
Es gibt gute und schlechte Tage
Heute zum Sonntag wollen wir uns wieder einmal ein ordentliches Abendessen gönnen und gehen etwa 2 Stunden später in den Gastraum. Ein Tisch ist auf 18:00Uhr für uns reserviert.
Tja, und wer sitzt am Stammtisch, die Rucksäcke neben sich am Tresen? Zwei unserer Wandergefährten von heute.
Die dreier Gruppe war doch hinter uns denselben Weg hinabgestiegen. Mussten sich aber in eine Tiefgarage retten, als das Gewitter losbrach. Nach dem Ende des Regens noch bis Stans laufen, war nicht angebracht und zum Glück konnten die beiden noch freie Einzelzimmer in unserem Gasthof ergattern. André hatte schon im Vorfeld ein Zimmer in einem Hotel, nicht weit von hier, gebucht. Er will, nachdem er sich frischgemacht hat, hier her zum Essen kommen.
Und noch jemand ist hier. Das Pärchen mit Hund, das wir auf dem Haggenegg getroffen haben. Man könnte es fast ein Pilgertreffen nennen, nur, dass wir uns nicht zusammensetzen können, weil die Tische für diesen Abend schon ausgebucht sind. Es ist eben Sonntag und ein beliebtes Speiselokal.
Wir bestellen und unsere Wandergefährten gehen erst einmal auf ihre Zimmer um sich zu duschen.
Zu einem längeren Gespräch kommt es an diesem Tag nicht mehr, weil wir uns schon zurückziehen als André endlich kommt.
Tag 38: Das Frühstück nehmen wir gemeinsam mit den beiden Männern ein. Auch der Aufbruch erfolgt fast gleichzeitig, aber sie entschwinden bald unseren Blicken, weil sie eben schneller sind.
Später sehen wir André ein ganzes Stück hinter uns den Hang hinabkommen und die beiden anderen bei einer Rast vor uns.
Wie am Vortag entsteht ein ständiges Überholen. Sie sind schneller, wir pausieren kürzer.
Das Unwetter vom Vortag hat auf dem ersten Abschnitt der Etappe kräftig gewütet. Starke Äste liegen auf dem Weg und sogar ganze Bäume hat es entwurzelt. Wie gut, dass wir da schon im Quartier waren.
An den Bergen kleben die Wolken und müssten wir heute über Emmetten laufen, wären wir in ihnen (siehe Bild ganz oben). Alles fügt sich!
Bei einer Pause gesellen sich die drei Pilgerfreunde noch einmal zu uns. Der Gedankenaustausch mit ihnen ist angenehm. Ganz anders wie der mit dem Rompilger auf dem Haggenegg.
Hier noch zwei Bilder von dieser Etappe:


Auf dem letzten Abschnitt vor dem Kloster Bethanien holt uns André dann alleine ein. Die zwei anderen wollten vom Weg abweichend in einen Ort einkaufen gehen und der „junge Schweizer“ noch ein Stück mit uns laufen.
Vermutlich werden wir ihn heute zum letzten Mal sehen, denn er hat sich für die nächsten Tage zwei längere Etappen vorgenommen. Wir hingegen zwei kürzere, weil wir nicht wissen wie anstrengend der Brünigpass wird.
Der Abschied beim Kloster ist vor allem für Sabine sehr emotional, weil wir André sehr ins Herz geschlossen haben. Aber wir bleiben in Kontakt und weil er unseren Weg gerne weiter verfolgen möchte, bekommt er die Adresse vom Blog.
Auch das Kloster Bethanien ist ein moderner Bau, den wir nicht als Kloster ansehen. Würde uns André nicht darauf hinweisen, wären wir vielleicht erst einmal vorbei gelaufen.
Im Fünfbettpilgerzimmer sind schon zwei Männer aus Baden-Württemberg. Sie sind älter als wir und zumindest einer von ihnen ist ein bisschen speziell. Nicht unfreundlich … nein, nur sehr von sich eingenommen. Die zwei sind im Vorjahr bis hier her gelaufen und setzen jetzt wieder hier an, um diesmal bis Genf zu gehen. Ihre Quartiere haben sie im Vorfeld schon bis zum Ziel fest gemacht. Etwas, was wir nicht wagen, weil wir nicht wissen, wie wir durchhalten. Sie gehen aber fest davon aus, 30km Etappen zu schaffen, auch wenn große Steigungen dabei sind. Rüstig sind sie auf jeden Fall und erfahren scheinen sie auch zu sein.
