
Frieden geschlossen
Es ist 06:00 Uhr, Zeit den Tag zu beginnen. Also werde ich meine Frau mal wecken! Brauche ich aber gar nicht, denn als ich mich ihr zuwende, hat sie die Augen schon offen und das erste, was sie zu mir sagt, lässt mich wieder an ein schnelles Ende unserer Tour denke:
„Und das wollen wir uns jetzt ein halbes Jahr jeden Tag antun?“
„Wir können auch sofort abbrechen.“ Ich will mich schon geschlagen geben.
„So war es nicht gemeint“, stellt sie klar.
„Okay, wer geht zuerst in den Waschraum?“
„Mach du.“
Klar, Sabine braucht immer noch ein Stück, bis sie sich aus dem Schlafsack schälen kann. Ein Ablauf, der zum Standard wird auf dieser Reise.
Gegen 07:00Uhr gehen wir, noch ohne unsere Rucksäcke, zu einem Bäcker, um entspannt zu frühstücken. Etwas, was wir schon bei unseren Pilgertouren 2017 und 2022 gerne gemacht haben.
Erst danach muss ich feststellen, dass ich gleich zu Beginn unserer Reise meinen Wanderstock angesetzt habe. Doch Glück gehabt, er steht noch beim Büro der Diakonie in einer Ecke, als wir den Schlüssel abgeben.
Also los, erst mal durch die Stadt über den Markt, wo eine etwas abenteuerlich aussehende Gestalt auf mich zukommt. Ein Mann – Alter für mich unbestimmbar – mit zipfeligem Bart, rotgrauem längerem Haar, Nasenwurzel-Piercing, Tätowierungen, alles in allem vielleicht ein Obdachloser, spricht mich an:
„Cooler Wanderstab, ist der selbst geschnitzt?“
„Ja“, geb ich knapp zurück.
„Darf ich mal sehen?“, ist die nächste Frage und er steckt die Hand danach aus.
„Was ist das für Holz?“
„Weide.“
„Cool, ich hatte auch mal so einen, der war aber viiiiel länger.“
Wir haben uns köstlich darüber amüsiert, denn bei manchen Männern kommt es eben sehr auf die Länge an.
Aus Hof heraus steigt der Weg auf asphaltierten Straßen stetig an. Erst in der Nähe des Flugplatzes wechseln wir dann auf Feld- und Waldwege.
Auch hier habe ich die Streckenführung anders in Erinnerung, was aber vermutlich daran liegt, dass man dazu neigt, verschiedene Etappen rückblickend zu vermischen.
In Ermangelung einer Ruhebank setzen wir uns zu unserer ersten Rast auf am Wegesrand liegende Stämme. Während dieser Pause eröffnet mir Sabine, dass sie Frieden mit ihrem Rucksack geschlossen hat. Dem ist auch wirklich so, denn nicht noch einmal hat sie in den kommenden Wochen über das Gewicht auf ihrem Rücken geklagt. Also, sicher kam manchmal der Wunsch nach einer Pause auf, um die Last ein Stück von den Schultern zu nehmen, allerdings war sie nie wieder so niedergedrückt wie auf der Etappe von Weischlitz bis Hof.
Sabine hat selbst den guten Wolf gefüttert, indem sie festgestellt hat, dass es ein guter Rucksack ist. Einer, der richtig eingestellt die Last optimal auf Schultern und Hüfte verteilt. Einer, in dem sie all das, was sie auf dieser Tour braucht, verstauen kann. Auch Überlegungen, ob sie etwas einsparen könnte, laufen ins Leere. Also nimmt sie es als gegeben und ihr inneres Gleichgewicht stellt sich langsam wieder ein.
Jetzt pilgern wir wirklich! Wir laufen den Tag über zum großen Teil schweigend neben- oder hintereinander her. Es bleibt Zeit und Ruhe um Gedanken zu verarbeiten, sowie die Natur zu genießen. Flora und Fauna zeigen sich ganz anders, wenn man auf diese Art unterwegs ist. Jeden Tag hören wir einen Kuckuck rufen. Es ist sicher nicht derselbe, aber der Gedanke, er könnte uns jeden Tag begleiten, gefällt uns. Ein junger Fuchs läuft uns, die Nase am Boden, entgegen und ohne uns zu bemerken wechselt er wenige Meter vor uns, ganz entspannt ins Dickicht.
Den Weg so zu gehen ist schön!
