Dao

Kapitel 8 – Der lange Aufenthalt

Abschnitt 2

Als ich wieder aufwachte, wurde es schon dunkel. Ich schaute mich um und das erste, was ich sah, war Wang Lee, der an meiner Seite saß und mich beobachtete.
›He, sitzt du schon lange so da und schaust mich an?‹
›Nein, ich war vorher schon einige Male dagewesen, doch da hast du so ruhig geschlafen, dass ich dich nicht stören wollte und bin immer wieder gegangen. Doch nun hab ich gedacht, dass du vielleicht langsam Hunger bekommst und wollte warten, bis du aufwachst.‹
›Ja, ein bisschen Hunger hab ich schon‹, sagte ich und richtete mich dabei ein wenig auf. Sofort fiel ich wieder zurück und stöhnte auf.
Besorgt sah mich Wang Lee an. ›Was ist los? Was tut so weh, wenn du dich aufrichtest?‹
›Wenn ich den rechten Arm bewege, und vor allen Dingen, wenn ich mich abstütze oder versuche, mich mithilfe des Arms aufzurichten.‹
Wang Lee schaute auf seine Brust, spannte und bewegte den Arm leicht hin und her.
›Na gut, das kann ich verstehen. Die Wunde ist genau da, wo die Muskeln sitzen, die du in diesem Fall bewegst.‹ Er schaute mit nachdenklichem Blick wieder zu mir. ›Das wird sicher auch noch eine Weile so bleiben. Ich glaube nicht, dass du so bald wieder trainieren kannst.‹
Ich wusste, worauf er anspielte. Nicht auf das Trainieren, sondern auf unsere Abreise.
›Wir werden sehen. Wie war das eigentlich mit dem Essen, wolltest du nicht was holen? Ich glaub, selber kann ich das im Moment nicht machen.‹
Wang Lee sprang auf. ›Entschuldige. Ich hatte es schon wieder vergessen. Bin gleich wieder da.‹
Schnell verließ er mich und ich blieb mit meinen Gedanken wieder allein bis er in Begleitung von Tiang Li Yang den Raum betrat.
Während Wang Lee einen Tisch heranrückte und das Essen daraufstellte, begutachtete mich der Abt.
›Gut, gut. Bis jetzt sieht es ja ganz gut aus. Schauen wir mal, wie’s weitergeht.‹
Er deutete auf die Schale und sagte:
›Diese Suppe hat dir meine Frau gemacht und sie wünscht dir auch gute Besserung.‹
›Danke, es wird bestimmt köstlich schmecken.‹
Ich versuchte mich zu drehen, um an die Schale zu kommen, doch es gelang mir nicht so recht.
›Wang Lee, würdest du mir bitte mal helfen und mir etwas hinter den Rücken legen? Ich glaube, sonst kann ich mich nicht lange in dieser Position halten.‹
Wang Lee brachte einige Decken, die auf einer anderen Pritsche gelegen hatten, und stopfte sie mir hinter den Rücken. Ich hatte mich auf dem linken Ellenbogen hochgestützt und da ich nun Halt in dieser Position hatte, griff ich mit der Linken nach der Schale, um die warme Suppe zu genießen. Mein Freund wollte mich auch da unterstützen, doch ich wehrte mich dagegen.
›Nein, lass mal. Das muss ich schon alleine hinbekommen. So pflegebedürftig bin ich nun auch wieder nicht.‹
Die Suppe schmeckte wirklich vorzüglich und nachdem ich noch eine Schale Tee getrunken hatte, fiel ich erschöpft auf meine Liege. Wang Lee nahm die Decken wieder weg und ich schlief sofort ein.
Am nächsten Morgen fühlte ich mich schon wesentlich besser. Auf den Eimer zu gehen, der für mich bereitstand, war mir zu peinlich. Deshalb ging ich trotz heftiger Proteste von Wang Lee nach draußen, um meine Notdurft zu verrichten. Die Schulter schmerzte zwar noch erheblich, da ich sie aber in eine Schlinge gelegt hatte, ging es einigermaßen. Anschließend legte ich mich wieder hin und war frohen Mutes, dass das Ganze noch einmal glimpflich abgegangen war.
Doch so sollte es leider nicht bleiben. Am nächsten Morgen stellte sich Fieber ein und die Wunde schmerzte erheblich. Tiang Li Yang und der Arzt waren beunruhigt. Sie untersuchten die Verletzung noch einmal genau, konnten aber nichts feststellen.
