
Einsiedeln, das zweite große Ziel
Trotz der vielen Menschen im Raum schlafen wir sehr gut. Jeder nimmt Rücksicht auf die anderen, was ja nach Berichten, die uns zu Ohren kamen, nicht immer selbstverständlich ist.
Mein innerer Wecker funktioniert nach wie vor tadellos. Kurz vor 06:00 Uhr bin ich munter, rege mich aber nicht weiter, da alle noch zu schlafen scheinen. Spätestens 06:30 Uhr werde ich jedoch aufstehen.
So lange brauche ich aber gar nicht zu warten. Um 06:00 Uhr erklingt der Handywecker beim Bett neben mir. Hastig schaltet die Frau ihn aus und steckt den Kopf kurz in ihren Schlafsack.
Ich nehme es zum Anlass, schnappe mir meine Waschtasche und gehe in den Sanitärtrakt. Kurz darauf kommt die junge Frau vom Nebenbett und entschuldigt sich mit hochrotem Kopf bei mir:
„Tut mir leid, das mit dem Wecker. Ich hatte gestern vergessen, das auszuschalten. Das ist mir so peinlich!“, und sie wagt es kaum, mich dabei anzusehen.
„Kein Problem, ich war schon munter und wäre auch bald aufgestanden“, kläre ich sie auf.
Beim Frühstück nutzt die Frau dann die Gelegenheit sich persönlich bei allen anderen zu entschuldigen. Keiner nimmt es ihr übel, denn alle wären sowieso bald aufgestanden.
Berta sieht später, wie ich den Kompressionsstrumpf anziehe und fragt erstaunt:
„Stört dich das nicht?“
„Ich hatte anfänglich Bedenken“, gebe ich zu, „möchte aber keine erneute Thrombose riskieren. Brauchen tu ich ihn nur links, wo die Vene gezogen wurde und ich spür den eigentlich gar nicht mehr. Nur das Schwitzen und ständige Handwaschen der Strümpfe ist ein bisschen nervig.“
„Und was ist mit Blasen?“, hakt sie nach.
„Keine in diesen über 30 Tagen und ich hoffe es bleibt auch so. Auch Sabine mit ihren neuen Schuhen ist bisher blasenfrei durchgekommen.“
Nach dem Frühstück wird es quirlig in der Herberge. Alle packen ihre Rucksäcke und so nach und nach bricht man auf.
Wir sind mittendrin in diesem Trubel, müssen dann aber noch etwas warten, weil sich Berta von allen persönlich verabschiedet und auch mit jedem ein Bild macht.
Beim Schuheanziehen sehe ich an der Tür, die zu den Kellerräumen führt, eine Kofferwaage und frage Sabine:
„Wollen wir unsere Rücksäcke noch mal mit gefüllten Wasserflaschen wiegen?“
Wir wollen und als erster ist der von Sabine dran. Es werden 14kg angezeigt, wovon drei auf das Wasser gehen. Bei meinem sind es 16kg mit den 3 Litern Wasser. Es ist seit der Übernachtung bei meinem Bruder noch etwas hinzugekommen, was wir von zu Hause aus per Paket dorthin geschickt hatten.
Darunter sind die Wanderführer bis Santiago, die schon mal mit 1kg zu Buche schlagen. Eine große Packung Flohsamenschalen, das einzige „Medikament“, was ich seit der Rückverlegung nehme und ein paar Kleinigkeiten. Aber diese Kilogramm stören mich nicht weiter, obwohl ich es schon genieße, wenn die Wasserflaschen leerer werden und das Gewicht dadurch abnimmt.
Auch Sabine meint, sie hat sich inzwischen an die Last auf dem Rücken gewöhnt, merkt es aber immer, wenn sich die Gurte im Laufe des Tages lockern. Dann ziehe ich sie nach und es geht wieder besser.
Der Abschied von der Hospitalera ist sehr emotional. Wir werden so herzlich in den Arm genommen, dass Sabine wieder einmal nahe am Wasser steht. Wie sehr einem jemand, den man noch nicht einmal 24 Stunden kennt, ans Herz wachsen kann.
Los geht’s, zu einem der Highlights, auf die Sabine sich schon seit Beginn der Reise freut. Der Fußgänger-Holzsteg über den Zürichsee. Nur finden muss man ihn erst ein Mal. 😊
Berta sprach von einer Unterführung beim Bahnhof, aber die finden wir nicht, oder übersehen, wie wir da weiter in Richtung See kommen. Laut Reiseführer muss es aber einen anderen Weg geben, wo wir beim Seedamm unter der Straße und den Gleisen durch, zum Steg kommen können. Wir sehen ihn schon, können aber die vielbefahrene Straße und Bahnschienen nicht queren.