Leider waren wir bei dem Fuchs nicht schnell genug mit der Kamera, aber so ein Feldhase ist ja auch etwas 🙂
In Helmbrechts können wir im Gemeindehaus ein Pilgerzimmer beziehen. Alles was wir brauchen ist da. WC und Duschmöglichkeit über den Flur. Zwei Betten, auf denen wir unser Laken und die Schlafsäcke ausbreiten. Tisch und Stühle und die Möglichkeit unsere verschwitzte Kleidung aufzuhängen. Einfach perfekt für Pilger, auch was die Kosten angeht. Das zweite Zimmer bleibt unbelegt, wir sind also wieder allein, was Sabine immer noch als gut empfindet.
Zum Laken kurz: Bei unserer ersten Tour 2017 hat uns eine erfahrene Pilgerin diesen Tipp gegeben. Das Laken wiegt nicht viel und man kann es über die vorhandene Matratze breiten, um sich dann bei großer Wärme mit dem offenen Schlafsack nur zuzudecken. Ein viel entspannteres Schlafen!
Nachdem wir uns geduscht haben, sind wir in die Stadt gegangen, um etwas zu essen. Danach wieder das abendliche Ritual. Tagebuch und Blog schreiben und noch bevor das Tageslicht geschwunden ist, schlafen gehen.
So zeitig gehen wir sonst nie zur Ruhe!
Alles fügt sich!
Der nächste Tag ist bestimmt von wechselnden Gefühlen, wobei der Start sehr entspannt ist.
Nach über neun Stunden erholsamen Schlaf, wecke ich meine Frau gegen 06:00 Uhr. Erkenntnis: Mein innerer Wecker funktioniert immer noch perfekt. Und eine weitere Feststellung drängt sich auf.
Einige meiner Ängste vom Vorfeld scheinen unbegründet.
Zu Hause stehe ich meist einmal in der Nacht auf, weil meine Blase drückt. In den letzten zwei Nächten hatte ich nicht das Bedürfnis. Ist es vielleicht eine Kopfsache bei mir? Ich muss das weiter beobachten.
Auch die größeren Geschäfte, die ich seit der Stoma Rückverlegung, zwei bis fünf Mal am Tag erledigen musste, beschränken sich auf morgens und abends nach dem Essen. Eine meiner größten Sorgen scheint unbegründet zu sein. Aber wir stehen ja noch am Anfang unserer Reise, mal sehen ob es so bleibt.
Mir kommt etwas in den Sinn, was eine Freundin von Sabine ihr vor Beginn unserer Tour sagte: „Alles fügt sich!“
Rückblickend gesehen, war es schon oft so in meinem – unserem gemeinsamen Leben. Bewusst wahrgenommen habe ich das bisher nicht, ab jetzt werde ich darauf achten.
Sabine stellt fest, dass sie nicht weiß, wann sie das letzte Mal so lange geschlafen hat, doch sie fühlt sich gut und erholt, hätte aber noch länger ruhen können.
Der Ablauf vom Vortag wiederholt sich. Bei einem Bäcker frühstücken, danach die Rucksäcke im Quartier holen und die nächste Etappe starten.
Zum Ritual wird auch, dass Sabine zu Beginn des Tages einen Pilgersegen liest, wobei sich in der ersten Woche zeigt, dass sie da immer sehr nah am Wasser steht.
Die erste Rast legen wir an der Selbitz-Quelle ein und genießen die Natur. Dank gut gepflegter Sitzgelegenheiten können wir uns, beim leisen Plätschern der Quelle und Vogelgezwitscher, gut auf den Tag einstimmen. Das Wetter spielt auch wieder mit. Sonnenschein und eine kühlende Brise.
All das ist Balsam fürs Gemüt.
Wir unterhalten uns darüber und finden bestätigt, was ich schon 2017 festgestellt habe:
Pilgern ist Urlaub für die Seele. Besser gesagt, es ist eine innere Reinigung. Für den Körper ist es aber Schwerstarbeit. Der wird gefordert, was jedoch kein Nachteil sein muss, in unserer von Technik und Hilfsmitteln bestimmten Zeit.
Als ich vor 8 Jahren zum ersten Mal an dieser Quelle Rast gemacht habe, waren die Kilometer danach von Frust geprägt. Ich hatte vermutlich eine Wegmarkierung übersehen und bin übel fehlgelaufen. Diesmal achte ich darauf, dass es nicht wieder geschieht und wir werden mit einem schönen Waldweg belohnt.
Der Pilgermodus nimmt von uns beiden Besitz!
Stille um uns. Nur die Geräusche der Natur. Das Laufen ist meditativ. Die Gedanken manchmal ganz abgeschaltet oder beim Aufarbeiten von Verschüttetem. Der Weg ist das Ziel!
Doch nichts ist von Dauer!
In Ermangelung einer Bank, sitzen wir bei der nächsten Pause auf Baumstümpfen am Straßenrand und versuchen, wie schon am Tag zuvor, mit dem katholischen Pfarramt in Marktschorgast zu telefonieren. Niemand geht ans Telefon, also wird es wohl diesmal nichts mit einer preiswerten Übernachtung werden.
