
Auf zum Naturpark Gantrisch
Tag 44: Auf der Fähre frage ich meine Frau noch einmal, warum sie es verraten hat und sie erklärt mir:
„Ach, das hat sich irgendwie verselbstständigt. Ich hatte den Hospitalero nur gefragt, ob er dir vielleicht einen kleinen Segen vor dem Aufbruch lesen könnte. Seine Frau hat dann sofort das mit den Blumen in die Hand genommen. Naja und den Rest kennst du ja.“
Ja, es hat mich überrascht. Es war mir irgendwie peinlich – warum auch immer das so bei mir ist – hat mich aber auch sehr berührt.

Auf dem weiteren Weg streifen wir Gwatt und haben einen freien Blick auf das Ende des Sees bei Thun. Es versöhnt mich wieder etwas mit der Wegführung und Fährverbindung. Wie ich im Wanderführer lesen konnte ging die Pilgerroute vor ein paar Jahren noch um den See herum und man musste durch das dich bebaute Gebiet am Nordufer beim Abfluss der Aare laufen. Städte wie Thun und ihre Satelliten Ortschaften zu durchwandern, wäre für mich wenig erquicklich gewesen und hätte auch einen großen Bogen bedeutet. Also, eigentlich die bessere Lösung jetzt, auch wenn wir dadurch nur eine kurze Etappe vor uns haben.
Generell muss ich jedoch gestehen, dass der Ruhetag nicht die ganz große Wende gebracht hat. Ich bin nicht besonders gut drauf. Vermutlich ist das aber eine Mischung aus vielen Einflüssen. Wie immer bin ich nach einer Pause aus dem Mandra raus. Ich muss erst wieder meinen Rhythmus finden. Dann merke ich jetzt doch immer mehr, dass meine Kondition nicht mehr die ist, wie vor den OPs. Ein deutliches Zeichen dafür ist, ich brauche die Fernbrille wieder, die ich auf der ganzen Reise kaum genutzt habe. Mein linkes Knie muckert auch wieder rum und zu guter Letzt ist es die Wärme, die uns zusetzt.
Dadurch, dass wir erst so spät gestartet sind laufen wir ja fast die ganze Zeit bei den höchsten Tagestemperaturen. Laut Wetter App sollen es heute weit über 30°C im Schatten sein und wir haben viele Abschnitte in der prallen Sonne. Sabine setzt das besonders zu und wie schon bekannt, wird sie dadurch immer langsamer. Auch etwas, was sich negativ auf meine Stimmung auswirkt.
Was davon jetzt tragend ist, weiß ich nicht, aber ich laufe meist schweigend vor meiner Frau her und das macht sie traurig. Gerade weil heute mein Geburtstag ist. Für mich nicht der besondere Tag, für sie aber schon ein wenig.
Die Landschaft die wir durchwandern ist dafür um so schöner. Ein Stückchen laufen wir auf einem Höhenkamm entlang. Er sieht aus wie ein Deich an der See, oder ein Damm an einem Fluss. Ist aber nichts von all dem. Es ist ein Landrücken mit einem schnurgeraden Pfad obendrauf. Rechts von uns das Flachland am See mit der Stadt Thun. Links eine hügelige Landschaft, die dann zu höheren Bergen ansteigt.
Immer wieder wird auch der Blick frei auf die schneebedeckten Gipfel in der Ferne, die wir nun schon von vielen Seiten her gesehen haben. Eigentlich schönste Wege zum Wandern, wenn da nicht in mir drin ein Schatten wäre.
In einer Pause sprechen wir auch darüber und ich gestehe Sabine, dass ich nicht weiß, wie lange ich noch durchhalte. Bis Lausanne möchte ich eigentlich auf jeden Fall kommen. Wenn möglich sogar bis Genf, obwohl mir vor den Etappen am Genfer See graut. Dort geht es viel durch dicht besiedeltes Gebiet. Eine Gegend, wo die Schönen und Reichen gerne Urlaub machen. Mich zwischen denen mit meinem Rucksack zu bewegen, ist ja bekanntlich gar nicht mein Ding.
Aber alles wird sich fügen. Wir lassen es auf uns zukommen.