Der Spezielle erwähnt dann: „Unsere Frauen sind immer froh, wenn sie uns mal ein Stück loshaben.“
Sabine meint daraufhin, als wir mal alleine sind: „Das kann ich mir gut vorstellen und würde mir bei dem genauso gehen.“
Abendessen ist bei dieser Übernachtung dabei und es ist top. Danach wird es im Zimmer unangenehm. Auf den angrenzenden Wiesen wurde Gülle ausgebracht, was eine explosionsartige Vermehrung der Fliegenpopulation zur Folge hatte. Durch die offen stehende Trassentür sind Unmengen davon ins Zimmer geraten und gehen uns gewaltig auf den Geist.
Der Spezielle zeigt noch mal sein Selbstbewusstsein und sagt:
„Nur als Vorwarnung, ich schnarche stark. Mein Kollege hier hat deshalb immer Ohrstöpsel mit“, und lachend verlässt er den Raum.
Sabine ist bedient, doch ich hoffe einfach, dass wir schon schlafen wenn er zurückkommt.
Sein Kollege wickelt sich in seinen Schlafsack und wir legen uns auch hin. Es ist aber noch hell und die Fliegen lassen uns keine Ruhe. Sie nutzen jede Angriffsfläche. Versuchen sogar in Sabines Nase zu kriechen. Wir ziehen uns das Kopfteil des Schlafsacks drüber, obwohl wir darunter gewaltig schwitzen. Nur einen kleinen Spalt halte ich zum Atmen offen und döse langsam ein.
Das Tageslicht schwindet und die Fliegen verkriechen sich in irgendwelche Ecken. Endlich kann ich das Kopfteil des Schlafsacks zurückschlagen und genau da kommt unser „Freund“ zurück. Mit einer Taschenlampe in der einen Hand, kramt er mit der anderen geräuschvoll in seinen Sachen. Danach putzt er sich ausgiebig am Zimmerwaschbecken die Zähne. Das hätte er auch im Sanitärbereich über den Flur tun könnte, aber er ist eben ein Ich-Mensch. Eine Rücksichtnahme, wie wir sie in Rapperswil erlebt haben, dürfen wir von ihm nicht erwarten.
Tag 39: „Arrg, Scheißvieh!“, knurre ich in Gedanken und scheuche die Fliege vom Gesicht, die mich geweckt hat.
Es ist erst 05:30Uhr und die Anderen scheinen noch zu schlafen. Die Fliegen aber nicht mehr und das Kopfteil vom Schlafsack muss wieder drüber.
Sehr lange dauert es jedoch nicht mehr, bis auch die Anderen von den Fliegen geweckt werden. Es kommt Bewegung in den Raum. Die zwei Schwaben gehen in den Sanitärbereich und Sabine fragt:
„Wie hast du geschlafen?“
„Eigentlich ganz gut, bis mich diese Schmeißfliegen geweckt haben.“
„Ich auch, nachdem unser ’Freund‘ endlich zur Ruhe gekommen ist. Obwohl du dann übelst geschnarcht hast.“
„Entschuldigung, ich …“
„Kein Problem“, Sabine lacht, „ich wollte dich erst anstupsen, damit du dich auf die Seite drehst, hab’s dann aber sein lassen. Ich dachte, so rücksichtslos wie DER ist“, sie deutet zum Bett unseres Freundes, „kann er auch mal erleben wie das so ist. Ich hoffe nur, er hat es auch richtig gehört. Der andere hatte ja Stöpsel drin.“
„Und du?“
„Ich bin dann relativ schnell eingeschlafen. Vielleicht hast du auch bald wieder aufgehört … keine Ahnung. Es war mir aber irgendwie eine Genugtuung, nachdem er noch so rumgewirtschaftet hat.“
So kenne ich meine sonst so rücksichtsvolle Frau gar nicht. Der Schwabe hat sie anscheinend doch ganz schön gereizt. Oder verändert sie sich durch unsere Tour?
Das Frühstück nehmen wir in einem großen Eckraum des Klosters ein. Das Geniale daran, wir haben nach zwei Seiten einen wunderschönen Panoramablick. Dazu noch Sonnenschein, da sollte es doch ein super Tag werden.