Den Tag darauf war das Wundfieber noch schlimmer geworden. Brust und Schulter waren heiß und geschwollen. Nach eingehender Beratung mit Tiang Li Yang entschloss sich der ältere Mönch, alles noch einmal zu reinigen. Beide vermuteten, dass Dreck oder ein Knochensplitter dieses Fieber verursachte.
Sie holten warmes Wasser und weichten die verkrustete Oberfläche des Eintrittsloches auf. Doch das reichte nicht und es blieb ihnen nichts weiter übrig, als mit einem kleinen, spitzen Messer nachzuhelfen. Der Schmerz war fürchterlich und ich konnte mir einen Schrei nicht verkneifen. Wang Lee hielt mich fest und sagte:
›Denk dran, was Han Liang Tian dich gelehrt hat. Du kannst deinen Körper beherrschen.‹
Daran hatte ich noch gar nicht gedacht. Natürlich, genauso wie ich die Reise durch meinen Körper antreten konnte, konnte ich ihn auch beherrschen, und wenn ich auf den Schmerz gefasst war, ihn bewusst ausschalten. Ich konzentrierte mich und teilte meinem Körper mit, dass es notwendig sei, die Wunde noch einmal zu reinigen, dass ich darauf vorbereitet sei und es so wolle.
Nachdem ich mich geistig darauf eingestellt hatte nickte ich den anderen zu. Vorsichtig begannen sie die Wunde zu öffnen und ich sah, wie die Muskeln um die Wunde zuckten, doch ich verspürte keinen Schmerz. Ich hatte meinem Körper mitgeteilt, dass ich keinen Schmerz empfinden wollte und er hielt sich daran.
Nachdem sie das verklebte Wundfleisch geöffnet hatten, schoss ein kleiner Strahl Wundwasser und Eiter heraus. Ihre Vermutung war also richtig gewesen. Irgendetwas war noch drin, das der Körper abstoßen wollte. Doch war es nun mit herausgespült worden, oder war es etwa noch drin? Sie untersuchten die Wunde nochmals genau, konnten aber nichts weiter finden. Nachdem sie ein weiteres Mal gründlich gereinigt worden war, wurde sie wieder fest verbunden. Erschöpft fiel ich in einen tiefen Schlaf.
Als ich einige Stunden später wieder erwachte, fühlte ich mich nicht besser. Das Fieber war nicht gesunken und fiel auch in den nächsten Tagen nicht. Wang Lee wich nicht von meiner Seite und kühlte mir ständig Stirn und Waden. Doch obwohl die Prozedur der Wundreinigung noch mehrfach wiederholt wurde, wurde es immer schlimmer. An den besorgten Gesichtern der anderen erkannte ich, dass sie sich erhebliche Sorgen machten. Doch sie wussten nicht, was sie noch machen sollten.
Wieder einmal war ich in einen fiebrigen, unruhigen Schlaf gefallen. In den Fieberträumen erschien mir Hu Kang und die Zeremonie an seinem Krankenlager. In meinem Traum sah ich wieder, wie es abgelaufen war und plötzlich schreckte ich aus meinem Traum hoch.
Wang Lee, der neben mir saß, schaute mich besorgt an, doch ich sagte nur matt: ›Ich weiß jetzt, wie ich mich heilen kann‹, und schloss wieder die Augen.
Ich wollte mit meinem Körper sprechen, doch irgendwie gelang es mir nicht so recht. Anscheinend war ich doch schon ganz schön geschwächt vom Fieber, denn ich musste mich erst wieder in ihn hineinversetzen, wie es mir Han Liang Tian am ersten Tag gezeigt hatte. Langsam kam ich vorwärts und als ich meine rechte Brust erreicht hatte, konzentrierte ich mich voll auf diese Stelle. Ich stellte mir vor, wie sie unverletzt aussah und bat meinen Körper, diese Stelle auch wieder so herzustellen. In Gedanken sprach ich immer wieder die gleichen Worte:
Du weißt genau was zu tun ist. Du weißt, wie jede Faser dieser Stelle zusammengehört. Füge alles wieder so zusammen wie es sein muss. Entferne alles, was nicht hineingehört. Nimm dir Energie dafür von allen anderen Körperteilen. Stelle alle Funktionen ein, die nicht notwendig sind, und nutze diese Kraft, um die beschädigte Stelle zu heilen.
So oder so ähnlich sprach ich die ganze Zeit in Gedanken vor mich hin und konzentrierte mich nur noch auf die Heilung. Nach einiger Zeit hatte ich das Gefühl, meine Gedanken schwebten in einem leeren Raum und es gebe nur eine Stelle meines ganzen Körpers, und das wäre der Bereich der Verletzung. Ich reiste durch diesen Körperteil und sah den Kampf der Zellen, die versuchten, den Körper dort zu reparieren, doch durch die Entzündung immer wieder daran gehindert wurden. Ich kam weiter und zu der Körperpartie, die das Problem darstellte.
