
Die Reisekasse nörgelt oder bin ichs?
Tag 29: Aufwachen, hören wie der Regen gegen die Scheibe prasselt und durchs Fenster in eine trübe, nasse Landschaft blicken ist nichts, was einen Motivationsschub auslöst. Jedenfalls nicht, wenn man schon mit trüben Gedanken ins Bett ging.
Das gute Frühstück im Beisein der Gastgeber motiviert wieder ein bisschen. Wir unterhalten uns sehr gut und können auch noch einige Zeit im Haus bleiben, weil es derzeit stark regnet.
Ich nutze das gleich um unsere Schuhe zu pflegen. Vor allem die neuen von Sabine sollen ja auch weiterhin die Nässe abweisen. Meine haben sich schon bei geschätzten 2500km Fußmarsch bewährt und ich habe sie auf jeder Tour mit Sport Wax gepflegt. Die meiner Frau kann ich auf gleiche Art behandeln, in der Hoffnung, dass sie ihr lange gut dienen.
Nach dem Wetterbericht und Regenradar zu urteilen, bleibt es den ganzen Tag eine nasse Angelegenheit. Sabine kann es sich so gar nicht vorstellen, die anstehenden 30km im Regencape zu laufen und recherchiert nach Busverbindungen zum nächsten Etappenziel.
Es gibt sie im Stundentakt von Ravensburg aus und wir werden das nutzen.
Der Regen lässt nach. Die nächste halbe bis dreiviertel Stunde soll es nur noch sehr geringe Niederschläge geben. Wir ziehen den Rucksackschutz drüber und treten den Marsch in die Stadt an.
Als wir eins der Stadttore erreichen, die in die Innenstadt führen, werfen die dunklen Wolken kurzzeitig mehr ab. Wir nutzen das gleich, um in der Liebfrauenkirche nach einem Stempel fürs Pilgerheft zu suchen.
Es gibt keinen da, dem kurzen kräftigen Schauer sind wir aber dadurch entgangen.
Auf dem Weg zum Bahnhof, von wo aus auch die Busse fahren, durchqueren wir die Innenstadt und müssen uns regelrecht durch die Passanten schlängeln. Und das trotz des schlechten Wetters! Was für ein Unterschied, zu unserer Kreisstadt, in der ich selbst tagsüber manchmal das Gefühl habe, die Bürgersteige werden gleich hochgeklappt.
Ein Bus der Linie, die wir nutzen wollen, fährt gleich ab, aber schon am Vormittag in dem Gasthof aufschlagen, wäre wohl nicht zielführend. Nach einem Studium des Fahrplans, packen wir schließlich unsere Rucksäcke in Schließfächer und streben zurück in die Innenstadt. Den gewünschten Stempel bekommen wir in der Touristinformation.
Ziellos schlendern wir durch die Stadt, essen ein Eis, trinken einen Kaffee und ich komme mir doch etwas verarscht vor, als die Wolken abziehen. Die Sonne kommt heraus und alles in mir möchte sich auf den Fußmarsch machen. Jetzt, kurz vor dem Mittag noch die 27km in Angriff zu nehmen, wagen wir aber doch nicht.
Ich werde immer deprimierter. Diese Konstellation von hohen Übernachtungskosten – bedingt durch Pfingsten und die touristisch sehr frequentierte Bodenseeregion – das Wetter und dem Gefühl des Nichtstuns ist Gift für mich. Ich wünsche mich auf den Weg durch Wald und Flur, hänge aber gerade in der Luft. Die Gedanken, unsere Tour abzubrechen, werden immer mächtiger in mir.
In Ravensburg ohne Ziel die Zeit totzuschlagen, verstärkt das nur, weshalb ich am zeitigen Nachmittag anrege, den nächsten Bus nach Markdorf zu nehmen.
Lange dauert die Fahrt nicht, weil wir auf direktem Weg dem Etappenziel entgegenstreben. Zu Fuß hätten wir einen großen Haken über Brochenzell geschlagen.
Wir haben Glück und können gleich einchecken, aber das Quartier ist meiner Stimmung nicht gerade zuträglich. Alles wirkt abgewohnt und düster, obwohl es sauber ist. Im fensterlosen Bad kann man im Spiegel bei der schwachen Beleuchtung, nicht viel erkennen. Der Lüfter funktioniert auch nicht. Die Tür zur Toilette – ein gesonderter Raum – hat jemand mit Schwung herumgeschlagen. Das Loch in der Trockenbauwand ist nicht beseitigt. Auch hier ist ein funktionierender Lüfter im fensterlosen Raum Fehlanzeige.
