Rückblick nach Brienzwiler

Interlaken

Erneut haben wir feststellen können, wie herzlich man in einer Pilgerherberge aufgenommen und umsorgt wird. Und genau so herzlich, wie von den anderen Hospitaleros werden wir auch diesmal verabschiedet. Ein Dank an all die engagierten Menschen, die auf diese Weise Pilger betreuen!
Der Spätankömmling von gestern hat mit uns gefrühstückt, will sich aber noch von den beiden wegen dem Rucksack beraten lassen. Geplant ist dann, dass er einiges zur Post schafft, um es nach Hause zu schicken. Ob wir ihn wohl wiedersehen werden?
Auf ihn warten wollten wir aber nicht, weil wir wieder einmal eine etwas längere Strecke von 25km vor uns haben. Bei den jetzt herrschenden Temperaturen für Sabine nach etwa 20km eine Herausforderung. Deshalb nutzen wir die kühleren Morgenstunden zum Aufbruch.

Bis zum Brienzersee geht es eigentlich stetig bergab und wir kommen gut voran.

Brienzersee

Beim Strandbad von Brienz erreichen wir den See und laufen an der gut besuchten Uferpromenade entlang. Jede Menge Touristen sind hier unterwegs und ich merke wieder einmal, wie mich solche Touristenhochburgen als Pilger herunterziehen. Ich komme mir vor, wie ein Affe im Zoo, den die Schönen und Reichen missbilligend betrachten. Dann kommt auch noch eine aufgebrezelte Dame daher und äfft Sabines Gang mit den Stöcken nach. Einen dummen Kommentar – den wir glücklicherweise nicht verstehen – muss sie auch noch von sich geben. Das sind die Momente, in denen ich bestrebt bin, schnellstmöglich wegzukommen. Sabine hingegen möchte gerne alle Eindrücke in sich aufnehmen und ich muss mich einbremsen. Erfahrungsgemäß hängt mir so etwas dann einige Zeit an und trübt das Erlebnis. Zum Glück ist meine Frau da anders und schüttelt so etwas einfach von sich ab. Mal sehen wie es heute wird.

Wir verlassen den Uferweg und wandern etwas oberhalb des Sees teils durch Wald, teils durch offene Landschaft, bis wieder einmal eine Entscheidung ansteht. Wagt sich meine Frau über die Hängebrücke des Unterweidligrabens? Eine Herausforderung bei der Höhenangst, die sie meist stark plagt.
„Willst du lieber den Weg hier runter nehmen und weiter am Ufer des Sees entlang gehen?“, frage ich sie, als wir am Wanderwegabzweig ankommen, der hinunter nach Ebligen führt.
Sabine überlegt kurz und mustert den schmalen Pfad, der den Hang hinabführt.
„Wer weiß wie steil das hier weiter geht, ich werd es mit deiner Hilfe schon schaffen.“
Wow, ich bin erstaunt, hatte sie doch schon beim Lesen im Wanderführer Bedenken geäußert. Na dann, gehen wir es an!
Die 80m lange Hängebrücke ist erreicht und Sabine holt tief Luft.
„Los, bevor ich’s mir anders überlege“, fordert sie.

Hängebrücke

Hinter mir laufend, den Blick starr auf meinen Rucksack gerichtet, wagt sie sich an die Überquerung. Ich bemühe mich um einen gleichmäßigen leichten Schritt, damit sich die Brücke nicht gar so sehr aufschaukelt. Ganz vermeiden kann ich es nicht und etwa in der Mitte spüre ich ihren Griff an meinen Rucksack.
„Was ist, willst du umkehren?“
„Auf keinen Fall, los weiter!“, fordert sie mit leicht zitternder Stimme.
Schade, ich wäre gerne mal stehen geblieben, um nicht nur im Gehen einen Blick in den Graben und die Landschaft zu werfen, geht aber nicht.
Sich weiterhin an dem Gurten meines Rucksacks festhaltend, schreitet sie im gleichen Schritt hinter mir her. Genau richtig, um weiteres Aufschaukeln zu vermeiden.
Super, wir haben es geschafft! Sabine ist stärker, als sie manchmal denkt. Sie möchte nach einer kleinen Verschnaufphase sogar noch mal ein Stück zurück auf die Brücke gehen, um einen Blick hinab zu riskieren, wie ich es gerade mache. Bilder davon schieße ich auch, lösche sie danach aber wieder, weil man es mit der Handykamera einfach nicht einfangen kann, was sich dem Auge bietet.
Dummerweise kommt jetzt eine Gruppe Radfahrer an, welche die Räder schiebend über die Brücke will. Also, nicht das die gleich loslegen. Neee, da wird erst vor der Brücke ausgiebig geguckt und geschwatzt. Dann gehen einige ohne Räder schon mal ein Stück drauf und gucken sich um, weshalb Sabine den Mut und die Lust verliert. Beobachtet werden will sie bei ihrer Mutprobe eben nicht. Wir wandern weiter.
Es gibt auf dieser Strecke sehr viele schöne Blicke auf den See und die gegenüberliegende Alpenlandschaft. Vor lauter Gucken vergesse ich dabei zu fotografieren. Das fällt mir dummerweise erst auf, als wir auf dem Promenadenweg am See entlang laufen.