Aus einer Rippe war durch die Speerspitze ein Stück Knochen herausgeschabt und in das Gewebe zwischen zwei Rippen gedrückt worden. Dort hatte sich nun ein Eiterherd gebildet. Der Körper versuchte, dieses nicht an diese Stelle gehörende Teil zu entfernen, doch es gelang ihm nicht so recht.
Ich konzentrierte mich darauf, dieses Knochenstück zu entfernen und erst einmal alle Kraft dorthin zu lenken. Deshalb begann ich gleichmäßig und sehr tief einzuatmen. Dabei weitete ich den Brustkorb so gut es ging, um das Entfernen des verklemmten Knochensplitters zu erleichtern.
Ich konnte in diesem Zustand die Zeit nicht einschätzen, doch ich hatte das Gefühl, eine Ewigkeit sei vergangen, als ich spürte, dass es gelungen war. Die Atmung wurde wieder normal und der Splitter wurde zur Wundöffnung transportiert. Anschließend wurde vom Körper der ganze Bereich gereinigt. Als dies geschehen war, setzte der Heilungsprozess ein.
Nachdem ich das Gefühl hatte, es sei nichts mehr zu tun, denn den Rest würde der Körper spielend schaffen, fiel ich in einen tiefen, aber ruhigen Schlaf.
Ich erwachte und fühlte mich fieber- und schmerzfrei, doch erschöpft und hungrig. Das erste, was ich sah, war das besorgte Gesicht von Wang Lee, der sich über mich gebeugt hatte. Als ich ihn anlächelte und mit einem matten Hallo! begrüßte, sprang er auf und rief nach dem Abt. Dieser schien vor der Tür gestanden zu haben und kam sofort in Begleitung des älteren Mönches herein.
›Er ist aufgewacht und hat gesprochen.‹
Tiang Li Yang trat heran und schaute mir in die Augen.
›Tatsächlich! Und wir dachten schon, wir hätten dich verloren!‹
›Wieso? Ich hab doch nur geschlafen und vorher hab ich mich auf die Heilung konzentriert.‹
Tiang Li Yang warf dem älteren Mönch einen bezeichnenden Blick zu und fragte mich:
›Weißt du, wie lange du geschlafen hast?‹
›Nein, keine Ahnung! Aber ich denke, ein Stückchen wird’s schon gewesen sein, denn ich habe einen Bärenhunger.‹
Er lachte kurz auf. ›Es geht ihm wirklich wieder besser. Wang Lee, geh doch mal zu meiner Frau und bitte sie um eine kräftige Suppe für ihn.‹
Wang Lee schoss los und der Abt konnte ihm gerade noch hinterherrufen: ›Und warmen Tee zum Trinken.‹
›Ja, ja‹, und schon war er verschwunden.
›Wie lange hab ich denn nun geschlafen?‹
›Tja, ob es wirklich Schlaf war, zweifelt er hier an.‹ Bei diesen Worten zeigte der Abt auf den Arzt. ›Er denkt, du hättest dich selbst geheilt und durch Konzentration und Meditation den Prozess beschleunigt.‹
›Wie lange?‹, fragte ich leicht ungeduldig.
›Elf Tage warst du nicht ansprechbar‹, antwortete der ältere Mönch für Tiang Li Yang.
Ich riss die Augen weit auf. Elf Tage. Das hatte ich nun nicht erwartet. Dass ich länger weggewesen war, hatte ich schon gespürt, doch so lange?
›Elf Tage! Puuh! Kein Wunder, dass ich solchen Hunger habe.‹
›Na ja, ein bisschen was haben wir dir immer mal eingeflößt. Doch viel ging nicht. Du hast dich immer wieder dagegen gesperrt.‹ Tiang Li Yang setzte sich auf den Hocker, der neben meiner Pritsche stand. ›Und wir haben uns große Sorgen deswegen gemacht. Nur er‹, dabei deutete er auf den Arzt, ›er hat uns immer wieder beruhigt und gesagt, dass er sich sicher sei, dass alles wieder in Ordnung käme, da du dich selbst heilen würdest.‹
Ich sah den älteren Mönch erstaunt an und dieser fragte:
›Kannst du uns etwas sagen über die Zeit, in der du nicht ansprechbar warst?‹
›Ein bisschen was vielleicht‹, sagte ich und schilderte ihnen, was ich empfunden hatte. Gespannt hörten sie zu und erst, als Wang Lee mit der Suppe und die Frau des Abtes mit einer Schale Tee kamen, war ich fertig.