Bei sauberer Bettwäsche und frischen Handtüchern, die es hier gibt, habe ich damit eigentlich kein Problem. Zwischen Preis und Leistung klafft aber eine gewaltige Lücke. Da hatten wir schon weitaus wohnlichere Gasthofübernachtungen zu einem viel geringeren Preis.
Draußen wird es dunkler und nur wenig später prasselt Starkregen aufs Pflaster vor dem Haus. Jetzt einfach mal aufs Bett legen und kurz die Augen zumachen, vielleicht lacht dann draußen wieder die Sonne und in mir drin ein Licht.
Die Sonne ist es nicht, die uns später weckt. Stadtgeräusche sind es, die durchs offene Fenster hereindringen. Wie schön wäre es jetzt durch Wald und Flur zu laufen und die Laute der Natur im Ohr zu haben.
Ich kann es nicht lassen und sehe bei der Wetter-App nach, wie es uns auf der Strecke ergangen wäre. Okayyy … die Entscheidung Bus zu fahren war richtig!
Na gut, wir hatten gestern kein Abendessen und heute auch nur Frühstück und in Ravensburg ein Eis. Es kommt jetzt auch nicht mehr darauf an und vielleicht bessert sich meine Laune ja, wenn ich was im Magen habe. Wir gehen runter in den Gastraum und essen was Herzhaftes.
Eine Grillhaxe soll es werden. Ordentlich Senf drauf und Salat dazu, das weckt Erinnerungen, die mir das Wasser im Mund zusammenlaufen lassen. Das, was dann kommt, entspricht ihnen aber in keiner Weise.
Die Schwarte ist wie gehärtetes Leder. Selbst mit dem schärfsten Messer wäre sie unzerstörbar. Der Geschmack an sich … für den Moment geht’s, aber danach ist mir schlecht. Wir lassen das Essen aufs Zimmer schreiben, Trinkgeld gebe ich hier bestimmt nicht!
Der gefüllte Magen trägt also auch nicht dazu bei, meine Stimmung zu heben. Vielleicht hilft ein Gang durchs Dorf. Obwohl es von der Größe her kein Dorf ist, wie wir bald merken. Wir spazieren durch die schmucke Innenstadt zur Kirche, wo wir uns auch einen Stempel in unseren Pilgerpass drücken.
Haben wir uns den verdient, wenn wir mit dem Bus angereist sind? Mein Gewissen sagt Nein, auch das ist Sand im Getriebe meiner Gedanken. So bessert sich mein Gemütszustand nicht und als es erneut nass niedergeht, verkriechen wir uns im Zimmer.
Das Unwohlsein in der Magengegend ändert sich auch nicht. Am liebsten würde ich das ganze rückwärts essen. Irgendwie ist im Moment kein Licht zu sehen.
Falle ich in so ein Loch, dauert es immer länger, bis ich mich aus ihm befreien kann und da ist es gut, dass ich Sabine an meiner Seite habe. Sie ist immer noch voll motiviert und macht sogar das erste Quartier in der Schweiz fest.
Was wir dabei nicht bedenken, sind die Kosten, die bei einem Anruf von Deutschland in die Schweiz entstehen. Ich habe mich da nicht so umfassend informiert, wie ich das hätte tun sollen. Unser Handyvertrag beinhaltet zwar das Roaming in den EU-Staaten, der Schweiz und England, aber Anrufe von einem Land in das andere werden gesondert berechnet. Das erfahre ich aber erst bei Einsicht in die Rechnung. Die Sache hält sich noch in Grenzen, es zeigt aber wieder einmal, dass man viel mehr Zeit aufwenden muss, um sich über alle Eventualitäten im Klaren zu sein.
Tag 30: Gut geschlafen haben wir und mein Magen hat sich auch wieder beruhigt. Jetzt frühstücken und dann los, wieder auf die Strecke und auf andere Gedanken kommen.
Das, was wir im Gastraum vorfinden, entspricht dem, was zu erwarten war. Irgendwie wirkt alles ein bisschen schmuddelig, die Bedienung inbegriffen. Schon am Vortag, als wir nach dem Essen zum Stadtrundgang aufgebrochen sind, habe ich diese Frau gesehen. Mit fleckiger Schürze saß sie rauchend auf einer Kiste vor dem Eingang. Diese Schürze hat sie jetzt immer noch an, als sie uns den Kaffee bringt.
Danach schlurft sie zu einer Tür neben der Treppe. Ahh, vielleicht holt sie einen Besen und kehrt den Dreck zusammen, der nach dem gestrigen Regen durch die Seitentür hereingetragen wurde. Ach nö, der Schmutz bleibt, sie war nur auf der Toilette.