Auf dem Weg am Seedamm entlang treffen wir auf zwei Frauen, die nach uns die Herberge verlassen haben. Sie waren schon weiter vorn und behaupten, da geht’s nicht rüber, fragen jedoch schließlich einen Straßenbauarbeiter.
Es geht doch, man muss nur weit genug auf dieser Seite der Straße entlang gehen. Dort wo die Bahnlinie eingleisig wird, gibt es eine Unterführung und immer am See entlang kommen wir schnell zum Holzsteg.
Sabine ist hin und weg! Sie kommt aus dem Schwärmen gar nicht mehr raus und ja, der Steg hat etwas besonders. Das Wasser ist nur in ganz wenigen Rinnen etwas tiefer. Meist kann man den Grund gut sehen und die großen Forellen darin. Oftmals ziehen sie in Schwärmen durchs flache Wasser. Riesige Tiere, mit Buckel wie die Karpfen. Ihnen scheint es hier gut zu gehen.
Nach circa 900 Metern erreichen wir auf der Landzunge von Hurden wieder festen Boden. In Sichtweite hinter uns die zwei Frauen. Wir zwei sind im Austausch über den Herbergsaufenthalt gefangen und übersehen wieder einmal etwas. Laut Wanderführer hätten wir irgendwo bei einer Ampel die Straße queren müssen, laufen aber weiter auf dieser Seite der Straße entlang.
Am Kanal erkennen wir, dass uns dieser Weg direkt in die Stadt führen wird, was ja nicht so sein soll. Den Wanderführer gezückt, nachgelesen und Mist, wir sind falsch. Die ganze Strecke wieder zurück und die Ampel suchen? Dazu haben wir nun gar keine Lust. Wo sind die zwei Frauen überhaupt? Sind die noch hinter uns? Ich seh sie nicht, also haben sie vielleicht die Straße schon gequert.
Mein Blick geht nach rechts zu dem Weg, auf den wir vermutlich weiterlaufen müssen und ich sehe eine Passantin, die vor der Kanalbrücke, auf der wir stehen, eine unscheinbare Treppe hinabgestiegen ist. Irgendwie muss sie ja auf die andere Seite gekommen sein, also die wenigen Meter zurück und siehe da, wir kommen dahin wo wir hin wollen.
Umweg haben wir keinen gemacht, nur den Straßenlärm mussten wir ertragen, der uns sonst erspart geblieben wäre. Also alles gut gegangen.
Wir haben Pfäffikon hinter uns gelassen und der Anstieg zum Etzelpass beginnt. Bevor der Fußweg in den Wald entschwindet, sehen wir eine Bank. Leider ist sie schon von anderen Pilgern belegt. Die Sonne brennt, der Schweiß rinnt und wir könnten so gut eine Pause gebrauchen. So ein Mist aber auch, wer weiß, wann die nächste Bank kommt.
Als hätten die Pilger unsere Gedanken gehört, ziehen sie weiter und machen uns Platz. Was für ein Glück!
Besser kann man die Sitzgelegenheit nicht positionieren. Wir sitzen im Schatten der Bäume und haben einen wunderbaren Blick zurück nach Rapperswil und auf den See.
Erst einmal etwas trinken und verschnaufen, dann zückt Sabine das Handy und sieht, dass jemand angerufen hat. Da ihr Smartphone aber noch auf lautlos gestellt war, hat sie es nicht gehört. Es war die Frau vom B&B, die wir am Vorabend nicht erreicht haben. Sie entschuldigt sich, dass sie den Anrufbeantworter erst heute abgehört hat, aber wenn wir wollen, können wir bei ihr übernachten.
Doch das Zimmer im Kloster ist schon gebucht. Was tun? Nach kurzem Überlegen fragen wir, ob wir gleich noch einmal zurückrufen können, weil wir nachfragen wollen, ob ein Rücktritt bei der Buchung möglich ist.
Und ja, es ist ohne Folgekosten möglich und wir haben jetzt eine Übernachtung – fast zum halben Preis – gar nicht weit vom Kloster entfernt. Alles fügt sich!
Glücklich und beschwingt nehmen wir den Anstieg zum Etzelpass in Angriff. Die 500 Höhenmeter, die wir überwinden müssen, haben es teilweise ganz schön in sich. Über ausgespülte Wurzeln, die wie ein Labyrinth ganze Strecken des Weges bedecken, steigen wir wie auf ungleichmäßigen Stufen hinauf.