Aufgrund der Ermahnungen des Arztes trank und aß ich langsam, denn mein Magen war es ja nicht mehr so recht gewohnt. Geduldig hatten sie gewartet, bis ich mit dem Essen fertig war und dann musste ich für die beiden alles noch einmal wiederholen. Wang Lee schüttelte immer wieder den Kopf und schaute die anderen fragend an.
›Warum schaut ihr euch immer so bezeichnend an?‹, fragte ich ihn, ›ihr glaubt mir wohl nicht? Ihr haltet mich wohl für schwachsinnig?‹
›Nein, im Gegenteil!‹, beeilte sich Tiang Li Yang zu sagen. ›Genau das, was du uns geschildert hast, hat er schon vermutet.‹ Bei diesen Worten hatte er auf den Arzt gedeutet. ›Doch vielleicht sollte Wang Lee dir einmal schildern wie wir es gesehen haben.‹
Wang Lee nickte und sammelte sich einen Moment, dann begann er mir zu erzählen, was geschehen war, nachdem ich ihm gesagt hatte, ich wüsste nun, wie ich mich heilen könne.
›Also, du sagst zu mir, dass du nun weißt, wie du dich heilen kannst, schließt die Augen und bist von dem Moment an nicht mehr ansprechbar. Zuerst dachte ich nur, dass du schlafen wolltest oder in Ohnmacht gefallen wärst, doch nach einiger Zeit setzte deine Atmung plötzlich aus. Ich war so erschrocken, dass ich im ersten Moment gar nicht wusste, was ich tun sollte. Ich hab dich geschüttelt, hab dich angebrüllt, dir Ohrfeigen gegeben, doch du hast überhaupt nicht mehr reagiert.‹
Erstaunt sah ich ihn an. ›Davon hab ich nichts gemerkt.‹
›Das glaub ich gerne, denn als ich Tiang Li Yang geholt hatte, dachte er wie ich, dass du nicht mehr bei uns wärest. Doch wir hatten auch nach ihm geschickt.‹ Dabei deutete er auf den älteren Mönch. ›Und er hat dich genauer untersucht. Nach einer Weile hat er sich aufgerichtet und sagte zu uns: ‚Er lebt noch und ich denke, dass er sich jetzt wirklich selbst heilt.‘ Wir haben ihn angeschaut, als ob er nicht ganz bei Trost sei, doch er hat es uns bewiesen. Du hast wirklich noch geatmet, aber nur ganz leicht. Nur, wenn man das Gesicht oder den Handrücken vor deine Nase hielt, hat man es gespürt. Außerdem hattest du noch Körperwärme und wenn man lange genug gefühlt hat, konnte man ab und zu einen Herzschlag spüren. Lange haben wir zu dritt dagesessen und dich beobachtet, doch nichts ist geschehen. Da haben wir uns entschlossen, dich abwechselnd zu bewachen und als dann am Abend Tiang Li Yang dran war, hat er uns schnell rufen lassen. Du hast auf einmal angefangen, tief und gleichmäßig durchzuatmen.‹
Ich nickte. ›Ich weiß, in welchem Augenblick das war.‹
›Ja, nun wissen wir es auch, doch zu diesem Zeitpunkt war keinem von uns klar, was diese plötzliche Änderung hervorgerufen hatte. Es war ja auch ein sehr krasser Unterschied. Erst fast gar nicht und plötzlich hat sich dein Brustkorb gehoben, als wolltest du ihn aufsprengen. Das ging dann fast die ganze Nacht so weiter. Erst gegen Morgen wurde deine Atmung wieder normal. Ich meine, wirklich normal. Du hast geatmet wie ein Schlafender. Da hab ich mich gefreut und dachte, nun geht’s aufwärts, doch als wir den Verband gelöst haben, um nach der Wunde zu schauen, hat sich meine Freude gleich wieder gelegt. Der gesamte Bereich um die Verletzung sah stark entzündet aus. Alles war rot, heiß, geschwollen und hat gezuckt, als ob darin Dämonen gegeneinander kämpften. Das ging den ganzen nächsten Tag so. Am Morgen, als wir wieder den Verband wechseln wollten, haben wir gesehen, dass dieser vollkommen durchgeweicht war. Als wir ihn entfernt haben, war alles voller Blut und Eiter, doch die Wunde war geschlossen und es blutete nicht mehr. Auch die Entzündung schien abzuklingen und alles war ruhig und entspannt.‹
Wang Lee griff zu einer Schale neben der Pritsche und hielt sie mir vor die Augen. ›Was glaubst du, was wir da gefunden haben? Schau es dir an. Es ist genau das, was du entfernt hast.‹
In der Schale lag ein kleiner Knochensplitter. Ich griff hinein und drehte ihn zwischen den Fingern. Das Teil war vielleicht einen halben Zentimeter dick, recht spitz und an den Kanten sehr scharf.