Kurz vor Amsoldingen treffen wir auf den Pilger, der mit uns in der Herberge von Brienzwiler übernachtet hat. Er ist auch noch nicht weiter, obwohl er einen Tag mehr gelaufen ist als wir. Allerdings hat er sich mehrfach verlaufen und das schon nach Brienzwiler. Da ist er in die genau entgegengesetzte Richtung gewandert und nicht mal stutzig geworden, als er am Militärflughafen vorbei kam. Einerseits kann ich das gar nicht verstehen, denn der Weg von Brienzwiler an den Brienzer See ist sehr gut ausgeschildert. Andererseits zeigt es aber sein ungeplantes Vorgehen überdeutlich. Er läuft ohne die geringsten Hilfsmittel zu haben, die ihm den Weg weisen könnten. Keine Karte, keinen Wanderführer hat er bei sich und auch keine App mit den GPS-Tracks auf dem Handy. Das er sich da verläuft ist kein Wunder, da er auch meist mit gesenktem Kopf läuft. Vermutlich, weil der Rucksack immer noch zu schwer ist. Obwohl er 3kg aussortiert und nach Hause geschickt hat, wiegt er immer noch mehr als meiner.
Wir sitzen bei einer Rast ein Stück zusammen und er erzählt, dass er heute sicher schon 30km gelaufen ist, weil er auch an diesem Tag den Weg verloren hat. Die letzte Nacht muss er auch wieder irgendwo im Wald geschlafen haben, da er sich nicht um ein Quartier gekümmert hat. Auch heute hat er noch keinen Plan, wo er übernachten könnte. Er fragt nach unserer Unterkunft, aber ich weiß, dass es dort nur zwei Betten gibt. Bargeld hat er auch keins mehr und sucht krampfhaft nach einem Geldautomaten.
Schwierig ihm zu raten, weil er auch das, was die Hospitaleros in Brienzwiler zu ihm sagten, kaum umsetzt. Ich stelle wenigstens die Gurte seines Rucksacks halbwegs ordentlich ein, weil das Teil die Last nur auf die Schultern legt. Jetzt trägt der Bauchgurt mit und er meint, es kommt ihn viel leichter vor.
In Uebeschi beim Abzweig vor unserem Quartier nehmen wir Abschied und er trottet weiter ohne einen Plan, wo der Tag endet. Ich mache mir bald selbst Vorwürfe, dass wir ihn nicht mehr bei der Hand genommen haben. Vielleicht wäre es gut gewesen, wir hätten für ihn noch ein Quartier gesucht oder ähnliches. Nun ist es zu spät, er ist weg. Irgendwie liegt das auch daran, dass ich mit mir selbst zu kämpfen habe. Ich muss das wieder in den Griff bekommen!
„Uuuhhmmm“, entweicht es mir beim Ausziehen des Shirts.
Vor allem bei der rechten Hüfte ist es an der offenen Stelle angeklebt. Nicht eine einzige Blase habe ich auf dem ganzen Weg davongetragen, aber seit den ersten Tagen mit leicht wund gescheuerten Hüften zu kämpfen. Mal mehr, mal weniger stark und das war schon auf meinen früheren Pilgertouren ein Problem. Warum ist das bei mir nur so? Sabine hat doch auch keine Probleme damit. Was ist bei mir nur anders?
Ich nehme mir meinen Rucksack vor und inspiziere die Bauchgurte näher. In den Taschen des Gurtes habe ich links das harte Brillenetui und rechts mein Portemonnaie. Beide Taschen sind damit so gefüllt, dass der Reisverschluss kaum zugeht. Außerdem sind beide Inhalte sehr hart. Ob es daran liegt? Ich nehme beides heraus und verstaue es anderweitig. Es war sowieso immer schwierig diese Utensilien aus den Taschen zu bekommen, ohne den Bauchgurt zu öffnen. Mal sehen ob es hilft.
Es ist eine schöne Unterkunft hier in Uebeschi. Das große Zimmer in einem Nebengebäude des ehemaligen landwirtschaftlichen Hofes bietet alles, was das Pilgerherz begehrt. Zwei Büchsen Bier haben wir auch ergattern können und jetzt genießen wir die Pizza und den Salat, den wir uns von einem Lieferservice bringen ließen.
Von unserem Platz im Garten des Gehöfts haben wir einen schönen Blick ins Land und in mir kehrt langsam wieder Friede ein. Ich weiß nicht, liegt es an der Ruhe, der milden Abendluft, oder dem Reflektieren beim Schreiben des Blogs, aber jetzt habe ich wieder Hoffnung, dass wir es noch bis an den Genfer See schaffen.
Tag 45 unserer Reise, beginnt mit einem zeitigen Frühstück. Wir sind unabhängig, weil alles schon im Zimmer bereitliegt. Selbst frische Eier können wir dem Kühlschrank entnehmen und Eierkocher sowie Kaffeeautomat sind vorhanden. So gelingt es uns auch, in den kühleren Morgenstunden aufzubrechen.