Na gut, dann also die zwei Gaststätten, die auf der Adressliste stehen, kontaktieren.
Der erste Anruf ist nicht von Erfolg gekrönt. Wir bekommen die Auskunft, dass die Gaststätte mittwochs Ruhetag hat. Hätten wir am Vortag angerufen, wäre noch was organisiert worden, aber so … Na gut, immerhin bekommen wir die Auskunft, der andere Gasthof sollte offen sein. Ans Telefon geht dort aber niemand.
Die gute Stimmung ist dahin. Jedenfalls bei mir. Zu wissen, wo ich am Abend zur Ruhe gehen kann, scheint elementar für mich zu sein.
Ich sage mir zwar, irgendetwas wird sich schon ergeben, tief im Inneren nagen aber Zweifel. Entspannt sind die Kilometer bis zum nächsten Halt daher nicht.
Dieses Mal nimmt im Gasthof Regina der Wirt den Anruf an. Was er uns aber gleich mitteilt, ist wenig aufbauend. Auch er hat Ruhetag!
Ich bin im freien Fall!
Keine Ahnung, ob er das mitbekommt, aber nach kurzem Zögern meint er, wir können trotzdem kommen. Wenn wir vor Ort sind sollen wir noch einmal anrufen, damit er uns einlässt. Frühstück am nächsten Tag können wir auch im Gasthof einnehmen und etwas für den Abend werden wir schon finden.
„Alles fügt sich!“ Mein Stimmungsbarometer ist sofort wieder im positiven Bereich.
An diesem Tag geht es viel bergauf und bergab. Die Steigungen sind jedoch moderat, die Temperaturen erträglich, weshalb wir trotzdem gut vorankommen.
Ein paar kleine Nadelstiche muss es aber immer geben.
In Marienweiler wollen wir uns die Treppen hoch zur Klosterkirche sparen und verlieren prompt den Weg. Ich bilde mir ein noch zu wissen, wo ich damals langgelaufen bin, finde aber keine Streckenmarkierungen. Entweder wurde der Weg umverlegt, oder meine Erinnerungen trügen mich wieder einmal.
Die Konsequenz ist: Wir laufen wieder zurück, steigen die Treppen hoch, gehen durchs Klostergelände und sind wieder auf dem markierten Weg. Erkenntnis: Bleib auf dem Weg!
Später erreichen wir Streckenabschnitte, die ich erkenne, doch auch eine neue Wegstrecke, die ich mit Sicherheit nicht gelaufen bin.
Es ist ein malerischer Hohlweg, der es in sich hat. Kellerweg nennt er sich, weil insgesamt vierzehn Keller in die Böschungen gegraben wurden. Zum großen Teil sind sie noch intakt, die mannshohen Türen verschlossen, aber in manche kann man durch verfallene Türen auch Blicke werfen. Die Streckenführung umzuverlegen war in diesem Fall eine Bereicherung!
Keller 8:
Am Nachmittag ruft uns auch das katholische Pfarramt zurück und teilt uns mit, dass sie keine Pilgerunterkunft haben. Es verwundert uns doch etwas, dass die katholischen Gemeinden, die auch noch eine Jakobuskirche ihr Eigen nennen, Pilgern gegenüber wenig aufgeschlossen sind, die evangelischen Gemeinden hingegen viel offener reagieren. Auch im weiteren Verlauf unserer Tour müssen wir diese Erfahrung immer wieder machen.
Um mehr Sicherheit bei den Übernachtungen zu erreichen, entschließen wir uns, wenigstens einen Tag voraus zu sichern und die Wochenenden komplett festzumachen.
Ich erinnere mich, dass ich in Bindlach 2017 eine Privatunterkunft hatte, die mich sehr beeindruckt hat. Wir sprechen auf den Anrufbeantworter, weil alle unterwegs sind, in der Hoffnung, dass sich noch jemand meldet. Wenn nicht, geht es dann doch wie etappenmäßig vorgeplant bis Bayreuth in die Jugendherberge.
Kurz vor unserem Tagesziel werden wir aus Bindlach zurückgerufen. Wir können dort am nächsten Tag übernachten. Ich bin happy und schwärme Sabine vor, wie toll es dort war.
Alles fügt sich!
In Marktschorgast angekommen blicken wir uns schon nach einer Möglichkeit um, wo wir etwas zu Abend essen können. Eine Pizzeria scheint da eine gute Wahl zu sein, die wir aber nicht treffen müssen. Der Wirt im Gasthof „Regina“ bietet uns auch ein Abendessen an. Ein warmes Essen für uns allein. Der Wirt lebt wirklich für seinen Gasthof!
