Anfang? Oder Anfang vom Ende?

Heute beginnt das wirkliche Pilgern. Am Morgen bringt uns unser Sohn zum Bahnhof und weil wir die Bella – unsere Hündin – nicht schon im Vorfeld deprimieren wollen, greifen wir zu einer Täuschung. Wir ziehen die Wanderschuhe noch nicht an, weil sie immer gleich auf unsere Füße schaut und wenn es Wanderschuhe sind, von einer Gassirunde ausgeht. Bella wird Sabine sowieso bald vermissen, auch wenn sie von allen anderen auf dem Hof gut umsorgt wird.
Beim Bahnhof tauschen wir die Straßenschuhe gegen die Wanderschuhe und verabschieden uns von unserem Sohn. Ein bisschen Wehmut, aber auch große Dankbarkeit schwingt mit, weil uns unsere Kinder ermutigt haben diese Reise anzutreten, obwohl sie all das übernehmen müssen, was wir sonst tun.
Nur eine halbe Stunde dauert es, bis wir in Weischlitz sind. Wie schnell es doch geht, wenn man nicht auf Schusters-Rappen unterwegs ist und wenn auch noch eine lustige Einlage mit dabei ist.
Sabine legt die Beine über Kreuz und verhakt sich dabei mit den Schuhösen in der Hose. Mit Panik im Blick bittet sie mich um Hilfe, weil sie nicht richtig rankommt. Tja, und wie ich eben so bin, muss ich sie auch noch damit ärgern und schlage vor:
„Mach doch Sackhüpfen aus dem Zug, deinen Rucksack bring ich schon mit.“
Wir müssen beide darüber lachen, auch wenn sie es nicht besonders lustig findet, denn wir sind kurz vor dem Zielbahnhof.
Jetzt ist es soweit! Die Reise beginnt, oder ist sie schneller vorbei als gedacht?
Ich leite es mit etwas ein, was zum Ritual werden soll:
„Darf ich Frau behilflich sein?“, frage ich und hebe ihren Rucksack an.
„Gerne doch“, meint sie lachend.
Es soll aber das letzte befreite Lachen an diesem Tag sein.
Ich wuchte meiner Sabine den Rucksack auf die Schultern und sie stöhnt auf. Obwohl sie weiß, dass es circa 14kg mit gefüllten Wasserflaschen sind, hat sie das Gefühl, nach hinten umzukippen. Dass er sich so schwer anfühlt hat sie nicht erwartet, denn ohne die 3 Liter Wasser schien es ihr kein Problem zu sein ihn zu tragen.
Jetzt kämpft sie kurz mit dem Gleichgewicht, versucht aber Zuversicht auszustrahlen. Es ist nicht echt, das kann ich fühlen, ahne aber noch nicht, was an diesem Tag noch bevorsteht.
Um auf den Pilgerweg zu kommen, müssen wir erst einmal an einer viel befahrenen Straße entlang bergauf laufen. Nicht der beste Start in unsere Pilgertour!
Sabine wird immer bedrückter. Mehrfach muss ich die Gurte nachstellen, um die Lastverteilung mehr auf die Hüften zu legen. Sie läuft vornübergebeugt, um die schmerzenden Schultern zu entlasten und mir ist klar, dass das gar nicht gut ist.
Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass ich mit dieser Körperhaltung meine Stimmung bestätige. Erkannt habe ich das nicht auf Anhieb, aber verschiedene Situationen haben mir das ins Bewusstsein gerückt. Auch ein Cartoon von „Charlie Brown“ bringt es sehr genau auf den Punkt.

(Peanuts-Strip: Depression nach Charlie Brown)
Charlie steht mit hängendem Kopf da und erklärt seiner Freundin: „So stehe ich, wenn ich deprimiert bin.“
Seine Freundin versteht das nicht und Charlie fügt an: „Wenn du deprimiert bist, ist es ungeheuer wichtig, eine ganz bestimmte Haltung einzunehmen …“
Er richtet sich auf und blickt nach oben.
„Das Verkehrteste, was du tun kannst, ist aufrecht und mit erhobenem Kopf dazustehen, weil du dich dann sofort besser fühlst.“
Charlie Brown lässt den Kopf wieder hängen und die Schultern herabsacken.
„Wenn du also etwas von deiner Niedergeschlagenheit haben willst, dann musst du so dastehen …“

