Stomabeutel

Bekommt jeder das, was er verdient?

Der erste große Tiefpunkt

Wieder einmal bin ich am Boden, wie so oft in den letzten Tagen. Ich komme einfach nicht klar mit der aktuellen Situation.
Nicht, dass es nicht auszuhalten wäre, oder dass ich von Schmerzen geplagt dahinsieche. Nein, ich habe ganz einfach Probleme mit den Einschränkungen meiner Lebensqualität klarzukommen.
Lächerlich, werden Betroffene sagen, die mit anderem geplagt sind!
Drei Mal musste ich heute den Stomabeutel wechsel, wovon nur ein Mal geplant war. Die beiden anderen Male ist die Sch… – Entschuldigung – der Inhalt ausgelaufen. Dummerweise auch wieder in die Wunde, die so knapp neben dem Stoma – künstlichen Darmausgang – klafft.
Diese Wunde, ja, sie hat irgendwie etwas ausgelöst, was mein sonst positives Denken unterdrückt. Seit mir wegen einer Entzündung der Bauchnabel noch entfernt werden musste, ist eine gewisse Panik vorherrschend. Die Angst, es könnte wieder Beutelinhalt auslaufen und in das dreieinhalb Zentimeter tiefe Loch geraten, das einmal meinen Bauchnabel beherbergte.
Am schlimmsten sind die Nächte, in denen mir wegen meiner Furcht, es könnte wieder zu einem Zwischenfall kommen, wie schon zweimal gehabt, der erholsame Schlaf verwehrt bleibt.
Steif wie ein Brett liege ich auf dem Rücken und wage es nicht mehr, mich auch nur ansatzweise auf die Seite zu drehen. Dabei war ich immer Bauch- oder Seitenschläfer und nun schmerzt der Rücken schon nach wenigen Nachtstunden.

Ich lass mich hängen! Bekomme nichts mehr fertig, obwohl ich sicher das Eine oder Andere tun könnte. Die Tage schleichen dahin und ich beginne zu zählen, wie viele es noch sind, bis mein künstlicher Darmausgang wieder entfernt und der normale Zustand hergestellt wird.
Ja, ich muss nicht dauerhaft damit leben! Und ja, ich brauche auch keine Bestrahlung und Chemo über mich ergehen lassen! Durch einen Zufallsbefund wurde der Krebs zeitig genug erkannt und ich habe sehr gute Zukunftsaussichten.
Warum also bin ich so depressiv?
Ja, warum? Und warum zeige ich es keinem außer meinen nächsten Angehörigen? Fast alle Außenstehende denken, ich komme gut mit der Situation klar und vielleicht nur meine Frau merkt, in welches Loch ich gefallen bin.
Sie versucht mich zu motivieren, mich aufzubauen und spricht dabei aus Erfahrung, denn vor knapp vier Jahren hatte sie Brustkrebs. Bei ihr ging es nicht ohne Bestrahlung ab und sie muss immer noch mit Tabletten eine Nachbehandlung in Kauf nehmen.
Sollte mich ihre Gelassenheit und Stärke nicht inspirieren?

Vier Wochen vor dem Termin, an dem das Stoma wieder wegfallen soll, bin ich immer noch nicht besser drauf.
Wie und warum es deshalb zu einem Gespräch mit meiner Frau kommt, weiß ich nicht mehr genau. Auch den genauen Wortlaut kann ich nicht wiedergeben, doch so hat es sich für mein Empfinden abgespielt.