Nur gut, dass es trocken ist, sonst wäre es eine rutschige Angelegenheit. Auch Stufen, die die teils sehr steilen Passagen entschärfen, sind oft ungleich hoch und liegen unterschiedlich weit auseinander. Da einen Rhythmus zu finden, der es leichter macht, das Gewicht des Rucksacks mit hochzudrücken, ist unmöglich. Als wir oben ankommen, sind die in der Herberge gewaschenen Sachen klatschnass vom Schweiß. Die Sicht ist heute jedoch viel besser und wir können die schneebedeckten Gipfel der höheren Berge jetzt gut sehen.
Hier noch zwei Bilder vom weiteren Weg bis Einsiedeln:
Früher als erwartet erreichen wir Einsiedeln. Ins Quartier können wir aber erst nach 16:00 Uhr. Wir haben also noch circa eine halbe Stunde Zeit. In einem kleinen Park unterhalb des Klosters finden wir beschattete Bänke. Also Rucksack runter und … ahhh, dort auf der anderen Seite der Straße ist ein Eisverkäufer. Das will ich mir heute leisten. Sabine ist ja nicht so der Eisschlecker, doch auch sie stimmt zu. Sie bleibt bei unserem Gepäck und ich laufe, verschwitzt wie ich bin, zu dem kleinen Laden.
Es gibt vermutliche einige Pilger, die sich bei ihm ein Eis gönnen, denn lachend meint er zu mir:
„Das Richtige nach so einem Marsch in der Sonne, oder?“
Und ja, wir genießen es und beobachten dabei das rege Treiben vor dem Kloster.
Busse – auch welche aus Deutschland – sind angekommen und ganze Gruppen von Touristen streben im Eilmarsch zur Besichtigung. So eine Hast, um möglichst viel in relativ kurzer Zeit zu sehen. Jimmy mit seinem anmontierten Sonnenschirm kommt an und mich gelüstet nach einer zweiten Kugel Eis.
Wir sind im Quartier. Es ist wieder einmal ein historisches Stadthaus, in dem möglichst viel der alten Ausstattung erhalten blieb. Das besondere Flair birgt aber auch eine gewisse Gemütlichkeit in dem großen Wohlfühlzimmer. Bad und WC sind eine halbe Treppe höher und eine kleine Küche, die wir auch nutzen können, eine halbe Treppe tiefer.
Die Vermieterin legt uns ans Herz unbedingt den Vespergottesdienst in der Klosterkirche zu besuchen. Der Mönchschor singt gegen 16:30 Uhr, was ein absolutes Highlight ist.
Hmm, wird ganz schön knapp, wenn wir vorher den Schweiß abwaschen wollen. Ich suche zügig das Bad auf, aber es kommt nur eiskaltes Wasser. Was tun? Die Frau noch einmal anrufen und nachfragen? Oder selbst nach einer Lösung suchen? Dauert alles zu lange. Was bleibt ist, die Wechselkleidung anziehen und los.
Wir kommen gerade noch zur rechten Zeit an. Die Mönche beenden, als wir eintreten, ihre liturgischen Gesänge und streben dann in einer geordneten Gruppe der Gnadenkapelle im hinteren Teil des Kirchschiffes zu. Vor der schwarzen Madonna nehmen sie Aufstellung und singen nach jahrhundertealter Tradition in lateinischer Sprache vierstimmig das Salve Regina. Ein richtiger Gänsehautmoment, der durch die einzigartige Akustik aus Kapelle und hohem Kirchenschiff verstärkt wird.
Von den Touristengruppen, die mit den Bussen kamen, ist niemand zu sehen, aber Pilger sehen wir einige. Einer ist dabei, der mit uns in Rapperswil übernachtet hat und … André, unser „junger Schweizer“. Wie freuen wir uns, mit ihm wieder ins Gespräch zu kommen. Er will den Weg fortsetzen und wir hoffen, ihn in den nächsten Tagen erneut zu treffen.
Zurück im Quartier duschen wir dann endlich, nachdem wir einen Hinweis finden, dass man das Wasser sehr lange laufen lassen muss, bis es warm aus der Brause kommt. Ach, da steht ja auch eine Personenwaage, ob ich mich da mal draufstelle?
Ich mache es und uuupps … 12kg verloren, wenn die Waage richtig geht. Bei Sabine sind es 10kg. Da hat unsere Tour doch noch einen schönen Nebeneffekt. 😊