Wir haben ein schönes Zimmer mit Balkon, auf dem wir unsere verschwitzten Sachen trocknen können, werden am Abend verköstigt und das Frühstück ist gesichert. Was will man mehr!
„Alles fügt sich!“ Und das soll unser neuer Leitspruch werden. Der vom ersten Tag erscheint uns inzwischen gar nicht zielführend.
Übrigens, die ersten 100km liegen hinter uns.
Tag 6:
Das Frühstück war reichhaltig, die Nacht erholsam. Die nächste, diesmal etwas kürzere Etappe mit nur 18km nehmen wir beschwingt in Angriff.
Von Marktschorgast geht es durch das Pulstbachtal zwischen Autobahn und Bahnstrecke, auf breiten Waldwegen stetig bergab. Ein Abschnitt, der mich schon vor acht Jahren sehr beeindruckt hat.
Der Wald schluckt die Geräusche der Autobahn fast gänzlich. Der hohe Bahndamm aus Natursteinquadern ist ein imposanter Anblick und im geschützten Tal bemerken wir noch nichts vom kalten Wind, der an diesem Tag vorherrscht.
Erst später im offenen Gelände ziehe ich, trotz Sonnenschein, auch wieder meine Jacke an. Ohne fröstelt man im kühlen Luftzug, mit schwitzt man. Aber noch eine dünnere Jacke mitführen, wäre auch zusätzliches Gewicht, also nehme ich den Schweiß in kauf.
Meine Frau hingegen mummelt sich noch viel mehr ein und will dann auch noch ihren Strohhut mit einem Schal festbinden. Das ist mir dann doch ein wenig zu viel, denn so sieht sie aus wie ein russisches Hausmütterchen, was ich ihr auch so sage. Aus Angst, den Hut zu verlieren, hält sie ihn aber oft krampfhaft fest. Das ist unbequem und eine Lösung muss her, die wir aber an diesem Tag noch nicht finden.
Damit unser Pilgerpass nicht gleich voll ist, wollen wir jeden Tag nur einen Stempel mitnehmen. Es wird der in der evangelischen Kirche von Himmelkron. Die katholische Autobahnkirche bei Himmelkron besuchen wir trotzdem noch, weil Sabine sie bisher nur von der Autobahn her gesehen hat. Wir werden von einer Frau angesprochen, die selbst schon gepilgert ist und deren Mann als Pilgerführer in Sachsen agiert. Ein längeres, interessantes Gespräch schließt sich an. Etwas, was wir im Laufe unserer Tour noch öfter erleben werden. Sich auszutauschen mit gänzlich unbekannten Menschen, die sehr am Pilgern interessiert sind, oder mit welchen, die schon Erfahrungen gesammelt haben. Eine Bereicherung, in jeder Form!
Danach geht es über den Berg nach Bindlach.
Rückblick zur Autobahnkirche:
Aufgrund der kurzen Etappe sind wir schon gegen 14:30 Uhr kurz vor dem Ziel. Viel zu zeitig, weil wir erst ab 16:00 Uhr erwartet werden. Also legen wir bei einer Sitzgelegenheit auf einem Spielplatz noch eine Pause ein. Kaum sitzen wir, wird es im kalten Wind wieder unangenehm. Vielleicht doch besser weiterlaufen und nachsehen ob schon jemand zuhause ist?
Die Entscheidung wird uns abgenommen.
Ein Auto stoppt auf der Straße neben uns. Es ist der Hausherr unseres Quartiers und er teilt uns mit, dass er jetzt schon zuhause ist und wir nicht warten müssen.
„Alles fügt sich!“
Wie ein Déjà-vu sind dann die nächsten Stunden. Herzlich werden wir begrüßt, können gleich duschen, die Waschmaschine nutzen, um die verschwitzte Kleidung frisch zu machen und bekommen einen Kaffee gekocht. Im Windschatten hinterm Haus sitzen wir in der Sonne und tauschen uns beim belebenden Trank aus. Als ich Details von 2017 einbringe, kann sich die Frau sogar noch an mich erinnern.
Danach können wir auch noch ein Privatquartier beim nächsten Etappenziel festmachen. Etwas, was uns beruhigt an den nächsten Tag denken lässt.
Beim Abendessen werden wir opulent verköstigt, ziehen uns danach aber recht zeitig zurück, weil der Freund der Tochter zu Besuch kommt und wir uns nicht in Familiengespräche drängen wollen.
Wie ein Familienmitglied haben wir uns in Bindlach gefühlt. Empfangen mit offenen Armen, nicht einen Augenblick das Gefühl gehabt eine Belastung zu sein. Eine wahrlich offene Familie! Werden wir noch mehr Begegnungen dieser Art haben?