Wir sprechen schon eine Weile darüber, dass ich so mit der Situation hadere und sie sagt:
»Mir hat es immer geholfen, die positiven Seiten zu sehen. Alle sagten mir, dass meine Heilungschancen gut sind. Auch du hast keinen Zweifel daran gelassen. Ich hatte sogar das Gefühl, ich darf gar nichts anderes in Erwägung ziehen, wenn wir darüber geredet haben und du wolltest nichts anderes hören.«
»Naja, das war mein Versuch, dich positiv zu stimmen. Ich wollte, dass gar keine negativen Gedanken in dir aufkommen«, gebe ich kleinlaut zurück.
»Und warum machst du das jetzt bei dir nicht?«
Eine berechtigte Frage, die mich in Verlegenheit bringt.
»Sieh mal«, fährt meine Frau fort, weil ich nichts erwidere. »Der Tumor war noch klein, wurde erkannt, bevor es gestreut hat. Es gibt keine Metastasen und du brauchst keine Bestrahlung und keine Chemo. Und in … wie viel Tagen wird der normale Zustand wieder hergestellt?«
»Dreißig«, kommt es nachdenklich über meine Lippen.
Da weiß ich es noch nicht besser, dazu aber später …
»Dreißig … also hast du doch ein absehbares Ziel vor Augen, was viele Andere nicht haben. Du hast selbst von solchen Schicksalen erzählt, die du im Krankenhaus kennengelernt hast. Nach der großen OP warst du so zuversichtlich und hast dich glücklich geschätzt im Gegensatz zu dem, der, obwohl vor dir operiert, kurz vor deiner Entlassung noch mal aufgemacht werden musste. Was ist nur jetzt mit dir los?«
So kenne ich sie gar nicht. Selten, dass meine Frau so hartnäckig in mich dringt und mir ins Gewissen redet. Das Schlimme daran, sie bringt mich in Erklärungsnot.
»Ich weiß es nicht«, gestehe ich ein und ergehe mich in Ausflüchten. »Vielleicht ist es der fehlende Schlaf. Oder diese ständige Panik, der Beutel könnte wieder undicht sein. Ich habe auch oft das Gefühl, ich rieche unangenehm. Es fehlt mir, mich ausgiebig duschen zu können und …«
»Merkst du eigentlich, welchen Wolf du fütterst?«
Wumm … das sitzt.

Für die, die die Geschichte nicht kennen, hier eine Variante:

Ein alter Indianer erzählt seinem Enkelsohn von dem Kampf, der in jedem Menschen tobt.
»Dieser Kampf wird von zwei Wölfen ausgefochten, die in jedem von uns wohnen«, beginnt er. »Einer ist böse. Er ist der Zorn, der Neid, die Eifersucht, die Sorgen, der Schmerz, die Gier, die Arroganz, das Selbstmitleid, die Schuld, die Vorurteile, die Minderwertigkeitsgefühle, die Lügen, der falsche Stolz und das Ego.
Der andere ist gut. Er ist die Freude, der Friede, die Liebe, die Hoffnung, die Heiterkeit, die Demut, die Güte, das Wohlwollen, die Zuneigung, die Großzügigkeit, die Aufrichtigkeit, das Mitgefühl und der Glaube.«
Der Enkel dachte einige Zeit über die Worte seines Großvaters nach, und fragte dann: »Welcher der beiden Wölfe gewinnt?«
»Der, den du fütterst.«

Sie hat es auf den Punkt gebracht! Ich füttere den bösen Wolf in mir. Treibe mich selbst immer tiefer in mein Selbstmitleid. Hadere mit den Einschränkungen der Lebensqualität und erachte die derzeitige Lebenssituation als nicht lebenswert.
Nach außen zeige ich das nicht so, doch tief in mir drin frisst der böse Wolf meinen Lebensmut.

Das Gespräch hat ungeahnte Wirkung. Ich entziehe dem bösen Wolf seine Nahrung und gebe sie dem guten. Langsam kommt wieder Licht in meine Seele. Ich komme sogar soweit, dass ich wieder einiges anpacken will, merke aber, ich habe viel meiner Leistungsfähigkeit eingebüßt.
Es wird Zeit brauchen, die wieder zu erlangen und die wenigen Tage vor der Entfernung des Stomas werden nicht ausreichen. Doch danach, da will ich es mit aller Kraft angehen!
Einige Tage später gerät mir auf Facebook ein Kurzvideo vor die Augen. Es zeigt eine junge Frau beim Eisbaden. Sie steigt in eine mit Wasser gefüllte Kühltruhe, in die sie vorher eine große Schüssel mit Eiswürfel kippt. Ungeniert präsentiert sie sich im Bikini, trotz ihrer gut sichtbaren OP-Narben und dem Stomabeutel.
Die Lebensfreude und Offenheit von Kya Jeub flashen mich regelrecht. Ich scrolle durch ihr Profil, finde heraus, dass sie drei große OPs über sich ergehen lassen musste. Eine ähnlich wie meine, in der ein Stoma gesetzt wurde, die Rückverlegung, und aus Gründen, die ich nicht herausfinde, die Rückkehr zum Stoma auf der anderen Bauchseite. In dieser Zeit hat sie auch noch geheiratet und zwei Kindern das Leben geschenkt.
Was habe ich da für einen Grund zum Jammern?
Es ist der letzte Anstoß, den ich brauche, um meinen bösen Wolf jegliche Nahrung zu entziehen und mir kommt in den Sinn, was meine Frau zum 40igsten Hochzeitstag sagte:
»Jeder bekommt das, was er verdient.«

Ist das so? Habe ich das letzte halbe Jahr, mit allem was geschehen ist, so verdient? Oder soll mir all das nur zeigen, dass ich etwas ändern muss in meinem Leben?
Ich beginne zu reflektieren und rufe mir den Tag ins Gedächtnis, an dem meine Frau diese Aussage traf.