›So ein kleines Teil, und es hätte mich fast umgebracht.‹
Ich schüttelte den Kopf und ließ es wieder in die Schale fallen.
›Ja, so ein kleines Teil und keiner von uns konnte es finden‹, sagte der ältere Mönch und bedeutete Wang Lee fortzufahren.
›Na ja, von da an lief alles recht ruhig ab. Du bist in einen tiefen Schlaf gefallen und hast fast wieder so schwach geatmet wie am Anfang. Wir haben versucht, dir was einzuflößen, damit du nicht verhungerst oder verdurstest, doch viel hast du nicht hineingelassen. Immer wieder hast du dich dagegen gesperrt. Ich hatte schon wieder Angst um dich, da ich dachte, dass du nun deswegen draufgehst, doch die beiden haben mich immer wieder beruhigt. Es hat sich ja auch alles recht gut entwickelt.‹
Er lachte kurz auf. ›Nun ja, so hast du halt geschlafen, bis du vorhin aufgewacht bist. So, und jetzt schaust du dir mal die Verletzung an und sagst mir, wie das möglich ist.‹
Er nahm die Decken weg, die sie mir übergelegt hatten, damit ich nicht auskühlte, und öffnete das Wams, das sie mir angezogen hatten. Ich sah auf die Verletzung und riss die Augen auf.
Es war kein Verband mehr angelegt. Es war aber auch nicht mehr nötig, denn der gesamte Bereich sah gesund aus. Es war keine Rötung oder Schwellung mehr zu sehen. Unter der Achsel prangte eine kleine, leuchtend rote Narbe und auf der Brust, links neben der Brustwarze, war eine pflaumengroße Narbe zu sehen. Diese war ebenfalls frisch und leuchtend rot. Nur in ihrer Mitte war noch ein etwa einen Zentimeter großer Grind zu sehen, alles andere schien völlig verheilt zu sein.
Ich sah hoch und in die erwartungsvollen Augen der anderen.
›Wie ist das möglich?‹
›Nun, das hätten wir ja gerne von dir gewusst‹, antworte mir Tiang Li Yang.
Ich schüttelte den Kopf. ›Ich habe zwar bewusst den Heilungsprozess eingeleitet, so wie ich es euch geschildert habe, doch dieses Resultat hatte ich nicht erwartet.‹
Wieder sah ich von einem zum anderen. ›Ich weiß es wirklich nicht.‹
Der Arzt nickte. ›Wir haben es auch nicht erwartet. Schon das, was du uns erzählt hast, ist mehr, als ich jemals über solche Dinge erfahren habe. Ich hatte von meinen Lehrern von diesen Möglichkeiten gehört, doch keiner von ihnen hat es jemals selbst erlebt. Es war mehr wie Sagen aus längst vergessenen Tagen.‹ Nachdenklich schaute er mir in die Augen. ›Ich habe immer an die Möglichkeit geglaubt, dass es möglich ist, doch es selbst zu erleben, ist wie ein Wunder.‹
›Ja‹, fiel Tiang Li Yang ein, ›nun verstehe ich auch, warum Han Liang Tian so viel Wert auf deine Ausbildung legt und dich für jemanden außergewöhnliches hält. Es stecken ungeahnte Möglichkeiten und Kräfte in dir, sie wollen nur geweckt sein.‹
Ich wurde rot, denn es war mir unangenehm, doch auch das werteten sie wieder als positive Eigenschaft.
Von nun an ging es aufwärts. Ich stand auf und genoss es, wieder frische Luft zu atmen. Das Essen schmeckte sehr gut und ich hatte immer riesigen Hunger. Langsam futterte ich mir das verlorene Gewicht wieder an. Ich wurde immer aktiver und fühlte mich langsam wieder so wohl, als wäre nichts geschehen.
Als ich wieder begann, Tai Chi zu üben war Tiang Li Yang gar nicht damit einverstanden. Erst nachdem ich mich gar nicht erweichen ließ und ihm versprach, vorerst auf jede Art des Kampftrainings zu verzichten und nur das ruhige, der Entspannung dienende Tai Chi auszuführen, gab er nach.

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