Der Anfang vom Ende

Tag 46: Gestern haben wir uns noch einmal über den Fortgang unserer Reise unterhalten und sind zu dem Entschluss gelangt, innerhalb dieser Tour nur noch bis Lausanne zu laufen. Tief in mir drin und Sabine zuliebe, würde ich auch gerne die Schweiz in Genf abschließen, gehe aber davon aus, dass wir das nicht schaffen werden. Ich merke, dass ich körperlich an meine Grenzen komme und Sabine setzt die Wärme erheblich zu. Wenn Gott will – wie man so schön sagt – setzen wir die Pilgertour dann nächstes Jahr am Schlusspunkt von diesem Jahr fort.
Sabine kam deswegen in der Nacht gar nicht richtig zur Ruhe. Die Aussicht, am Wochenende nach Hause zu fahren und all unsere Lieben wieder zu sehen, hat sie stark beschäftig. Vor allem auf die Enkelkinder freut sie sich sehr.
Jetzt sitzen wir beim Frühstück und ich frage sie:
„Bist du sehr traurig, weil wir es nun doch nicht bis zum Ende durchziehen?“
„Gar nicht! Natürlich war es eine großartige Zeit, aber wir müssen uns doch auch nicht schämen, wenn wir jetzt aufhören für dieses Jahr. Heute ist der 46igste Tag unserer Tour und wenn wir den Genfer See erreichen, haben wir über 1000km zu Fuß zurückgelegt. Dann haben wir das erste Drittel der Gesamtstrecke geschafft. Daher bin ich nicht traurig, ich freue mich sogar darauf, wieder nach Hause zu fahren.“
„Hast du schon Antworten auf deine Mails von gestern Abend bekommen?“
Sabine hatte am Abend noch Anfragen für die nächsten zwei Quartiere gemacht. Diesmal per Mail, weil die Unterkünfte im französischen Teil der Schweiz liegen und sie den Text vorher mit einer Übersetzungs-App bearbeitet hat.
„Ja, das Quartier in Posieux geht klar, da kam eine Zusage. Von Romont kam eine Absage, sie haben schon Pilger an diesem Tag. Ich frage nachher gleich noch bei der nächsten Adresse an, die wir herausgesucht haben.“
„Wird schon noch klappen“, gebe ich mich optimistisch.

Bei schönstem Wetter brechen wir dann auf. Rückblickend sehen wir heute die höheren Gipfel sehr gut. Die gestrigen Gewitter haben die Luft gereinigt. Mir kommt es sogar so vor als wären die Gipfel weißer als noch vor Tagen. Vielleicht haben die Wolken dort oben Schnee abgeladen.

Gipfel

Bald wird es wieder sehr warm, aber zum Glück weht heute ein kleines Lüftchen, das unsere Wanderung ein wenig erträglicher macht. Die Landschaft erinnert mich auch ein wenig an unsere Heimat. Sie ist sehr landwirtschaftlich geprägt und von den höheren Alpengipfeln ist später kaum etwas zu sehen.

Landwirtschaftlich geprägt

Einen sehr jungen Pilger treffen wir auch, aber es bleibt bei einem kurzen Gruß. Später ein Stück vor Schwarzenburg, sehnen wir eigentlich eine Pause herbei. Wir hoffen auf eine Sitzgelegenheit, als wir um eine Wegbiegung gehen. Aber da ist nichts. Nur eine abgemähte Wiese, wo der junge Pilger sich mit zwei ebenso jungen Mädchen niedergelassen hat.
Wir grüßen im Vorbeigehen, aber keiner nimmt uns so richtig wahr. Kein Wunder, der junge Mann ist bei den zwei Hübschen voll im Balzmodus. 🙂
Nur wenig weiter finden wir auf einer Anhöhe einen schönen Rastplatz. Mehrere Bänke im Baumschatten und ein Pavillon entschädigen uns für den etwas längeren pausenlosen Abschnitt. Zeit für unseren Mittagsriegel und Ruhe, um die schöne Aussicht zu genießen.
Es dauert nicht lange, da tauchen die drei jungen Leute auf. Besonders eins der Mädchen scheint es dem jungen Mann angetan zu haben und die geht auch voll mit. Wie er sich produziert … in Szene setzt, während er mit ihr spricht und sie kichert fast ein bisschen hysterisch. Es ist schon interessant, so ein jugendliches Balzverhalten zu erleben. Ich weise Sabine darauf hin, doch die zuckt nur mit den Schultern und sagt: „Meinst du?“