Weit sind wir noch nicht gelaufen, als klar wird, dass es auch gut so war. Zurückblickend sehen wir, wie Gewitterwolken über Uebeschi aufziehen. Denen sind wir entgangen. Alles fügt sich!
Kurz vor den ersten Häusern von Blumenstein treffen wir auf eine Spaziergängerin und ich frage sie:
„Gibt es hier im Ort einen Geldautomaten?“
„Manchmal“, ist die knappe Antwort.
„Wie meinen Sie das?“ Wir sind doch etwas verwirrt.
„Naja, es ist ein mobiler Automat, in einem Transportwagen und manchmal steht er auch wo anders. Aber ich glaube, heute ist er da.“
Sie beschreibt uns noch den Standort und wir ziehen weiter, nicht ohne noch ein ganzes Stück über das „Manchmal“ zu schmunzeln.

Ja, wir haben Glück der Automat ist da und es ist sogar ein Automat der Kantonalbank, bei dem ich auch 400 Franken bekomme. Die nächsten Unterkünfte kann ich also gut in bar bezahlen.
Gleich daneben ist ein Supermarkt, in dem ich unsere obligatorische Abendmahlzeit – Brötchen und Landjäger – besorge. Noch mal einen kräftigen Schluck aus der Wasserflasche nehmen, dann geht es weiter.
Beim Schließen des Bauchgurtes stelle ich fest, dass es sich besser anfühlt, seit die Seitentaschen leer sind. Es reibt nicht mehr auf der Hüfte. Warum bin ich nur nicht früher auf diesen Gedanken gekommen?
Wattenwil liegt hinter uns und ich muss wieder die Fernbrille aufsetzen. Meine Kondition lässt wirklich stark nach. Es ist eigentlich kein gar so steiler Anstieg, den wir anfänglich bewältigen müssen und doch interveniert schon da mein Knie. Mehr noch, als es dann auf einer Asphaltstraße steiler hinaufgeht.
Mehrfach bleiben wir stehen – auch weil Sabine bei solchen Aufstiegen immer kleine Pausen braucht – und genießen den Rückblick nach Wattenwil und die in der Ferne sichtbaren Alpen. Leider hängen an den höheren Gipfeln immer noch die dunklen Gewitterwolken vom Morgen. Trotzdem hat diese Aussicht etwas besonderes.
Hinter uns, am Anfang des Aufstieges sehen wir unseren planlosen Pilger. Er muss also hier in der Nähe doch eine Möglichkeit zur Übernachtung gefunden haben. Sollen wir auf ihn warten?
Wir entscheiden uns dagegen, weil wir davon ausgehen, dass er uns sowieso einholt, weil er schneller läuft als wir. Außerdem ziehen am seitlichen Berghang jetzt auch dunkle Wolken auf. Vielleicht können wir einem Regenguss durch zügiges Weiterlaufen entgehen.
Anfänglich sieht es auch so aus, doch als wir über abgeweidete Wiesen dem nächsten Ort zustreben, kommt mehr Bewegung in die Wolken. Sollen wir es darauf ankommen lassen bis dort hin zu laufen?
Als wir um ein einzeln stehendes Gehöft herum gehen, entscheide ich mich dagegen.
„Das schaffen wir nicht mehr“, sage ich zu Sabine. „Wir gehen zurück zur Einfahrt und fragen, ob wir uns unterstellen dürfen.“
Eine Klingel oder andere Möglichkeit zur Kontaktaufnahme kann ich auf die Schnelle nicht finden und gehe deshalb ums Haus herum und rufe:
„Hallo, hallo!“
„Ja“, erschallt eine männliche Stimme von oben.
Sehen kann ich niemand.
„Können wir uns bei ihnen kurz unterstellen, bis der Regen abgezogen ist?“
„Klar, ich komme runter.“
Wenig später steht ein junger Mann neben uns und meint:
„Heute soll aber kein Regen kommen.“
„Na da hinten sieht es aber anders aus.“ Ich deute in die Richtung des Berghanges, der durch die Gebäude aber nicht einsehbar ist.
Der Mann läuft die wenigen Schritte ums Scheunengebäude, kommt zurück und sagt hastig:
„Da kommt wirklich was kräftiges. Sie können sich dort auf die Couch setzen.“ Er deutet auf eine Veranda, die von einem überstehenden Rundgang geschützt wird. „Ich hoffe, die Hausratten dort im Käfig stören Sie nicht.“
Mich nicht, aber Sabine sicherlich, dessen bin ich mir sicher.