Uferweg

Eine schöne, im Schatten stehende Bank bietet sich für eine Rast an. Um uns herum sind einige Badegäste, die es sich auf der Wiese bequem gemacht haben. Und wer kommt von der Richtung, in die wir weitergehen müssen? Die zwei jungen Pilgerinnen, die wir auf dem Brünig getroffen haben.
Sie stutzen kurz bei unserem Anblick, ziehen ein enttäuschtes Gesicht und mir wird auch schnell klar warum.
„Wir wollen schnell mal schwimmen gehen und waren vorher nur auf den Toiletten dort hinten“, erklärt die eine.
’Ahh, sie hatten sich die Bank, auf der wir jetzt sitzen zum Ablegen ihrer Sachen auserkoren.‘
„Sollen wir ein bisschen Platz machen?“, frage ich nach.
„Nein, wir gehen dort rüber.“ Sie deutet auf die Wiese ein Stück rechts von uns. „Bleibt ihr noch ein Stück? Also, wir könnten dann zusammen rein gehen, wenn ihr auf unsere Sachen aufpasst“, fügt sie schnell an, um ihre Enttäuschung über die Besetzung der Bank zu verschleiern.
„Klar, wir haben uns ja gerade erst gesetzt“, ist vielleicht nicht das, was sie gerne hören will.
Sie ziehen sich dann auf der Wiese die Badesachen an. Vermutlich der Grund, warum sie etwas Abstand haben wollen und steigen schnell ins Wasser.
„Hast dus gemerkt?“, fragt Sabine.
„Was?“
„Wie enttäuscht sie waren, dass wir die Bank belegt haben.“
„Klar, aber uns ging’s auf dem Brünig auch nicht besser, da hatten sie die einzige Bank weit und breit in Beschlag.“
Ja stimmt, das klingt jetzt sehr egoistisch, aber auch hier ist es die einzige freie Bank und wir hatten uns gerade erst gesetzt.
„Ich würde auch gerne mal baden gehen“, gesteht meine Frau.
„Na mach doch, ich bleib bei den Sachen.“
„Und du?“
„Lust hätte ich auch, aber erstens müsste ich alles ausräumen, weil die Badehose und das Handtuch ganz unten im Rucksack sind. Und zweitens bekomme ich, wenn die Haut noch feucht ist, den Gummistrumpf ganz schlecht wieder angezogen.“
„Hmmm, mein Badeanzug ist auch ganz unten drin und wo trockne ich dann die Sachen? Ach, ich glaub ich lass es lieber.“

Die Frauen steigen wieder aus dem Wasser und trocknen sich ab. Wir haben lange genug pausiert und wuchten unsere Rucksäcke auf den Rücken.
„Geht ihr weiter?“, fragt die Wortführerin.
„Ja, es wird Zeit.“
Diese Antwort entlockt ihr ein Lächeln und an ihre Begleiterin gewandt fragt sie:
„Ziehen wir um?“
Sie tun es und zwar zügig. Wir sind noch keine zehn Meter weg, da sind ihre Sachen schon auf der Bank.

Interlaken, eine Touristenhochburg wie sie im Buche steht. Große schmucke Hotels im alten Stil und riesige Betonklötze mit Zimmern für die Heerscharen von Besuchern der Stadt.