Das Frühstück ist es jedenfalls schon und wir unterhalten uns auch noch ausgiebig mit den zwei Schwaben. Die Nacht ist da schnell vergessen!
Die beiden brechen vor uns auf, weil sie circa 30km gehen wollen an diesem Tag. Wir nur knapp 19km und wir können auch erst ab 17:30 Uhr in unser nächstes Quartier. Deswegen lassen wir uns auch Zeit.
Erst 09:15Uhr verlassen wir das Kloster und es scheint sich gleich ein schlechter Tag anzukündigen.
Wir laufen ein Stück nach der Ausschilderung, ich blicke auf die GPS-Tracks und die zeigen einen anderen Weg an. Dem wollen wir nun folgen. Da stößt eine Schweizerin zu uns und meint, das wäre der falsche Weg.
Sie hat eine Schweizer App mit den Jakobsweg GPS-Tracks und zeigt uns darauf, dass wir unbedingt der Ausschilderung folgen sollen, denn nur so kommen wir zu einigen Highlights der Strecke. Unter anderem zum Haus des Eremiten Bruder Klaus. Sie will uns auch ein Stück begleiten, weil sie bis zur Kapelle St. Niklausen denselben Weg hat.
Tja, wie wir so sind, wir lassen uns überzeugen, zumal die Wegweiser ihr ja recht geben. Beim Abstieg in die Schlucht des Flusses Melchaa erkennen wir dann, dass wir wieder einmal auf der romantischen Route sind.
Es geht über 300 Stufen steil in die Schlucht hinab.

Bei einer Treppe, wo die Stufen gleich hoch und der Tritt immer derselbe ist, auch mit Rucksack nicht das Problem. Das ist hier aber nicht der Fall. Die Stufen sind teilweise sehr hoch, für Sabine immer eine Herausforderung. Dazu noch die ungleichmäßige Trittfläche, weshalb man keinen Rhythmus finden kann. Die Knie meiner Frau beginnen schnell zu zittern.
Vielleicht trägt es auch noch dazu bei, dass es meist auf einer Seite, ohne Absicherung durch ein Geländer, steil den Hang hinunter geht. Wir sind jedenfalls heilfroh, als wir bei der Brücke über den Fluss ankommen.

Nach der Wohnstätte des Eremiten Bruder Klaus, folgen wir wieder der Ausschilderung und steigen auf genauso vielen Stufen aus der Schlucht hinauf. Diesmal aber im Wald und auf breiterem Weg.
Oben angekommen, haben wir noch nicht einmal 3km zurückgelegt und sind klatschnass vom Schweiß. Zum Glück gibt es aber eine Bank, auf der wir uns ein bisschen, bei einem genialen Rundumblick, erholen können.
Was wir dummerweise erst im Nachhinein im Wanderführer lesen, lässt uns dann schon ein bisschen über uns selbst ärgern.
Zitat:
„Am Kloster vorbei und dahinter rechts auf einem gepflasterten Fußweg, der später in eine schmale Asphaltstraße übergeht, erreichen Sie die von Kerns heraufführende Straße, der Sie nach St. Niklausen bis zu einer Kreuzung vor dem Restaurant Alpenblick folgen. Voraus sehen Sie oberhalb des Ortes die Kapelle St. Niklausen, an der der Weg nicht direkt vorbei führt. (Genau da sind wir aber langgelaufen.)
Am Alpenblick gehen Sie rechts die Gruebistrasse abwärts Richtung Ranft, die am Ende der Häuser in einen einfachen Fahrweg übergeht und am etwas rechts abseitsliegenden Gehöft Gruebi vorbeiführt. An der Gabelung vor einem kleinen Gehölz halten Sie sich rechts und folgen dem Weg weiter abwärts nach Ranft, wo sie auf einer Holzbrücke den Fluss Melchaa überqueren. (Wir kamen etwas weiter flussaufwärts den steilen Stufenpfad herab, haben auf einer anderen Brücke den Fluss überquert und sind daher an der unteren Ranftkapelle vorbeigekommen.)“
Um es abzukürzen: Wir wären ohne den beschwerlichen Abstieg auch zur Eremitenwohnung und zur oberen Ranftkapelle gekommen. Zur unteren Kapelle wäre dann ein kleiner Abstecher nötig gewesen. Auch die Stufen aus der Schlucht heraus hätten wir uns sparen können, weil es über den Ranftweg weniger anstrengend nach oben geht.
