich ist das einer der Gründe, warum wir möglichst nicht auf dem Waldboden sitzen. Sabine hatte ja schon in Deutschland ein paar dieser Plagegeister aufgelesen.
Der Brünigpass belohnt uns mit einem wunderbaren Blick in die Alpenwelt. Schneebedeckte Gipfel, tief eingeschnittene Täler, Wasserfälle am gegenüberliegenden Steilhang und wir werden ja jetzt ins nächste Tal hinabwandern. Da haben wir diese Etappe aber deutlich überschätzt!
Ach nee, der Pilgerweg zeigt uns erst einmal den „Mittelfinger“!
„Die verarschen uns doch“, sag ich zu meiner Frau, als es immer weiter nach oben geht.
Wir hatten wegen des schnellen Aufbruchs bei der Bank nicht mehr im Wanderführer nachgelesen, sonst wäre uns bewusst gewesen, dass wir noch mal circa 100m hochsteigen müssen, bevor es endlich hinab nach Brienzwiler geht.
Jetzt merken wir es halt. Wir laufen über Almwiesen, wo wir wieder einmal beobachten können, dass man auch mit einem Laubbläser Heu wenden und auf Schwad legen kann. Eine weitere Pause wäre jetzt recht und gerade dort, wo der Wald beginnt steht eine Bank. Nur leider ist sie schon von zwei jungen Pilgerinnen besetzt, die gerade ihre Mittagspause machen. Zu einem kurzen Gedankenaustausch kommt es trotzdem, dann gehen wir weiter in einen urwüchsigen Wald.
Der Abstieg ist dann sehr steil und rutschig, jedoch auf einer breiten Steilhangfläche. Da hat Sabine kein Problem damit, nur wenn es auf einem schmalen Pfad dann seitlich steil hinabgeht, plagt sie die Furcht abzustürzen.

Wie es bei dieser kurzen Etappe zu erwarten war, sind wir viel zu zeitig bei der Herberge. Einlass erst ab 16:00Uhr und es ist jetzt erst 13:00Uhr. Aufs Klingeln reagiert niemand, also setzen wir uns auf zwei im Schatten stehende Stühle vor der Herberge und essen unseren Mittagsriegel.
Nach einer Stunde hören wir wie die Tür aufgeschlüsselt wird und wir werden eingelassen. Da sind wir diesmal aber wirklich schon sehr zeitig und können vieles in Angriff nehmen.
Alles mögliche waschen und in der Sonne trocknen lassen. Die nächsten Quartiere fest machen und uns mit dem Hospitalero-Ehepaar bei einem Kaffee austauschen. Auch hier können wir wieder ein Abendessen in Anspruch nehmen, also wieder einmal was anderes als Brötchen und Landjäger essen.
Es bleibt sogar Zeit das Ballenbergmuseum zu besuchen. Ein wirklich sehenswertes Freilichtmuseum, in dem historische Gebäude aus allen Kantonen der Schweiz aufgebaut sind. Vom Schweinestall über die Almhütte bis zur Seilerbahn, ist da alles zu finden. Unmöglich, das in wenigen Stunden zu bewundern. Da reicht nicht mal ein Tag dazu.
Nach dem Abendessen, wir sitzen noch bei „Pilgrim Blond Ale“ zusammen, meldet sich noch ein weiterer Pilger per Telefon an. Während wir mit der Hospitalera noch am Tisch sitzen bleiben, nimmt ihr Mann den Pilger auf.
Kopfschüttelnd kommt der Hospitalero dann zurück.
„Meine Güte, so was Unbedarftes habe ich ja noch nie erlebt. Der Mann ist seit heute Morgen unterwegs. Nach seiner Beschreibung etwas über 30km gelaufen. Er ist vollkommen fertig. Kein Wunder, beim Gewicht des Rucksacks. Hab ihn mal gewogen, der wiegt ohne Wasserflaschen fast 18kg. So richtig geplant ist seine Reise auch nicht und Wegbeschreibungen hat er auch nicht dabei. Heute muss er sich auch mehrfach verlaufen haben.“
„Will er noch was essen?“, fragt seine Frau, um notfalls gleich noch etwas vorzubereiten.
„Nein, Hunger hat er nicht, kommt aber nach dem Duschen noch zu uns.“ Er wendet sich uns zu und fügt an. „Ich habe ihn ins andere Zimmer einquartiert. Ist vielleicht besser, er ist heute allein, so konfus, wie der Gute drauf ist.“
Es wird schon dunkel draußen, als der späte Gast zu uns stößt und ja, ich kann die Einschätzung des Hospitaleros bestätigen; der Mann ist wirklich ein bisschen kopflos ins Pilgern hineingestolpert.
Also, da sind wir 2017 schon naiv an die Sache herangegangen, aber kein Vergleich zu ihm. Die letzte Nacht muss er in seinem Hängemattenzelt, was er mit sich führt, verbracht haben. Ohne Abendessen oder ein Frühstück am Morgen. Für uns undenkbar.
Es kommt die Sprache auf seinen Rucksack und was er alles mit sich rum trägt. Die beiden Hospitalro raten ihm dringend, einiges davon nach Hause zu schicken und fragen uns, wie schwer unsere sind.
Als wir wahrheitsgemäß das Gewicht nennen, sind sie ganz schön verblüfft. Sie können kaum glauben, dass Sabine ihren Rucksack mit 14kg bei gefüllten Wasserflaschen schon so viele Kilometer getragen hat. Bei dem schweizer Pilger sind es aber 6kg mehr bei gefüllten Wasserflaschen und am Morgen wollen sie sehen, was sich davon einsparen lässt.