Interlaken

Eine endlos erscheinende Masse von asiatisch und arabisch aussehenden Menschen schiebt sich auf den Bürgersteigen, an den Hotels, Restaurants und Geschäften entlang. Kaum ein deutsches Wort ist zu hören und die wenigen einheimisch wirkenden Passanten, erscheinen verloren im Gewusel der posierenden und fotografierenden Menschen.
Prrr, wie ich es hasse, mich verschwitzt mit meinem Rucksack durch diese Meute schieben zu müssen. Wer weiß, wie die nach Parfum duftenden Gäste der Stadt die Nase rümpfen, wenn wir schweißgebadeten Wanderer an ihnen vorbei gehen. Es ist wirklich nicht mein Ding als Pilger durch solche Städte zu stapfen, aber wir müssen genau da lang, um zu unserer Backpackers-Unterkunft zu kommen.
Von den zwei jungen Leuten an der Rezeption werden wir sofort als die erwarteten Pilger erkannt. Wen wundert’s? Großer Rucksack, durchgeschwitzt und angekündigt hatten wir uns auf etwa diese Uhrzeit.
Wie gewünscht zeigen wir unseren Pilgerpass, bekommen einen Stempel und einen Sonderpreis als Pilger. Dann der kleine Schock für meine Frau, das Zimmer. Ein kleiner Raum mit 3 Doppelstockbetten. Im Raum abgetrennt eine Dusche mit Waschbecken und zum WC ein extra Zugang. An der Wand davor verschließbare Boxen, wo unsere Rucksäcke bequem reinpassen. Ein kleiner Tisch und zwei Stühle in der Ecke. Schon im Zimmer, drei Inderinnen und ein junger Schweizer. Und weil wir als letzte kommen, nur noch zwei Betten oben frei.

In so einem Zimmer haben wir übernachtet

Na toll! Also nicht wegen der Gemischtbelegung, das wussten wir im Vorfeld und ist nicht unser Problem. Nein, die Enge ist es bei dieser großen Wärme, die auch hier drin noch zu spüren ist und wir in den Betten oben. Dazu kommt, dass es keine Möglichkeit gibt, wo wir unsere wirklich nass geschwitzten Sachen trocknen können.
Aber da müssen wir jetzt durch, denn ein Doppelzimmer in einem der Hotels für 400 Franken und mehr, können wir uns nicht leisten. Irgendwie sind die Preise hier jenseits von Gut und Böse. Genau das besänftigt meine Frau dann wieder, denn hier haben wir inclusive Frühstück, zusammen nur 75 Euro gelöhnt. Darin enthalten frisch bezogene Betten und Handtücher sind auch inbegriffen.
Also gut, erst mal duschen, aber nicht hier, wir gehen in den größeren Sanitärbereich, den es auf jeder Etage zur Gemeinschaftsbenutzung noch gibt. Und da können wir uns überhaupt nicht beklagen. Alles ist sauber und gepflegt. Wird laut Aushang mehrfach am Tag gereinigt.
Danach suchen wir eine Lösung für unsere Kleidung, die man wirklich fast auswringen kann. Außerdem muss ich noch einen Geldautomaten suchen, weil unser Vorrat an Franken aufgebraucht ist.
Wir kommen überein, dass sich Sabine auf die große Terrasse setzt und unsere Sachen hängen wir zum Trocknen über das Geländer. Da kommt sogar noch Sonne hin und das sollte reichen. Wir rücken einen kleinen Tisch in den Schatten, wo meine Frau inzwischen Tagebuch schreiben und sich ums nächste Quartier kümmern will. Ich gedenke, nach einem Geldautomaten zu suchen und will etwas fürs Abendessen besorgen.
Phhuuuahhh, wieder ins Gewühl der Touristen. Jetzt ist es aber nicht so schlimm für mich. Ich bin frisch geduscht und habe meine saubere Wechselkleidung an. Natürlich auch keinen Rucksack mit, also gehe ich unter im Heer der Menschen.
Irgendwie komme ich nur an Automaten der Raiffeisenbank vorbei und die mag ich inzwischen nicht mehr so recht. Die geben mir nämlich maximal 250 Franken, während es bei bei Automaten der Kantonalbank immerhin 400 Franken sind. Es ist ja bei jeder Abhebung in Franken auch eine Gebühr fällig, egal wie viel ich dem Automaten entnehme.
Bingo, doch noch eine Kantonalbank gefunden und gleich daneben ein Coop Supermarkt. Zeit für Brötchen und Landjäger … yeah. Die gleiche Idee scheinen auch viele asiatische Touristen zu haben, denn vor den Brötchen staut sich’s und ich kann gerade noch einen Ring der gewünschten ergattern.
Auf dem Rückweg komme ich an Restaurants vorbei, wo Gäste Schlange stehen, damit sie einen Tisch bekommen. Sicher gute Küche da, aber … ach, satt werde ich mit dem Gekauften auch und brauche mich nicht anstellen. Der Reisekasse tut’s auch noch gut. Passt schon!