Erkenntnisse: „Es ist nicht immer gut, sich auf die Aussagen von Anderen zu verlassen. Die romantische – meist neue, veränderte – Wegführung ist oft sehr beschwerlich. Wir haben die Wanderführer mit und sollten viel öfter in ihnen nachlesen!“
Der weitere Weg hinab zum Sarnersee ist sehr schön und die Anstrengung eigentlich schon vergessen.
Auf einmal ertönt ein leiser Schreckensruf hinter mir. Im Umwenden sehe ich noch, wie Sabine die Stöcke hochreißt, auf ihren Rucksack fällt und nach der Seite wegrollt.
Schnell bin ich bei ihr und helfe ihr wieder hoch. Meine Befürchtung, sie hat sich verletzt, erweist sich glücklicherweise als unbegründet. Nicht einmal weh getan hat sie sich. Also laufen wir bald weiter und doch ist spürbar, wie ihre Stimmung in den Keller geht.
Auf dem Platz vor der Kirche von Sachseln finden wir eine Schattenbank. Zeit für die Mittagspause und den obligatorischen Haferriegel.
„Irgendwie ist die Luft bei mir raus. Am liebsten würde ich abbrechen“, gesteht Sabine dabei leise.
Das überrascht mich jetzt doch sehr, weil meine Frau bisher die Motivation pur war.
„Wieso das auf einmal?“
„Ich stell mir die ganze Zeit die Frage, wie es ausgegangen wäre, wenn ich auf den Treppen in die Schlucht hinab gestürzt wäre“, gesteht sie.
„Ist es aber nicht.“ Ich weiß nicht so recht, wie ich darauf reagieren soll.
„Hätte aber durchaus sein können. Als ich weggerutscht bin, hat mich der Rucksack einfach nach hinten gezogen, da hatte ich keine Chance mehr mich zu halten. Dort war das nicht weiter schlimm. Auf dem Weg in die Schlucht hinunter, hätte es ein Fallen den Steilhang hinab werden können. Das geht mir einfach nicht mehr aus dem Kopf.“
Was soll ich darauf sagen? Ich weiß einfach nicht, wie ich ihr diese Ängste nehmen soll. Es werden auf unserem weiteren Weg sicher noch ähnliche Abschnitte kommen. Wird sie nach dieser Erfahrung jetzt immer mit diesen Sorgen da ran gehen?
Ich habe gelernt, dass es kontraproduktiv ist, wenn man so handelt. Man ist dann unsicherer und es kommt eher zu einem Unfall. Das wurde mir in meiner Lehre bei Dachklempnerarbeiten beigebracht. Da war ich aber viel jünger, gelenkiger und hatte ein anderes Selbstbewusstsein. Sabine wird das jetzt sicherlich nicht umsetzen können.
Wir sprechen noch eine Weile darüber und ich befürchte, es könnte sich jetzt das Ende unserer Tour nähern.
„Das ist jetzt das vierte Mal, wo bei mir Gedanken ans Heimfahren aufkommen“, gestehe ich ihr.
„Wieso zum vierten Mal?“
„Das erste Aus habe ich gleich am dritten Tag befürchtet, als du mit deinem Rucksack nicht einig geworden bist. Dann nochmal, als wir uns bei Gräfenberg so verlaufen hatten. Und schließlich am Bodensee, als die Kostenfrage aufkam. Aber immer warst du kurz darauf wieder so motiviert, dass du mich mitgerissen hast. Eins ist aber fakt; allein will ich nicht weiterlaufen. Es sollte immer unsere gemeinsame Tour werden. Also auch ein gemeinsames Ende.“
Um es klarzustellen; am Bodensee war es ja eher mein Tief und sie war noch voller Elan, was diesmal gerade umgekehrt ist. Im Moment würde ich ungern aufgeben, doch allein weiter pilgern steht nicht zur Debatte.
Sabine ist still geworden und als wir am Bahnhof von Sachseln vorbei kommen frage ich:
„Was ist, wollen wir uns Fahrkarten kaufen und heimfahren?“
Ihr wird klar, dass es durchaus möglich wäre, denn wir haben ja alles dabei. Nur die zwei gebuchten Übernachtungen müssten wir stornieren, aber das will sie nicht und so finden wir uns wenig später auf dem Uferweg am Sarnersee wieder.
Der Brünigpass