In Schwarzenburg sehen wir die drei noch einmal, als sich die zwei Mädchen beim Bahnhof von dem jungen Mann verabschieden. Er läuft dann weiter in unsere Richtung, die jungen Damen hin zum Bahnhof.
Schwarzenburg bietet auch wieder die Möglichkeit unser – fast schon Standard – Abendessen zu besorgen, bevor wir unseren Weg nach Sankt Antoni fortsetzen.
Auf dem weiteren Weg geht es wieder einmal mehr bergab und bergauf, auf teils sehr alten Trassen. Es sind befestigte alte Römerstraßen. Stellenweise aus dem Fels gehauen und mit den vor Ort verfügbaren Steinen gepflastert. Besonders gut laufen lässt es sich wegen der Unebenheit, darauf nicht. Sabine wird wegen dieser Verhältnisse und der Wärme wieder langsamer. Wir nähern uns ja auch der 20km Marke.

Römerstraße

Sankt Antoni und unsere Unterkunft ist erreicht, aber sind wir hier wirklich richtig? Vor dem Haus am Gartenzaun sieht es fast ein bisschen aus wie auf dem Schrottplatz der Ludolfs. Na hoffentlich ist es drinnen besser?

Schrottsammlung

Ist es nicht wirklich! Überall stapelt sich Kruscht, wie man im Schwäbischen zu sagen pflegt. Berge von altem Zeug, liegen auf beiden Seiten der Haustüre säumen Flur und Treppenhaus. Um Himmels willen, wo sind wir denn hier gelandet? Ist das Messihausen?

Kruscht

So richtig zum Wohlfühlen ist es hier nicht, aber als Pilger schraubt man seine Ansprüche doch etwas herunter. Dennoch sehen wir davon ab, unser Abendessen im Garten einzunehmen. Irgendwie erscheint es nicht sehr verlockend zwischen dem Sammelsurium von alten Blumentöpfen, Kleiderständern, abgebrochenen Schaufeln und ähnlichem zu sitzen. Zumal wir dann auch mit dem großen Hund und den Katzen rechnen müssen, wie die Vermieterin sagt.
Auch der kleine Balkon bietet nicht die richtige Möglichkeit draußen zu sitzen, aber wir können wenigstens die verschwitzten Sachen dort trocknen. Ich wage mich noch einmal ins Erdgeschoss und kann noch zwei Büchsen Bier ergattern. Das wird unsern Tagesausklang etwas bereichern. Also sitzen wir im recht aufgeheizten Zimmer, essen unsere Brötchen mit Landjäger und Sabine checkt ihre Mails.
„Das zweite Quartier hat auch abgesagt, aber ich finde es toll, wie freundlich die sind. Die Antwort ist in Französisch und in Deutsch. Es tut ihnen sehr leid, aber sie haben schon anderen Pilgern zugesagt. Sie hoffen aber, dass wir noch etwas anderes finden und wünschen uns Buen Camino.“
„Und was jetzt?“, frage ich.
„Ich schreibe gleich alle der restlichen Adressen die wir haben, an.“

Tag 47: Die Nacht ist nicht wirklich erquicklich. Es ist warm und stickig im Zimmer. Ich möchte die Decke zurückschlagen, doch die ständigen Angriffe der Mücken nerven. Warum müssen diese Viecher nur immer um meine Ohren herum schwirren? Können die sich nicht meine Füße vornehmen, die ich raushängen lasse, damit ich wenigstens einschlafen kann? Nein, sie wollen nicht, sie bevorzugen mein Gesicht.
Irgendwann falle ich dann doch in einen unruhigen Schlaf, aus dem ich zur gewohnten Zeit, gegen 06:00 Uhr erwache. So richtig erholt von der Nacht sind wir beide nicht, aber was soll’s, die vier Etappen bis Lausanne schaffen wir auch noch.
Ich begebe mich wie gewohnt als erster auf den Hürdenweg zum Bad. Zur Tür raus und … huch, rechts von mir huscht ein recht korpulenter Mann nackt die Treppe hinunter. Aber er wünscht mir wenigsten einen guten Morgen. Ich muss bei dem Gedanken, Sabine wäre heute als erste ins Bad gegangen, doch ein wenig schmunzeln.
Also weiter zwischen der Trödelsammlung der Frau hindurch. Sabine ist nämlich der Meinung, sie ist kein Messi. Bei all dem steckt ein System dahinter, sagt meine Frau. Die Vermieterin hat ja auch erwähnt, dass sie am Wochenende auf einen Trödelmarkt geht. Tja, meine Frau sieht eben immer vorrangig das Gute in jedem Menschen. Eine ihrer besten Eigenschaften!