Leider klappt es nicht mit dem gewünschten Quartier auf einer Etappe von 20-25km, erfahre ich von Sabine als ich zurückkomme. Über 30km wollen wir uns bei den Temperaturen dann doch nicht zumuten und so fragen wir bei der Pilgerunterkunft im Gut Ralligen an.
Wir bekommen eine Zusage, es wird daher aber nur eine Etappe von circa 15km werden und wir müssen unsere gesamte Etappenplanung wieder einmal überarbeiten. Das sind immer die Momente, die an meiner Motivation nagen.
Gesättigt genießen wir die milde Abendluft auf der Terrasse, als plötzlich der Rauchalarm laut aufschrillt. Es kommt von unten aus der Gemeinschaftsküche. Anscheinend hat es da jemand mit dem Kochen übertrieben.
Die junge Frau, bei der wir eingecheckt haben, hatte es sich mit einem Buch auf der Terrasse bequem gemacht und hastet jetzt hinunter, um zu sehen, was passiert ist.
Ach, wir waren mit unserem einfachen Abendmahl doch gut bedient. Die Kleidung am Geländer ist auch getrocknet, der Blog ist geschrieben und es geht auf 22:00Uhr zu. Zeit das Bett aufzusuchen, denn 22:00Uhr soll laut Hausordnung Nachtruhe einkehren.
Bis auf eine der jüngeren Inderinnen sind alle da. Die zweite junge Dame macht sich aber gerade noch mal frisch und will anscheinend ausgehen. Wir steigen hoch in unsere Betten, als sie geht. Kurz darauf kommt die andere junge Frau ins Zimmer und wir bekommen einen Vorgeschmack auf die Nacht. Sie ist sehr stark erkältet.
Ständig hustet sie und zieht die Nase hoch. Im Bett unter meiner Frau liegend wälzt sie sich von einer Seite auf die andere, wobei sie unablässig auf ihrem Handy daddelt. Wir finden dadurch auch keine Ruhe. Ihr Problem scheint aber noch größer zu sein und nach einer Weile verlässt sie den Raum wieder. Vielleicht können wir jetzt einschlafen.
So ein bisschen weggedämmert bin ich schon, da kommt sie zurück, geht erst auf Klo und dann bei offener Tür in den Nebenraum ans Waschbecken. Es dauert ein Stück bis sie wieder raus kommt, aber die Tür bleibt offen und das Licht an. Dann geht das Spiel mit Husten, Schniefen und Rumwälzen weiter.
Ich würde am liebsten raus gehen und auf einer Bank im Freien schlafen.
Schließlich steht sie auf, schließt das Fenster und zieht die Vorhänge beim Fenster zu. Bei sechs Personen in dem kleinen Raum und der großen Wärme unerträglich in den oberen Betten.
„Bitte nicht ganz zumachen“, stöhnt Sabine auf, doch vermutlich versteht die Frau das gar nicht.
Am besten man schafft Tatsachen. Ich steige herunter, gehe vor, mache das Licht aus und schließe die Tür vom Waschraum. Danach kippe ich das Fenster wenigstens an und ziehe die Vorhänge auf unserer Seite etwas zurück damit wir frische Luft bekommen.
Die Frau akzeptiert es anscheinend und wird nach einiger Zeit auch ruhig. Zeit für mich, um Schlaf zu finden. Aber denkste, kaum bin ich im Land der Träume, kommt die andere von ihrer Tour zurück. Es muss schon nach Mitternacht sein.
Erst mal aufs Klo, dann öffnet sie das Schließfach, um in ihren Sachen zu kramen. Leuchten tut sie mit ihrem Handy auch sonst wohin. Dann ins Bett unter mir und wie die andere, unruhig von einer Seite auf die andere wälzen, während sie auf dem Handy daddelt.
Oh man, hoffentlich kommt sie bald zur Ruhe. Ich bekomme hier oben kaum Luft und schlage, aufgrund der Wärme, die Decke gänzlich zurück. Wenn man einmal eingeschlafen ist, nicht mehr so das Problem, aber wenn keine Ruhe einkehrt, nervig. Irgendwann finde ich dann doch Schlaf und der Rest der Nacht geht auch. Trotzdem wieder ein Kratzer an meiner Motivation.
So richtig erholt sind wir beide am Morgen nicht. Das Frühstück entschädigt aber wieder für einiges. Es gibt genügend Kaffee, um die Lebensgeister zu wecken und das Buffet ist auch reichhaltig. Ein bisschen versöhnt brechen wir dann auf.
Also das heißt, meine Frau hakt das wie immer super schnell ab. Bei mir kreisen die Gedanken noch lange darum. Wenn ich das doch auch so einfach könnte. Ich muss an mir arbeiten!

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