Das erste Donnergrollen ist schon hörbar, also was bleibt uns übrig. Zügig gehen wir zur Couch, wobei Sabine jeden Blick zum Käfig vermeidet. Ich weiß genau, wie groß ihre Überwindung ist, denn Ratten sind für sie ein Grauen. Aber sie sind ja eingesperrt, also keine Gefahr.
Kaum sitzen wir, kommen die ersten Tropfen. Der Mann hastet in Gummistiefeln durchs Gelände, um irgendetwas vor dem Regen zu sichern. Heftige Böen peitschen den Regen fast waagerecht vor sich her. Eine Frau kommt hastig aus dem Haus und nimmt die Wäsche ab, die vor uns am Verandarand aufgehängt ist. Gerade noch rechtzeitig, denn durch den Wind wird es bis zu unseren Füßen nass.
Am besten, wir nutzen die Zwangspause gleich dazu unsere Haferriegel zu essen. Meine Frau meidet dabei jeden Blick in Richtung des Käfigs. Ob der planlose Pilger wohl auch eine Schutzmöglichkeit gefunden hat? Wir haben ihn beim Weitergehen doch aus den Augen verloren.
Die Intensität des Gewitters lässt nach. Hinter uns öffnet sich ein Fenster und ein kleiner Junge steigt zu uns heraus. Von der Seite her kommt noch ein Mädchen dazu und der Albtraum meiner Frau nimmt Gestalt an.
Die Kinder öffnen den Käfig und holen zwei oder drei der Ratten heraus. Neben Sabine stehend lassen sie die Tiere über ihre Arme krabbeln, setzen sie auf ihre Schultern und sogar vor Sabines Füße. Ich kann die Panik in Sabines Blick sehen und doch beherrscht sie sich der Kinder zu liebe.
Das Mädchen beginnt aufgeräumt mit uns zu schwatzen:
„Wenn es so weiter regnet, müsst ihr hier bleiben. Dann könnt ihr hier auf der Couch die Nacht verbringen.“
Das hoffe ich doch nicht, denn es wäre sicherlich der Horror für meine Frau neben dem Rattenkäfig zu nächtigen.
Sabine wird immer unruhiger und wagt kaum die Kinder anzusehen. Und das, obwohl sie Kinder sehr mag, aber die Tierchen auf deren Armen sind nun mal nicht ihr’s.
Das Mädchen fantasiert derweil weiter und wünscht sich regelrecht, dass wir hier übernachten müssen. In solchen Momenten wird die Zeit lang, auch wenn das Gewitter zügig über uns hinweg gezogen ist.
Nur noch einzelne Tropfen fallen und der Mann kommt zurück. Wir bedanken uns und brechen fast ein wenig hastig auf.
Kaum um die Ecke atmet Sabine tief durch und sagt:
„Ich hatte Panik, sie fragen mich, ob ich mal eine auf den Arm nehmen will … puuhha“, fügt sie an und schüttelt sich.
Rückblickend sehen wir, wie eine gewaltige schwarze Wand in Streifen ihre Last über der Ebene von Thun abwirft. Glücklich sind wir dem Unwetter entkommen, auch wenn die tierische Begegnung für Sabine nicht so prickelnd war.
Tja, und jetzt sind wir schon um 13:30Uhr in Riggisberg bei unserem Quartier, weil ich Bockmist gebaut habe. Die herausgearbeitete Etappe sollte bis Rüeggisberg gehen, aber Sabine habe ich ein B&B Quartier in Riggisberg genannt, was wir auch gebucht haben. Jetzt sind wir schon nach knapp 14km vor Ort und haben dafür morgen eine längere Etappe zu bewältigen.
Natürlich ist das Zimmer wegen unserer frühen Ankunft noch nicht bezugsbereit, aber wir können die Zeit gut überbrücken. Im kleinen Laden der ehemaligen Bäckerei gönnen wir uns Kaffee und Kuchen.
Den verbleibenden Nachmittag nutzen wir dann für ein kurzes Nachmittagsschläfchen und zum Erkunden des Ortes. Wir steigen dabei bis hoch zur Kirche und holen uns einen Stempel in den Pilgerpass, obwohl wir am nächsten Tag wieder hier vorbeikommen werden. Es ist der letzte Stempel, den wir in unseren Pass drücken können. Ab morgen müssen wir dann die Zusatzblätter nutzen, die wir in der Pilgerherberge von Brienzwiler erworben haben.
Unser planloser Pilger hat uns nun doch nicht mehr eingeholt. Was wird aus ihm geworden sein? Ist er überhaupt dem Gewitter entgangen? Sehen wir ihn vielleicht morgen wieder?