Trödel
Sammelleidenschaft


Aber weiter zum Bad. Ich öffne die Tür zum Zwischengang, die wir wegen den Katzen geschlossen halten sollen. Rechts geht es in den Dachbodenbereich, der auch gut gefüllt ist und links über ein paar Stufen runter in Richtung Bad. Da ist bei der Einrichtung auch einiges vom Trödel mit eingeflossen. Zum Beispiel dieses Absperrventil – oder alter Wasserhahn – das als Druckspüler beim WC dient. 🙂

Zum Frühstück sitzen wir an einem Tisch draußen mit dem Mann, den ich schon auf dem Weg zum Bad gesehen habe und der Vermieterin. Ach und dem Berner Sennenhund, der mir die Füße wärmt.
Also freundlich sind die beiden sehr, das kann man ihnen nicht absprechen, aber das Frühstück ist dann doch nicht so der Hammer. Gut, wir werden satt, auch wenn die Frau fast jede Scheibe Weißbrot einzeln holt. So nach dem Motto; müsst ihr denn noch mehr essen? Der Instand Kaffee ist auch nicht so der Renner, aber naja, wenigstens Kaffee.
Dann berichtet die Frau, dass eine Pilgerin, die vorher hier übernachtet hat, am Morgen dann regelrecht ausgeflippt ist. Sie hätte sie übel beschimpft, weil sie keinen Pilgerstempel hat und sie nun noch mal in die Kirche muss, um sich einen zu holen.
„Haben denn die anderen B&B Quartiere alle einen Stempel?“, fragt sie uns.
„Nur die wenigsten“, gibt Sabine zurück und ich denke mir meinen Teil.

Nach dem Frühstück fülle ich noch unsere Wasserflaschen, aber nicht am Waschbecken im Zimmer, sondern im Bad. Der Hinweis, wir sollen das Wasser bei dem Waschbecken vorher sehr sehr lange laufen lassen, damit Verunreinigungen raus sind, ist mir doch nicht so geheuer. Deshalb haben wir dieses Waschbecken auch gar nicht genutzt.

Wir verlassen „Messihausen“ – ist nicht böse gemeint – und nur wenig weiter kommt die Kirche, in der wir uns den ersten Stempel auf unseren Zusatzblättern holen.
Danach sage ich zu meiner Frau:
„Ich denke nicht, dass die andere Pilgerin wegen dem Stempel gemotzt hat. Ihr wird das Gesamtpaket sauer aufgestoßen sein. Ich meine, 50 Franken pro Person für Übernachtung mit Frühstück in dem Ambiente? Also, da haben wir schon für 30 oder 35 Franken pro Person, ganz andere Quartiere gehabt, oder?“
„Trotzdem sind die zwei nett und sie ist kein Messi, sondern eine Trödlerin.“ Ja so ist meine Frau, sie stellt immer das Positive voran!

Der junge Pilger, den wir schon am Vortag gesehen haben, ist auch wieder auf der Strecke. Wir sehen ihn ein paar Mal vor uns, wählen aber von Tafers aus die Variante durchs Galterntal.
Dieser Weg wurde uns im letzten Quartier empfohlen, weil wir da fast durchgängig im Schatten laufen würden. Die wildromantische Schlucht wäre an sich schon eine Sehenswürdigkeit und der Weg nur unwesentlich länger. Also folgen wir dem Vorschlag, weil die Temperaturen schon wieder ordentlich angestiegen sind.
Anfangs läuft es sich auch sehr schön, doch jetzt kommen immer wieder An- und Abstiege mit Stufen. Der Untergrund ist schmierig und Sabines Ängste flammen wieder auf.