Wenn ich mich recht erinnere, sag ich ihr das später auch so, doch für den ersten Moment bin ich überfordert. Die Stimmung kippt und wir sind noch gar nicht richtig unterwegs!
Sabine ist fertig mit der Welt, das ist spürbar. Ich versuche ihr Mut zu machen, scheitere aber vorerst.
Kaum sind wir von der Straße weg, bricht es aus ihr heraus. Tränen rinnen über ihre Wangen. Sabine hadert mit sich und der Welt.
Anscheinend haben die Tränen etwas Befreiendes. Sie spülen negative Gedanken heraus. Sabine stellt fest, dass sie in ihrem Leben schon viele Lasten getragen hat. Die seelischen Belastungen sind es, die ihr schon oft zu schaffen gemacht haben und ich habe ihr da auch einige Päckchen auferlegt. Das letzte Mal in meiner Zeit mit dem Stoma, aber dazu später etwas. Vorerst ist es ein zähes Ringen, die Motivation aufrechtzuerhalten.
Sollen wir gleich zu Beginn abbrechen?
Nein! Wir haben uns im Vorfeld vorgenommen, das nur zu tun, wenn es gravierende Gründe gibt. Also, wenn die Gesundheit nicht mehr mitspielt, oder die Freude am Pilgern gänzlich verloren geht.
Aber ist es nicht schon so, dass der Spaß am Laufen mit dem Rucksack passé ist?
Vielleicht schon bei Sabine und doch hatten wir uns auch dahingehend abgesprochen, erst alles zu versuchen, bevor wir so einen Schritt tun. Also nehme ich mir vor, heute Kraft für uns beide zu haben. Ich will Stärke ausstrahlen und die moralische Stütze für meine Frau sein, wie sie es schon so oft für mich getan hat.
Keine Ahnung, ob diese Gedanken dazu beitragen, aber ich finde im Gegensatz zu Sabine meinen Rhythmus. Vielleicht liegt es auch daran, dass ich über weite Strecken vornweg laufen muss, weil der schmale Pfad es nicht anders zulässt. Ist der Weg breiter und ich schreite neben ihr her, verfalle ich automatisch in Sabines schnelle, kurze Schrittfolge, was mich mehr anstrengt. Das erkenne ich aber erst im Laufe unserer Pilgertour.
Immer wieder versuche ich in Gesprächen meine Frau aufzubauen, aber auch sie übt sich in motivierenden Gedanken. Sie erinnert sich daran, dass wir noch wenige Tage vor dem Start den „Großen Trip“ angeschaut haben. Der Film basiert auf den Erfahrungen der US-Amerikanerin Cheryl Strayed, die sie in ihrem Buch: ’Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst‘ niederschrieb.
Der Rucksack, den diese Frau sich zumutete, war noch um einiges schwerer als der von Sabine und sie hat mit noch ganz anderen Widrigkeiten zu kämpfen gehabt.
„Wenn die das schaffen konnte, bekomme ich das auch hin“, sagt sich meine Frau, „denn so ein ’Monster‘ wie Cheryl Strayed muss ich nicht tragen.“
Es ist der erste Schritt, sich mit der Situation auszusöhnen!

Immer wieder stellen wir fest, wie wunderschön unsere vogtländische Landschaft doch ist. Der weite Blick von den Höhen über die hügelige Landschaft an diesem sonnigen Tag erwärmt unser Herz. Von einem Punkt aus kann man in der Ferne die Autobahnbrücke bei Pirk sehen. Es ist die größte Quadersteinbogenbrücke Europas, die für den Straßenverkehr errichtet wurde. Ich versuche diesen faszinierenden Anblick auf einem Foto festzuhalten, muss aber wieder einmal feststellen, dass es nicht möglich ist, so etwas auf einem Bild einzufangen. Vielleicht für einen Profi mit entsprechender Ausrüstung, aber für mich als Laie nicht zu schaffen.

Autobahnbrück bei Pirk

Mittagspause auf einer Bank oberhalb des steilen Wiesenhanges, den wir gerade heraufgestapft sind. Trotz des sonnigen Wetters zwingt mich der kalte Wind die Jacke anzuziehen, weil es mich ohne den Rucksack schnell fröstelt. Sabine wagt es vorerst gar nicht, ihre Jacke abzulegen.
Wie schon bei unseren bisherigen Touren gibt es nur eine Kleinigkeit tagsüber zu essen. Ein Haferriegel für jeden, mehr nicht! Wir genießen die etwas längere Pause ohne Last auf den Schultern. Bei genauerem Hinsehen erkenne ich auch, dass es meiner Frau schon etwas besser geht. Wird es so bleiben?