Bei ihr sollen wir heute auch die Rechnung begleichen, hat die Wirtin gesagt, weil sie selbst erst später kommt. Am liebsten wäre es ihr in bar, meinte sie noch dazu. Vielleicht in der Hoffnung auf ein Trinkgeld, oder … Egal, Trinkgeld gibt es hier auf keinen Fall und bezahlt wird mit Karte.
Meine Stimmung bessert sich etwas, als wir wieder auf dem Weg sind. Das Wetter meint es heute auch gut mit uns, also sollte doch alles wieder im Lot sein. Naja, so schnell geht das bei mir nicht! Irgendwie sitzt das tief und ich muss mich erst wieder aus dem Loch befreien.
Nach 8km rege ich die erste Pause an. Sabine hat noch nicht das Bedürfnis, stimmt aber zu. Das ist etwas Neues! Vor zwei Wochen noch undenkbar.
Es zeigen sich inzwischen deutlich Unterschiede bei uns.
Meine Frau ist nach 30 Tagen, mehr im Pilgern angekommen als ich. Ich möchte behaupten, sie ist hungrig geworden und sehnt sich nach mehr. Sabine will auf jeden Fall – vorausgesetzt es überschreitet unseren finanziellen Rahmen nicht – weiterlaufen.
Auch die Auswirkungen von Ruhetagen können unterschiedlicher nicht sein. Sabine geben sie neue Energie, mich werfen sie zurück. Es ist da wie in meinem Arbeitsleben. Hatte ich mich in etwas eingearbeitet, konnte ich das auch effektiv durchziehen. Da kam es mir auf eine Stunde mehr nicht an. War ich herausgerissen und musste ständig zwischen den Aufgaben wechseln, wurde ich uneffektiv. Das Mandra wurde unterbrochen, wie jetzt beim Pilgern. Ob wir da noch einen Konsens finden?
Wir erreichen Meersburg, diese wunderschöne Stadt am Bodensee. Durch das obere Tor betreten wir die obere Altstadt und obwohl ich schon mehrfach hier war, nimmt sie mich gleich wieder gefangen. Bei strahlend schönem Wetter zwischen diesen gepflegten Gebäuden hinunter zum See zu gehen, hebt meine Stimmung.
Bedingt durch die Übernachtung in Markdorf hatten wir nur 18km bis hier her. Sabine hatte auf der Strecke auch einen straffen Schritt drauf, weshalb wir schon gegen Mittag am Bodensee angekommen sind.
Was tun, gleich zur Fähre und nach Konstanz übersetzen? Vermutlich nicht zielführend, denn einchecken können wir erst ab 15:00Uhr. Während wir uns dahin gehend Gedanken machen, betrachten wir am Ufer stehend den See. Die warme, aber kräftige Brise lässt die Wellen schäumend an der Mauer brechen. Sabine macht ein kurzes Video und stellt es bei WhatsApp ein, danach schlendern wir in die gut besuchte Promenadenstraße, um die Zeit zu überbrücken.
Der freie Tisch im Außenbereich eines Cafés lädt uns zum Setzen ein. Sabine einen Kaffee, ich ein Eis, das muss jetzt sein. Hinweistöne des Handys sagen meiner Frau, dass ihr Video von vielen bewertet wird. Sie schaut nach und antwortet einigen.
Als wir schließlich auf der Fähre nach Konstanz sind, geht es weiter mit ihrer WhatsApp-Korrespondenz. Eine Freundin ist dabei, die sie schon sehr lange nicht mehr gesehen hat und die fragt wo wir sind, denn sie ist gerade in Konstanz von der Fähre gegangen.
Was für ein Zufall! Die Freundin wohnt jetzt an der Ostsee und trifft sich mit einem ihrer Söhne hier. Wir überlegen, ob wir uns später in der Stadt treffen, aber erst wollen wir einchecken und die Rucksäcke loswerden.
Kaum von der Fähre, lese ich ein Schild im Fenster eines Hauses: „Zimmer frei.“
Na toll, vermutlich hätten wir da preiswerter übernachten können, als in dem Hotel. Da kommt doch gleich wieder Sand ins Getriebe meiner Stimmung.
Wir müssen unbedingt mehr recherchieren, wissen bloß nicht wo und wie.
Bis zum Hotel ist es noch ein ganz schöner Fußmarsch und dann kommt kurz vor dem Ziel auch noch ein kräftiger Regenschauer. Zum Glück finden wir eine Möglichkeit uns unterzustellen, ziehen aber trotzdem den Rucksackschutz drüber.