Galterntal

Bei mir beginnt vor allem bei den Abstiegen das Knie erheblich zu schmerzen. Außerdem bin ich trotz beschattetem Weg bald durchgeschwitzt.
Also nicht falsch verstehen, die Schlucht ist wirklich eine lohnende Alternative, aber für uns in dieser Phase der Tour eigentlich der falsche Weg!
Sabine wird immer langsamer. Mir kommt es so vor als würde sie in Zeitlupe jede Stufe nehmen. Vorsichtig stützt sie sich mit den Stöcken nach vorn ab, bevor sie eine Stufe nach unten nimmt und das macht mich kirre. Ich kann einfach nicht mehr richtig damit umgehen. Vor Tagen noch habe ich in solchen Fällen versucht ihr Sicherheit zu geben und mich ihrem Tempo angepasst. Jetzt geht das nicht mehr. Ich habe mit mir selbst zu tun. Mit meiner Stimmung, meinem Knie und das wirkt sich auf alles aus.
Wenn ich versuche die Stufen in ihrem Tempo zu nehmen, schmerzt mein Knie noch mehr. Ich muss einen bestimmten Rhythmus einhalten, dann geht es viel besser. Und wie das so ist bei mir, ich steigere mich immer mehr in meinen Unmut hinein und laufe gerade bei den Abstiegen meiner Frau davon. Dadurch können wir diese wundervolle Schlucht gar nicht richtig genießen!
Die Missstimmung zwischen uns ist fast greifbar. Etwas, was es auf der ganzen Tour nur einmal so gegeben hat, bei den Quartierproblemen in Giengen an der Brenz. Und ich weiß, es liegt viel daran, dass ich in solchen Situationen mein inneres Gleichgewicht verliere.
Als wir am Ende der Schlucht auf einem asphaltierten Weg Fribourg zustreben, versuche ich wieder zur Ruhe zu kommen. Sabine läuft aber immer noch hinter mir her, obwohl genügend Platz zum nebeneinander Laufen wäre. Das macht mich schon wieder ein bisschen verrückt und ich blicke mich ständig um. Gerade falsch in dieser Situation!
Meine Frau ärgert sich über mich, weil ich sie an den Stellen, die sie für gefährlich erachtet hat, allein gelassen habe. Sie braucht ein bisschen Abstand, um runter zu kommen und da nervt mein kontrollierender Blick. Begreifen tu ich das in dem Moment nicht, aber das Gespräch suche ich.
Es ist anfänglich von einer gewissen Gereiztheit beiderseits geprägt. Bald zeigen sich jedoch wieder unsere unterschiedlichen Charaktere. Sabine kann schon, als wir die untere Altstadt von Fribourg erreichen, einen Haken dran machen, ich noch nicht. In mir überwiegt jetzt der Ärger über mich. Es nimmt aber auch die Erkenntnis Gestalt an, dass meine derzeitige Verfassung eine große Rolle spielt. Ich spüre, dass meine Kondition im unteren Bereich angekommen ist und ich die Reise nicht mehr so genießen kann wie es sein sollte.

Vor dem Tor in die Altstadt
Vor dem Tor in die Altstadt

Auf halben Weg den steilen Anstieg hoch ins Zentrum der Altstadt nutzen wir auf einem kleinen Platz die Steinbänke für eine Rast. Ich … oder vielleicht auch wir beide, sind an einem Tiefpunkt unserer Tour angekommen.
„Ich denke, es wird wirklich Zeit diese Reise zu beenden“, sage ich niedergeschlagen zu meiner Frau. „Noch maximal bis Lausanne, den Weg am Genfer See entlang, möchte ich nicht mehr laufen.“
Ich ernte keinen Widerspruch, aber Sabine zeigt auch ihre Stärke, sich viel schneller auf eine Veränderung einzustellen. Also damit meine ich nicht nur das Ende der Pilgerreise, nein, auch das Überwinden von Missstimmungen geht bei ihr viel schneller.
Fribourg, das als nächstes gesetzte größere Etappenziel, haben wir erreicht. Noch drei weitere Etappen bis Lausanne, dann geht’s heim!

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