Es war der Tag vor dem Start zu unserer Pilgertour 2022. Beginn in Leipzig mit Ziel Vacha, aber wir kamen letztendlich nur bis Eisenach, weil wir vor Vacha keine Übernachtungsmöglichkeit mehr fanden.
Zur Feier unseres vierzigsten Hochzeitstages wollen wir uns in Leipzig ein gutes Essen gönnen und halten Ausschau nach einem schönen Restaurant.
Wir entscheiden uns schließlich für einen Mexikaner und zeigen wieder einmal, was für Landeier wir sind.
Das Lokal wird offensichtlich nur von jungen Leuten betrieben und so ist auch das Management aufgebaut. Der Tisch im Außenbereich, den wir bekommen, ist bei dem schönen Sommerabend optimal, aber statt uns eine Speisekarte zu reichen, weist uns die junge Dame auf den QR-Code hin, der auf dem Tisch klebt.
Damit können wir die Speise- und Getränkekarte im Smartphone aufrufen, meint sie und ist weg.
Rumms, das war’s! Wir sind beide ein wenig ratlos, denn keiner von uns hat einen QR-Code-Scanner installiert. Sollen wir das jetzt auf die schnelle tun, oder gibt es andere Möglichkeiten?
Es widerstrebt mir, etwas zu installieren, ohne, dass ich mich vorher genau darüber informiere. Zu oft habe ich schon erlebt, was andere sich bei solchen Aktionen eingehandelt haben. Nur nach gründlichem Abwägen und einer umfassenden Information installiere ich deshalb Apps auf Smartphone und PC. Und das nur, wenn ich ein solches Programm auch entsprechend nutze. Einen QR-Code-Scanner habe ich bisher noch nie gebraucht. Benötige ich ihn in Zukunft?
Unsere Ratlosigkeit fällt auf, und als ich eine Bedienung heranwinke, kommt auch gleich die Frage, ob wir eine Speisekarte haben wollen.

Der weitere Verlauf des Abends ist anfänglich geprägt von unserer Unsicherheit und der Scham über unser Unvermögen. Beim Wein, den wir dann genießen, rückt aber der Anlass des Tages wieder in den Vordergrund.
»Danke, dass du es so lange mit mir ausgehalten hast«, sage ich, als wir mit dem Wein anstoßen.
»Da gibt es nichts auszuhalten«, meint sie und setzt hinzu: »Jeder bekommt das, was er verdient.«
Ich bin verwirrt, denn mir erschließt sich der Sinn dieser Aussage nicht.
»Wie meinst du das? Hast du es denn verdient, dass ich dich so oft geärgert habe? Hast du den Schmerz verdient, den ich dir vor zweiundzwanzig Jahren bereitet habe?«
Sie schüttelt den Kopf.
»Was ist denn daraus geworden? War es nicht nötig, damit wir unsere Fehler erkennen? War das nicht der Punkt, an dem wir Änderungen herbeigerufen haben, die unser Zusammenleben zu dem gemacht haben, was es jetzt ist? Hätten wir das ohne diese besonderen Umstände geschafft?«
Sie blickt mich fragend an, doch wir haben diesen Punkt schon oft diskutiert und ich bleibe ihr die Antwort schuldig, weil sie sie schon kennt.
»Du hast mir immer gezeigt, dass es dir ernst ist mit der Veränderung. Hast bewiesen, dass du etwas ändern kannst. Seither ist unser Zusammenleben doch immer harmonischer geworden, also habe ich keinen Grund zu klagen. Es ist jetzt gut so, wie es ist und die Vergangenheit soll ruhen.«
Trotzdem ergibt dieser Satz keinen Sinn für mich und nur im Zusammenhang mit der Geschichte vom guten und bösen Wolf, finde ich ihn. Je nachdem welchen Wolf ich füttere, bekomme ich das, was ich dadurch verdient habe.
So war die Aussage von ihr auch gemeint!

 

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