Angekommen in der luxuriös wirkenden Lobby des Hotels, fühle ich mich als verschwitzter Rucksackträger nicht gerade wohl. Die Dame am Empfang nimmt mir aber mit ihrer natürlichen Freundlichkeit die Hemmungen. Naja, wir haben ja auch eins der teuersten Etablissements gebucht.
Zu zeitig sind wir immer noch. Das Zimmer befindet sich noch in der Endreinigung und wir können erst nach 15:00Uhr rein. Um die Wartezeit zu überbrücken empfiehlt sie uns einen Besuch im Restaurant.
So etwas tun wir eigentlich gerne erst nach dem Duschen, wenn wir in den Wechselkleidern stecken. Aber geht ja gerade nicht.
Im Inneren des Restaurants sind viele Gäste noch bei einem späten Mittagessen. Auch das Klientel ist nicht pilgerkonform. Genau das zeigt auch die Miene des Kellners an, der an der Eingangstür steht. So nach der Art: „Du kummst hier net rein!“, mustert er uns Rucksackträger.
Die Stühle und Tische im Außenbereich sind noch nass vom Regen, nur die direkt an der Fensterfront, nicht ganz so sehr. Wir möchten uns gerne an einem von ihnen niederlassen, aber auch dass scheint nicht den Wünschen des Kellners zu entsprechen. Unsere Anfrage dahin gehend wird mit:
„Es hat ja gerade erst geregnet und bisher hatte niemand Zeit das trocken zu wischen“, abgeplättet.
Hm, was ist mit ihm, er sieht nicht sehr beschäftigt aus?
Als hätte sie das geahnt, kommt die Dame vom Empfang dazu und informiert den Mann, dass wir Gäste des Hauses sind.
Nicht sehr erfreut darüber, sieht sich der Kellner genötigt, einen Lappen und ein Trockentuch zu holen, damit wir uns setzen können. Bis er uns den bestellten Kaffee und den Kuchen bringt, lässt er sich aber viiieeel Zeit.
Menschenskinder noch mal, es ist gerade so, als hätte sich alles verschworen, mir die Laune zu vermiesen! Auch hier bezahlen wir deshalb nicht bar und lassen es aufs Zimmer schreiben. Trinkgeld hat der nicht verdient!
Ein bisschen vor der Zeit suchen wir dann unser Zimmer auf und die Reinigung ist auch durch.
„Boah ey!“, so luxuriös haben wir noch nie in unserem Leben übernachtet. Der Preis ist dem angemessen. Es hätte aber nicht sein müssen, raunt eine Stimme ständig in mir.
Geduscht und ohne Rucksack gehen wir zur Bushaltestelle vorm Hotel, um in die Innenstadt zu fahren und uns mit Sabines Freundin zu treffen. Die Fahrt mit den Bussen ist für uns als Hotelgäste kostenlos. Gutscheine dafür haben wir am Empfang bekommen.
Wie freuen sich die zwei Frauen, dass sie sich wieder einmal in die Arme schließen können. Ein Plätzchen muss her, wo wir uns in Ruhe unterhalten können.
Es wird ein uriges kleines Szenecafé, wo wir im Außenbereich einen freien Tisch finden. Nicht nur die Belegschaft ist hier jung, auch die Gäste sind es zu einem großen Teil. Drinnen sitzen sie an allen möglichen Orten. Selbst in der tiefen Nische des Schaufensters, haben sie es sich mit gekreuzten Beinen bequem gemacht. Also bequem … für mich jetzt undenkbar, da müsste ich vierzig Jahre jünger sein.
Heute also zum dritten Mal ein Café Besuch. Sind wir denn Krösus? Abendessen muss dafür auf jeden Fall ausfallen. Unsere Reisekasse bekommt ja Schnappatmung!
Die Gespräche drehen sich zum großen Teil um unsere Tour, wobei wir auch von Sabines Freundin viel Interessantes erfahren können. Sie ist schon den spanischen Jakobsweg gelaufen und manches von dem, was sie uns berichtet, deckt sich mit den Berichten von anderen. Der Weg dort ist vor allem auf die letzten 100km total überlaufen. Viele davon gehen nur diese letzten Kilometer der Urkunde wegen, die man dafür bekommt. Manche lassen sich ihren Rucksack von Quartier zu Quartier fahren. Von Besinnlichkeit und Pilgerfeeling bleibt da nicht viel übrig.
Sabines Freundin ist deshalb auf diesen letzten Kilometern oft in der Nacht gestartet, um dem Trubel aus dem Weg zu gehen. Naja, mal sehen ob wir überhaupt so weit kommen, aber nachts laufen wäre nicht unser Ding.