Mittagspause

Bei der nächsten Rast an einem wunderschönen Teich. Mein Bart ist da erst drei Tage alt, aber er darf wachsen, so lange wir unterwegs sind.

Pausenbank am Teich

Wir erreichen das ehemalige innerdeutsche Grenzgebiet.
Mein Rucksack beginnt zu quietschen. Etwas, was er schon 2022 manchmal gemacht hat. Ich habe aber nie herausgefunden was es verursacht, dass die Gurte solche Geräusche von sich geben. Oder will er mit diesem: „Ähuäha, ähüähä …“, etwas sagen? Vielleicht das es reicht für diesen Tag?

Es geht ein ganzes Stück auf einem noch erhaltenen Kolonnenweg an den teilweise noch sichtbaren Grenzanlagen entlang.

Grenzturm

Auch ehemalige Wachtürme sind zu sehen, aber in meiner Erinnerung von der Pilgertour 2017 gab es auch eine Schautafel, die von einem Dorf berichtete, das wegen der Grenznähe verschwinden musste. Entweder haben wir es übersehen oder es wurde entfernt. Vielleicht hat sich auch die Wegführung inzwischen etwas verändert. Etwas, was ich noch mehrfach in solchen Momenten denke.
Ja, es gibt neue Wegvarianten, stelle ich beim Vergleich der GPS-Tracks mit meinen alten Aufzeichnungen fest. Aber manchmal täuschen mich auch meine Erinnerungen. Ich vergesse so viel, oder habe es schlichtweg anders in meinem Gedächtnis!

Hier das Bild, was ich 2017 von der Schautafel gemacht habe:

Wüstung

Kurz vor unserem Ziel wird Sabine um einiges langsamer. Wir haben schon über 20km hinter uns. Alles, was darüber hinausgeht, wird für meine Frau zur Belastung. Das noch am ersten Tag mit dem Rucksack … Ein Härtefall, wie sich beim Durchqueren des botanischen Gartens vor Hof zeigt.
Es geht stetig bergab und Sabines Knie beginnen zu zittern. Sie hat das Gefühl, dass sie ihre Beine, mit der Last auf dem Rücken, nicht mehr tragen wollen. Wir werden immer langsamer, aber die Etappe ist mit 26,5km auch grenzwertig für sie.

Gegen 17:00Uhr sind wir in unserem Pilgerzimmer in der „Diakonie Hof“, nachdem wir uns angemeldet und den ersten Stempel im neuen Pilgerausweis geholt haben.
Irgendwie spiegelt das Quartier auch Sabines Stimmung wider. Die zwei Zimmer liegen im Tiefparterre. Die Fenster in Schächten, weshalb nur gedämpftes Licht hereinkommt.
Eigentlich kein Problem, denn es ist alles sauber, ordentlich und gut ausgestattet. Waschgelegenheit mit Dusche und WC über den Flur, sind auch in Ordnung, doch das halbdunkle Ambiente drückt Sabines Stimmung aus. Nicht sehr aufbauend für sie!
Zwei Doppelstockbetten bieten Platz für vier Pilger, wir sind aber allein und belegen die unteren Betten. Sabine denkt, es ist ein Vorteil, dass wir zu Beginn unserer Reise allein übernachten, damit sie mit sich erst einmal ins Reine kommt. Jetzt im Nachhinein vermute ich, es wäre sogar besser gewesen, Gesellschaft zu haben. Gespräche mit anderen zu führen, wie in den Herbergen im späteren Verlauf, hätten ihre Stimmung vielleicht schneller gehoben. Mir hat es in diesem Quartier 2017 jedenfalls gut getan, es mit anderen Pilgern zu teilen. Ob es bei meiner Frau ebenso gewesen wäre …? Wir werden es nie erfahren.

Nachdem wir uns etwas frisch gemacht haben, gehen wir in einem Asia-Imbiss essen. Am Morgen und Abend eine ordentliche Mahlzeit … ein fester Bestandteil unseres Tagesablaufes, für die nächsten Wochen.
Danach noch Tagebuch und Blog schreiben. Ein bisschen im Gästebuch lesen und gegen 20:30Uhr in einen tiefen Schlaf fallen. Die Anstrengungen fordern ihren Preis!

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